Nach über vier Monaten im Himalaya steuerte ich mein letztes Ziel an – die Quelle des Ganges. Ich saß im Bus nach Norden, um Rishikesh mit seinem unsäglichen New-Age-Kitsch hinter mir zu lassen und ein letztes Mal tief in die Bergwelt des Himalayas einzutauchen. Mit Vergnügen ließ ich die westlich geprägten Restaurants mit ihren (pseudo)esoterischen Gesprächsrunden, in denen wissend von der hochkomplexen Tanra-Philosophie und höheren Bewusstseinsebenen gesprochen wurde, und die Superlative, die mir an allen Ecken mit ihrem Botschaften von super-divine und xxl-divine die Freude an jeglicher Spiritualität verdarben, hinter mir, und freute mich auf den Frieden, den mir einsame Berglandschaften schenken.
Kurze Abstecher weg
von den ausgetrampelten Pfaden haben oft den Charakter von Zeitreisen. Der
Pilgerort Gangotri ist zwar ein beliebtes Reiseziel, aber die Saison war in
ihren letzten Zügen. In Rishikesh hatten alle verwundert den Kopf geschüttelt
darüber, was ich dort noch zu finden hoffte. In der nächsten Woche sollte ich
nur einer Handvoll Touristen begegnen und ich blieb auf Distanz. Mit jedem
Kilometer sank der Anteil der englischsprachigen Bevölkerung, und da mir nie
gelungen war, Hindi zu lernen, blieb mir nur die nonverbale Kommunikation. Doch
daran war ich längst gewöhnt. Ich hatte mich in den letzten Monaten wie im
Rausch in immer entlegenere Winkel gewagt. Auch der einsetzende Winter hatte
mich nicht aus den Bergen vertreiben können.
Nach der kulinarischen Vielfalt von Rishikesh bestimmten nun Samosas (mit Gemüse gefüllte
Teigtaschen), Pakoras (verschiedene
Gemüsearten in frittiertem Kichererbsenteig),
Bananen und ein gelegentliches Chowmein (chinesische Nudeln) meinen
Speiseplan. Dazu mein heißgeliebter Masala Chai. Über den aromatischen
Tee hatte mich Indien zuallererst gepackt und in die Sucht getrieben; bis heute
reicht sein Geruch, um mein Herz höher schlagen zu lassen. Schwarztee wird in
Wasser und Milch erhitzt, dreimal kurz aufgekocht und mit Kardamom, Zimt,
Ingwer, gemahlenen Pfefferkörnern, Muskat, Nelken, Lorbeerblättern und einer
gehörigen Portion Zucker verfeinert.
Als wir Uttarkashi
erreichten, wollte ich gleich wieder weg. Trotz einiger Indien-Erfahrung gibt
es noch immer viele Orte, die mich einfach abstoßen. Eigentlich war der Ort in
eine schöne Landschaft eingebettet, doch er schien zu einem reinen
Verkehrsknoten und Handelsplatz verkommen zu sein. Die Moderne hatte die
traditionellen Gebäude weitgehend aus dem Stadtbild geätzt.
Der Saftverkäufer
sprach ungewohnt gutes Englisch und war auf Fremde eingestellt. Ich fragte ihn
nach dem Permit für die Wanderung zur Eishöhle bei Gomukh – der
physikalischen Quelle des Ganges. In Rishikesh hatte ich
widersprüchliche Auskünfte erhalten. Er informierte mich, dass man nur noch
hier in Uttarkashi ein Permit erhalten könne. Allerdings sei der Weg nach Gomukh
nach den verheerenden Überschwemmungen in solch schlechtem Zustand, dass man auf
Führer und Seile angewiesen war. Mein aktueller finanzieller Engpass machte
fraglich, ob mein verbliebenes Geld für einen Führer reichen würde. Ohnehin wollte
ich gerne allein wandern.
Der Mann verriet mir
aber etwas, das mich aufhorchen ließ. In wenigen Tagen würde der Tempel in
Gangotri mit einer Zeremonie für den gesamten Winter geschlossen. Ich würde
also nicht zur physikalischen Quelle des Ganges vorstoßen – dafür konnte ich
etwas über die innere Bedeutung des Ortes erfahren. So setzte ich meine Reise
ohne Permit fort.
Der Bus nach
Gangotri war selbst für indische Verhältnisse in einem verheerenden Zustand.
Schon nach wenigen Kilometern machte der Anlasser Probleme, um kurze Zeit
später vollständig zu versagen. Glücklicherweise verstanden sich der Busfahrer,
sein Assistent und ein Passagier darauf, den Anlasser mit Hammer, Meißel und
viel Improvisationskunst wieder zum Laufen zu bringen. Nach einer Stunde waren
wir wieder auf der Straße.
Knapp viereinhalb
Monate zuvor war es in Nordindien zu verheerenden Überschwemmungen gekommen.
Den Ganges hatte es besonders hart getroffen. Ich war gerade in Delhi gelandet
und hatte entsetzt die Bilder im Fernsehen verfolgt. Doch wir haben uns längst
so stark an Schreckensmeldungen in den Nachrichten gewöhnt, dass sie uns oft
kaum noch berühren. Die Bilder bleiben völlig abstrakt. Ganz anders ist das vor
Ort: Die vorangegangene Katastrophe war am Zustand der Straße deutlich
ablesbar. Ganze Hänge waren in die steile Schlucht abgerutscht, Bäume
entwurzelt. An einigen Stellen konnte ich erahnen, wie gewaltig der Wasserpegel
angeschwollen war. Mit Schaudern erkannte ich, dass der Fluss an Engstellen das
gewaltige Tal fast zur Hälfte ausgefüllt hatte. Der Ganges hatte alles
mitgerissen. 20.000 Menschen waren bei der Katastrophe ums Leben gekommen. Es
war eine der Katastrophen unserer Zeit; Holzschlag, Erosion, rapide schmelzende
Gletscher und immer extremere Wetterlagen.
Es war schon lange
dunkel, als wir Gangotri erreichten. Vor einer einfachen Teestube saßen einige
Männer vor einem lodernden Feuer, um sich in der bitteren Kälte zu wärmen.
Einer bot mir ein Zimmer an.
Gangotri ist eine
der vier heiligsten Pilgerstätten im indischen Himalaya. Die anderen sind Yanumotri,
Badrinath und Kedernath. Die schmalen Gassen von Gangotri sind von kleinen
Devotionalienläden gesäumt. Der Haupttempel wurde im 18. Jahrhundert erbaut.
Er beherbergt das Abbild der Göttin Ganga und erinnert an eine der
wichtigsten Legenden des Hinduismus:
Der Dämon Bali
hatte durch strenge Askese so viel Macht angehäuft, dass er die drei Welten
(Himmel, Erde, Unterwelt) erobern konnte und die Götter aus dem Himmel vertrieb.
Die nun heimatlosen Götter wandten sich an Brahma, den Schöpfer. Er riet ihnen,
Vishnu, den Erhalter der Welt, aufzusuchen. Vishnu war bereit, den Göttern den
Himmel zurückzuerobern.
Er inkarnierte als Zwerg, besuchte Bali und bat diesen demütig um etwas
Land, gerade so viel, wie er mit drei Schritten abmessen konnte. Bali war
sofort bereit, dem Zwerg diesen Wunsch zu erfüllen, hatte er doch Land genug.
Im dem Moment, als der Zwerg zum ersten Schritt ansetzte, wurde er größer und
größer und durchmaß mit dem ersten Schritt die Erde, mit dem zweiten Schritt
war er im Himmel und mit dem dritten füllte er die Unterwelt aus und zertrat
Bali. Alle Bewohner des Himmels kehrten in ihre angestammte Heimat zurück.
Brahma wusch zum
Dank Vishnus Fuß, als dieser den Himmel berührte, und fing das Wasser in einem
Gefäß auf. Aus diesem göttlichen Nass entstand ein hübsches Mädchen, Ganga. Sie
war ein reines Wesen führte ein fröhliches, unbeschwertes Leben. Doch dann
machte sie einen fatalen Fehler: Dem Weisen Durvasa wurde das Gewand vom Leib
geweht. Ganga lachte bei diesem Anblick so sehr, dass sie der Weise verfluchte.
Ganga müsse den Himmel verlassen, um auf der Erde als Fluss den Menschen als
Quelle zu dienen, in der sie sich von ihren Sünden reinwaschen konnten.
Ihre Zeit kam,
als König Sagar ein rituelles Pferdeopfer darbringen wollte, das ihn zum
Herrscher über die ganze Erde gemacht hätte. Der Kriegsgott Indra war um seine
eigene Macht besorgt und entführte das Pferd. Er band es an einen Baum, unter
dem der Weise Kapila meditierte. Als die 60 000 Söhne das Pferd dort auffanden,
beschuldigten sie Sagar des Diebstahls. Der Weise erwachte aus seiner Trance
und öffnete wütend über die falsche Anschuldigung seine Augen. Dabei
vernichtete der Yogi die Söhne mit dem yogischen Feuerstrahl aus seinen Augen.
Der letzte
verbliebene Sohn Ansuman bat Kapila um Erlösung für seine verfluchten Brüder,
die auch im Jenseits keinen Frieden finden konnten. Kapila wies ihn an, durch
Demut und Meditation Brahma milde zu stimmen, auf dass er Ganga vom Himmel auf
die Erde entließ, wo sie ihre Strafe antreten sollte. Nur sie könne mit ihrer
reinigenden Kraft den Fluch aufheben.
Viele
Generationen mühten sich die Nachfahren vergeblich. Erst Baghiratha gelang es
nach vielen Jahren der Askese, so viel innere Kraft und Verdienste anzusammeln,
dass Brahma vor ihm erschien. Er war bereit, Ganga auf die Erde zu senden. Aber
ihre herabstürzenden Wassermassen würden die Erde zerschmettern. Nur Shiva
konnte ihre Kraft bändigen. Schließlich konnte Baghiratha auch Shiva nach
Jahren der Askese am heiligen Berg Kailash überzeugen, ihm zu helfen. Als die
Wassermassen Gangas herabstürzten, bremste der Gott den Aufprall mit seinen
Haaren und ließ den Schwall über seine langen Flechten in sieben Strömen auf die
Erde laufen. Ganga führte das reinigende Wasser an die Stelle, wo die Toten
bestattet lagen, und erlöste sie. Seither fließt Ganga als heiligster aller
Flüsse durch Indien, trägt sie doch die Energie aller drei Götter in sich.
Nacherzählt auf
Grundlage von the life of Ganga von Harish Johari.
Vom Tempel führen Stufen hinab zum wichtigsten
Ghat – einer Plattform, von der man in den Ganges gelangt. Die Gläubigen
waschen sich im eisigen Fluss des Ganges rituell und füllen Wasser in Kanister
ab, die sie mit nach Hause nehmen.
Der Fluss heißt hier
noch Bhagirathi nach dem König aus der Legende und wird erst bei Devprayag,
wo er sich mit dem Alaknanda vereinigt, zum Ganges. Dennoch wird Gomukh
(„die Kuhschnauze“) als Quelle verehrt. Von dort aus unternimmt der Fluss seine
lange Reise über die heiligen Stätten von Allahabad, Haridwar und
Varanasi bis Kalkutta
und in den Golf von
Bengalen, wo er sich in den Indischen Ozean ergießt.
In Gangotri leben 600 Menschen. Inzwischen war der Ort jedoch fast völlig ausgestorben. Selbst die meisten Sadhus waren bereits in wärmere Gefilde abgewandert. Sie leben in Höhlen, Aschrams und einfachen Steinbehausungen in der Umgebung. Nur eine Handvoll dieser Asketen überwintert hier.
Am Tag nach meiner Ankunft wanderte ich in
Richtung Gomukh.
Ich vermied bewusst den offiziellen Weg und lief
für einige Zeit auf einem schmalen Pfad am Ufer flussaufwärts, bevor nichts
übrigblieb, als einen steilen Grat zum Hauptweg hinaufzuklettern. Für kurze
Zeit hoffte ich insgeheim, ich hätte einen Weg gefunden, der mich am Check Post vorbeigeführt hatte. Ich
wollte wenigstens einen Teil der Strecke in Richtung Gomukh laufen. Doch nach 2
Kilometern stand ich vor dem Tor des Gangotri
National Parks. Endstation. Wider besseres Wissen war ich
enttäuscht.
In Gangotri war es
eisig. Der Oktober ging gerade in den November über und der Winter stand
bereits drohend vor der Tür. Die Sonne kam erst gegen 9.30 Uhr über das
Felsmassiv direkt über Gangotri hinaus und verschwand bereits am frühen
Nachmittag hinter dem nächsten Felsen. Diese Barrieren verhindern auch den
direkten Blick auf den Gangotri-Gletscher und den Shivling. In der
Bergsonne wurde es schnell heiß, aber schon am Nachmittag kühlte es empfindlich
ab. Nachts herrschten Minusgrade und ich konnte den Hauch meines Atems im
Zimmer sehen.
Ich hielt nach
anderen Wanderungen in der Umgebung Ausschau. Viele Optionen blieben nicht; das
gewaltige Tal war auf beiden Seiten von monumentalen Felsen eingerahmt – an den
meisten Stellen zu steil, um nur an einen Aufstieg zu denken. Schließlich fand
ich eine Route, von der ich mir einen Blick auf den Shivling erhoffte.
Ich lief den Ganges
flussabwärts und betrat ein Seitental, das zu einem kleinen Gletscher
hinaufführte. Herbststürme fegten durch den Wald. Im Schatten war es
bitterkalt. Die Laubbäume hatten bereits einen Teil ihrer Blätter abgeworfen.
Sie glitzerten in der Sonne in Gelb- und Orangetönen – die ersten hatten sich
bereits rötlich verfärbt. In der klaren Bergsonne schien alles in einem fast
übernatürlichen Glanz: das spärliche Gras leuchtete golden, der Himmel war
kristallklar, die Nadelwälder tiefgrün. Der Schnee der nahen Gipfel
reflektierte die Sonne in einer Intensität, dass meine Augen brannten. Im Tal rauschte der
Fluss mit gewaltigem Tosen. Riesige Felsbrocken durchbrachen die Wälder. Die
Kiefern verströmten den intensiv harzig-würzigen Geruch, den ich so liebe. Ich
hatte als Kind viel Zeit in Wäldern verbracht, und der Geruch vermittelte mir
ein vages Heimatgefühl. Die Kronen der Bäume waren meine Kathedrale. Es war
wie in einem Märchen.
Oberhalb
des Pfades dominierten gewaltige, karge Felsformationen die Landschaft, und
dort, wo Wasseradern im Fels verliefen, gediehen Bäume und Büsche an den
widrigsten Stellen. Ich war immer wieder fasziniert, wie sich das Leben trotz
aller Widerstände Bahn bricht.
Ich fand einen
schmalen Pfad, der mich langsam höher führte. Silberbirken leuchteten am
Wegesrand. Die Rinde schälte sich wie tausend Jahre alte Papyrusrollen. Der Weg
wurde steiler, verlor sich im Geröll. Ich quälte mich an einer Steinmoräne
entlang den Hang hinauf. Später kletterte auf allen vieren über nackten Fels.
Langsam machte ich
mir Sorgen, ob ich diesen Weg auch wieder hinunterkam. Aber das hatte mich noch
nie abgehalten; einmal unterwegs, gab es für mich kein Zurück mehr. Mit großer
Mühe kletterte ich bis zu einem kleinen Vorgipfel. Von dort aus konnte ich
einen Blick auf die Spitze des Shivling
erhaschen; höher kam ich nicht; alle weiteren Ambitionen waren nur mit
ernsthafter Bergsteigerausrüstung oder grotesker Todesverachtung möglich. Gleich
würde die Sonne hinter einem Felsen verschwinden. Besann mich auf das Jetzt und
genoss den letzten schwärmerischen Blick auf die Bergwelt aus solch einer
erhabenen Panoramaperspektive.
rechts oben erkennt man die Spitze des Shivling |
Die Berge waren zu
meiner Zuflucht geworden, ich fühlte mich in ihnen heimisch. Es war kein leerer
Sehnsuchtsraum, sondern bewohnt von Menschen der unterschiedlichsten Herkunft
und Religion. Längst waren die Berge nicht mehr so abgewandt von der Welt, wie
sie einmal gewesen waren. Aber es fanden sich immer noch wenig berührte
Gegenden, in denen sich etwas bewahrt hat, wonach ich suche: ein
ursprüngliches, naturbasiertes Leben. In dieser Welt konnte ich atmen.
Ich dachte noch
einmal an die letzten Monate, an die Wanderungen in den Bergwäldern von Manali,
an die monumentalen Gipfel in den Bergwüsten von Ladakh, Zanskar, dem Nubra-
oder Spitital und die lebensspendenden Flußoasen. Ich dachte an die
Wanderungen, die mir alles abverlangt hatten und die mir zugleich ein tiefes
Glücksgefühl verschafft hatten. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich sie
nun hinter mir lassen würde und vielleicht nie wieder sehen würde. Ich sehnte
mich danach, irgendwann nicht mehr ständig Abschied nehmen zu müssen.
Der Abstieg war
katastrophal. Keine gute Route für Menschen mit Höhenangst! Doch irgendwann hatte ich den Abstieg gemeistert und ging zurück
in mein eiskaltes Zimmer, um mich unter zwei Decken zu verschanzen.
Am nächsten Tag wurde
Divali gefeiert – das Lichterfest; es ist eines der wichtigsten Feste im
indischen Kalender und markiert in Nordindien auch den Beginn des neuen Jahres.
Kerzen und Öllampen brennen, Lichterketten flackern, Böller explodieren und
Raketen ziehen dem Himmel entgegen. Vor dem vielfarbig illuminierten Tempel
spendete der Tempeldiener einer Gruppe von Pilgern den Segen. Auch die
kleineren Tempel strahlten in einem geradezu magischen Schein von buntem Licht
und Kerzen. Auf dem Gelände spielte sich eine typisch indische Melange ab:
Junge Männer zündeten gewaltige Böller und Raketen, die unkontrolliert in der
kleinen Menge explodierten, Pilger machten der Göttin im Tempel ihre
Aufwartung, eine Gruppe Tänzerinnen umrundete im Rhythmus einer Trommel den
Tempel und wurde dabei von einem russischen Touristen mit der Kamera verfolgt.
Er war außer mir der einzige Ausländer und hielt mit der Videokamera auf alles,
was nicht bei drei auf den Bäumen war. Die Mantras aus dem Lautsprecher und das
Klingen der Tempelglocken komplettierten die mystische Atmosphäre.
Am letzten Tag
musste ich mein Zimmer am Morgen räumen; meine Matratze war der letzte
Gegenstand, mit dem der Vermieter nach Uttarkashi entschwand. Schon die
letzten Tage hatte ein kleiner Laden nach dem anderen geschlossen, und Jeeps,
Pferde und Esel hatten alles abtransportiert, was nicht niet- und nagelfest
war. Strom und Wasser waren bereits abgestellt. Alle zog es in tiefere Gefilde.
Das war kaum verwunderlich. Im Winter musste es in Gangotri unglaublich kalt
sein. Der Vermieter meines Zimmers hatte mir gezeigt, dass der komplette erste
Stock seines Gasthauses unter Schneemassen versinken würde.
Nun stand das
Highlight auf dem Programm – die Schließung des Tempels. Noch einmal kamen Besucher
und Pilger aus Uttarkashi und
der näheren Umgebung in den Ort, die der Zeremonie beiwohnen würden.
Dennoch war nur eine überschaubare Anzahl von Menschen versammelt – kaum mehr
als 250. Die Gottheit Ganga wurde auf einer Trage drapiert und reich geschmückt
– mit leuchtenden Stoffen, Blumen, Kerzen und Essenzen. Alle behandelten die
Göttin mit größter Ehrfurcht. Sobald sie den Tempel verlassen hat, wird sie als
lebendige Göttin verehrt.
Die Armee hatte eine
Kapelle abgestellt. Dudelsäcke werden für mich in Indien immer ein äußerst
skurriles Bild abgeben – tatsächlich hat aber Pakistan Schottland in der
Produktion von Dudelsäcken überflügelt. Von der benachbarten Kompanie wurden
kostenlos Essen, Tee, Wasser und medizinische Versorgung bereitgestellt.
Auch Lokalreporter, das Fernsehen und der
Distriktmagistrat gaben sich die Ehre.
Ein letztes Mal konnte man den Tempel betreten. Dann wurde er mit einem Schloss verriegelt. Die Puja – das Gebetsritual der Hindus – zog die Menge ein letztes Mal auf den ausgelegten Teppich vor dem Tempel. Muschelhörner wurden geblasen. Der Tempelpriester schwenkte gesegnetes Wasser über uns – in diesem Moment verringerte sich meine Distanz zum Geschehen schlagartig und ich wurde vom Beobachter zum Teilnehmer. Ich fühlte mich ergriffen, als ich in den Augen einer Nonne deren Hingabe und Güte spürte, die sich ihrer beim Anblick der Göttin bemächtigt hatte. Eine Träne rollte über ihre Wange. Ich spürte unglaubliche Tiefe in diesem Moment. Als die Göttin auf ihrer Bahre hochgehoben und langsam über den Tempelplatz getragen wurde, war das wie eine Welle – der Moment, auf den alle gewartet hatten. Blumengirlanden flogen durch die Luft, eine Gruppe von Frauen sprang in Ekstase vor der Göttin auf und nieder. Eine ungewöhnlich starke Energie entlud sich über den Platz. In diesem Moment beschloss ich, die Prozession nicht wie geplant noch einige Kilometer auf ihrer Reise zu begleiten. Dies war mein Moment des Abschieds. Ich blickte auf den Fluss – die Quelle des Lebens – und warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Berge, die in den letzten Monaten mein ständiger Begleiter waren. Es war der richtige Zeitpunkt, um zu gehen.
Der Tempel würde nun für 6 Monate geschlossen bleiben. Ganga würde die nächsten zwei Tage nach Mukhba getragen, wo sie – wie die Bewohner von Gangotri – in tieferen Gefilden überwintert. Erst im April würde die Göttin wieder in den Tempel einziehen. Dann erwacht auch Gangotri zu neuem Leben.
Weiterführende Links:
Reisereportage: Varanasi sehen und sterben - über das Leben, die Liebe und den Tod...
"Ich hatte gehörigen Respekt vor der Begegnung mit dem Tod an den Verbrennungsstätten am Ganges. Der Tod ist ein besonders wichtiges Thema in meinem Leben – kein Einfaches. Und so hat es lange gedauert bis ich die Stadt des Lichtes und des Todes aufgesucht habe. Nun hoffte ich, bereit zu sein..."
"Ich hatte gehörigen Respekt vor der Begegnung mit dem Tod an den Verbrennungsstätten am Ganges. Der Tod ist ein besonders wichtiges Thema in meinem Leben – kein Einfaches. Und so hat es lange gedauert bis ich die Stadt des Lichtes und des Todes aufgesucht habe. Nun hoffte ich, bereit zu sein..."
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