Meine erste Begegnung mit Indien hätte kaum schlechter verlaufen können. Auf meiner ersten großen Reise geriet ich bald in eine Grenzsituation. Nichtsahnend war ich in eine üble Falle getappt…
Ich flog über die pakistanische Thar-Wüste, als die Sonne über dem Horizont aufging und die Welt in ihr magisches Licht tauchte. Das Leuchten fand Widerhall in meinem Herzen, ein Moment von Ewigkeit. Ich hatte die ganze Nacht durchwacht und meine Ankunft herbeigesehnt, voller Erwartung, Bangen und Spannung.
Die Welt, die ich zu erobern trachtete, lag direkt
unter mir. Ich hatte es tatsächlich gewagt, meinen Dickschädel durchgesetzt,
meine Ängste bezwungen. Gleich würde ich indischen Boden betreten. Kurz darauf
sah ich das Geschwür Delhis unter mir wuchern. Ich schluckte einen Kloß
hinunter. Da wollte ich runter? Manchmal ist Ekstase von Beklemmung nur einen
Wimpernschlag entfernt.
Das
Greenhorn
Ich hatte mich das erste Mal alleine mit dem Rucksack
in die Welt gewagt, ich war ein Greenhorn, von weitem sichtbar. Es war eines
der Bilder aus der Literatur, das mich gefangen genommen hatte. Doch
Kapuściński hatte das Land vor einer gefühlten Ewigkeit besucht. Von der Chuzpe
eines Timmerberg trennten mich Lichtjahre. Trojanow konnte den Code Indiens
entschlüsseln. Ich war ahnungslos.
Ich hatte mir eingebildet, gewappnet zu sein –
schließlich war ich schon seit zweieinhalb Monaten unterwegs. Meine Reise hatte
mich von Stuttgart über München, Venedig, Korfu, Patras, Athen, Kreta, die
Kykladen und wieder Athen nach Istanbul geführt. Die Idee, auf dem Landweg
weiterzureisen, hatte ich wegen der sich anbahnenden zweiten iranischen
Revolution aufgegeben. Am Ende war sie ausgeblieben. Der arabische Frühling war
Zukunftsmusik.
Istanbul ist zweifellos eine mondäne Metropole – auf Delhi konnte
sie mich nicht mal im Ansatz vorbereiten. Diese Erkenntnis überfiel mich
noch im Flughafengebäude wie ein Raubtier. Hunderte Blicke lasteten schwer auf
meinen Schultern, sie schienen mich zu durchbohren. Ich fühlte mich nackt. Schlimme
Vorahnungen überkamen mich wieder, sie hatten sich schon einmal in der
vergangenen Nacht in Dubai meiner bemächtigt. Langsam keimte in mir die
Gewissheit, wie wenig meine ursprünglichen Vorstellungen von meiner Reise mit
der Realität zu tun haben mochten. Kaum hatte ich den ersten Fuß aus dem
Flughafengebäude gesetzt, verkrampfte sich mein ganzer Körper. Feuchte Hitze durchtränkte
meine Kleidung. Mein Kopf schien auf einmal tonnenschwer. Als mich die erste Welle des indischen Alltags
überrollte, starrte ich fassungslos auf das Chaos. Was zur Hölle hatte ich mir
nur dabei gedacht, allein hierher zu reisen? Ratlos
stand ich da und fühlte mich unendlich allein. Ich setzte mich wie ein
Gestrandeter auf den Bordstein, rauchte zwei Zigaretten und versuchte, mich zu
sammeln. Angespannt betrachtete ich die hektische Szenerie um mich herum. Ich
konnte die Gesten der Menschen schwer deuten. Das
Leben um mich herum pulsierte, doch mir war diese Welt völlig fremd.
Panik stieg mir die Wirbelsäule hoch.Wo sollte ich beginnen?
Diesen Schock haben auch andere Indienreisende
beschrieben. Ihr Glück war, dass sie sich bald in einer der friedlichen Oasen
Indiens wiederfanden. Sie „flüchten“ an Orte
wie Dharamsala, Manali oder Pushkar. Dort finden sie Zeit,
den ersten Kulturschock zu verdauen. In solchen Oasen treffen sie sich
und tauschen sich über ihre ersten Erfahrungen aus. Das befreit ungemein. Wäre
ich nun wie die anderen Backpacker in der Main Bazaar Road gelandet,
hätte ich sicher einen Schock gekriegt. Doch wenn ich geahnt hätte, was auf mich warten würde, wäre ich
schreiend davongelaufen.
Während ich einen
offensichtlich indienerfahrenen Reisenden dabei beobachtete, wie er zur
nächsten Rikscha rannte und davonbrauste, versuchte
ich zögerlich, ein paar Informationen zu erhalten. Die Preise, die mir die
windigen Gestalten, die vor dem Flughafen rumlungerten, für die Fahrt in die
Stadt nannten, waren völlig utopisch. Ich dachte an die Berichte von Betrügern,
die ich gelesen hatte. Ich holte tief Luft und entschied mich für ein
Prepaid Taxi. Erst mal musste ich irgendwo ankommen. Als ich das Ticket in
Händen hielt, winkten mir Fahrer aus einer ganzen Kolonne von Fahrzeugen zu.
Unbeholfen bestieg ich das erstbeste.
Wir fuhren über eine stark befahrene Straße Richtung
Stadt. Der unglaubliche Smog verringerte das Sichtfeld auf höchstens hundert
Meter. Der allgemeine Fahrstil war purer Wahnsinn. Hatte ich gedacht, dass die
Kreter risikobereite Fahrer sind, erschienen sie mir nun als Ausgeburt der
Vorsicht. Daran gewähnte ich mich schnell, kurzzeitig zauberte sich mir ein
Grinsen ins Gesicht. Das mulmige Gefühl blieb jedoch. Mein Herz hämmerte wild.
Ich war sehr erstaunt, als der Fahrer am
Seitenstreifen hielt und mich bat, in das Gefährt seines Bruders umzusteigen.
Ich ahnte jedoch nicht, dass man mich in diesem Moment als potentielles Opfer
auserkoren hatte. So famos die Idee war, auf einen Reiseführer zu
verzichten – in diesem Moment hätte er mich vielleicht warnen können, denn die
Masche war ein Dauerbrenner. Doch meine einzige Informationsquelle war ein
völlig veraltetes ADAC-Magazin mit einer einzigen Empfehlung in der Budget-Klasse. Der
neue Fahrer hielt vor dem „Tourist Information Center“, um sich mit mir nach der
Adresse des Hotels zu erkundigen. Mir schwante nichts Böses.
Farokh war ein junger, drahtiger Bursche mit einem
gewinnenden Lächeln. Auf Anhieb machte er auf mich
einen sympathischen, zugewandten und seriösen Eindruck. Das Hotel kenne
er allerdings nicht. Er bot mir an, für einen Moment zu verschnaufen. Er reichte mir einen
Tee und offerierte mir eine Zigarette. Dankbar nahm ich an. Ich war übermüdet,
erschöpft und verunsichert und sehr erleichtert, das erste freundliche Gesicht zu
sehen. Mir gefiel sein Sinn für Ironie. Farokh
erklärte mir, dass an diesem Tag ein Fest in Delhi gefeiert wurde, was es
unmöglich machte, ein billiges Hotel zu finden. Ich glaubte ihm nicht recht. Daraufhin
bot er mir an, von seinem Büro aus zu telefonieren. Ich wählte die Nummer des
Hotels. Man sagte mir, alle Zimmer seien ausgebucht.
Dezent eröffnete Farokh den Small Talk. Fast beiläufig
erkundigte er sich nach meinen Reiseplänen. Ich schwankte noch, ob ich mich
erst Richtung Rajasthan oder in den Himalaya aufmachen sollte. Er sagte das
einzig Richtige: Wollte ich tatsächlich noch in den hohen Norden, sei jetzt der
richtige Zeitpunkt, bevor es eisig kalt wurde. Rajasthan würde mir nicht
davonlaufen. Ich könne in den Norden fliegen, um Zeit zu sparen,
meinte Farokh. Mein Budget sprach für den Bus. Er gab mir die Nummer eines
Busunternehmens. Dort wurde mir beschieden, dass ich erst in zwei Tagen ein
Ticket erhalten könne.
Unser Gespräch entwickelte sich dynamisch und ich
begann, ihm zu vertrauen. Er konnte sich gut in mich hineinversetzen und fand
den richtigen Ton. Er biederte sich nicht an, er schien auf nichts zu drängen,
er besaß Geduld. Er umkreiste mich wie ein Tiger. Ich hingegen wollte nur raus
aus der Stadt. Zumindest irgendwohin, wo es ruhig war und ich schlafen konnte.
Mich hatte das unangenehme Gefühl beschlichen, dass meine Entscheidung, nach
Indien zu reisen, nur der Plan eines Wahnsinnigen gewesen sein konnte.
Nun erzählte er mir von seiner Familie, die im hohen
Norden auf einem wundervollen See in einem Hausboot lebte. Mich reizte der
Gedanke, dass es sich um einen Geheimtipp zu handeln schien. Er machte keinen Hehl daraus, dass der Aufenthalt für
indische Verhältnisse teuer war. Es waren diese Momente von Ehrlichkeit, von
denen ich mich überzeugen ließ. Seine Familie sei ein guter Ausgangsort, um
sich langsam mit der indischen Kultur vertraut zu machen. Ein weiterer Bonuspunkt
schien die Tatsache, dass ich von dort aus direkt nach Ladakh weiterreisen
konnte – dorthin wollte ich auf jeden Fall. Es war keine
Kurzschlussentscheidung. Zunächst machte er mir ein unverbindliches Angebot, das
weit jenseits meines Budgets lag. Ich hatte auch nicht wirklich vor, dorthin zu
reisen. Noch war es höchstens ein vager Gedanke. Doch er begann sich in mir
festzusetzen. Warum eigentlich nicht?
Drei Japaner tauchten im Büro auf. Sie
würden am nächsten Tag zum Hausboot reisen. Ganz so hirnrissig schien die Idee
nicht zu sein. Als ich darüber nachdachte, was mir der Flug und der Aufenthalt
wert sein mochten, hatte er mich am Wickel. Nach zähen Verhandlungen erzielten
wir eine Übereinkunft. Teil der Vereinbarung war, dass ich bei Farokh zu Hause
übernachten würde, um die teure Hotelübernachtung zu umgehen.
Ich hatte mich völlig überrumpeln lassen
und hatte noch immer keine Ahnung, wohin ich reisen würde. Ich hatte mir zwar
den See auf einer Landkarte zeigen lassen, aber gar nichts begriffen. Das Wort
Kaschmir war nicht einmal gefallen – es waren keine Assoziationsketten in Gang
gesetzt worden.
Erst als ich für die Reise bezahlte,
beschlich mich erstmals ein ungutes Gefühl. Immer wieder fummelte Farokh an dem
Kreditkartenlesegerät herum und wiederholte den Vorgang. Glücklicherweise
handelte es sich um eine aufladbare Prepaidvariante, so dass dies in jedem Fall ohne Folgen
blieb. Doch in mir schrie es auf. Irgendetwas lief gehörig schief. Doch in
meiner Erstarrung konnte ich nicht protestieren. Ich fühlte mich der Situation
vollständig ausgeliefert. Die Falle war zugeschnappt.
Kaum war der Deal über die Bühne, lud mich
Farokh auf einen Joint ein. Es folgten weitere. Schon fühlte ich mich wieder
ein wenig verwegen. Das war doch alles verrückt! Der Start meines
Indienabenteuers passte irgendwie zu mir.
Als Buchungsbeleg erhielt ich schließlich
eine formlose Quittung ohne Geldbetrag. Das Flugticket bekäme ich abends. Damit
gab ich mich nicht mehr zufrieden. Ich drängte auf vernünftige Unterlagen. Doch
die Stimmungslage drehte sich innerhalb von Sekunden radikal. Eine Reihe
ungemütlicher Zeitgenossen tauchte wie aus dem Nichts in dem Reisebüro auf. Einer fauchte mich
grimmig an: »You have to go now!« Ich
spürte meine Ohnmacht. Sie hatten mich abgezockt.
Farokh versuchte mich wieder zu beruhigen.
Aufgrund unserer neugeschlossenen Freundschaft spendiere er mir und den drei
Japanern eine kostenlose Sightseeing-Tour, das sei alles. Am
liebsten hätte ich die ganze Reisevereinbarung rückgängig gemacht. Ich war kurz
davor durchzudrehen.
Die Tour durch Delhi war ein
paranoider Grenzgang. Erstens wollte ich noch immer nur eines: schlafen.
Zweitens war ich überzeugt, dass der Fahrer bei erster Gelegenheit mit unserem
Gepäck abhauen würde und ich meinen ganzen Indientrip in Windeseile in den Sand
gesetzt hatte. Und drittens hatte ich seit zwei Monaten nicht mehr gekifft; ich
wähnte mich in einem Katastrophenfilm.
Am India Gate, dem großen Triumphbogen der
Engländer, wäre ich am liebsten im Boden versunken. Ich wurde von allen Seiten
bedrängt. Hundert junge Männer wollten ein Bild mit oder von mir machen. Die
einen taten das verstohlen, die anderen heftig fordernd, fast bergriffig. Da stand ich nun,
umringt von gaffenden Fremden, und glaubte alles verloren. Wie hatte ich mich
nur so idiotisch anstellen können?
Doch der Fahrer lieferte uns am Ende wie vereinbart bei meinem Freund Farokh ab. Vielleicht hatte ich mich in die ganze Sache reingesteigert. Jetzt war ich gespannt, ob wir tatsächlich am nächsten Tag nach Srinagar fliegen würden. Während Farokh zunächst versicherte, alles würde glatt gehen, verlegte er sich bald auf ein fatalistisches »Inschallah!«
Da der nepalesische House Boy ein
paar Besorgungen machen musste, ergab sich die Gelegenheit, etwas vom Alltag in
den Straßen zu sehen. Wir fuhren mit einer Fahrradrikscha durch schmale Gassen
im Süden der Stadt. Tatsächlich fand ein großes Fest statt. An den Kreuzungen
waren riesige Pappmachéfiguren aufgebaut, die das Böse repräsentierten. Diese
Figuren wurden mit infernalen Schwarzpulverbausätzen in die Luft gejagt. Immer
wieder kam es zu unkontrollierten Explosionen. Das flößte selbst dem
Rikschafahrer Respekt ein.
Ich war ein wenig verstört, aber im selben
Maße fasziniert. Das ging ja gut los.
Zurück in der Wohnung durchforstete ich
den ADAC-Reiseführer auf der Suche nach Informationen. Alles, was ich fand, war
ein Bild des Dal-Sees in Srinagar, auf dem ich bald wohnen würde. Die Bildunterschrift
lautete: Srinagar gilt heute als verbotene Stadt – nie hat mich eine
Unterzeile mehr beunruhigt.
Am nächsten Morgen flogen wir tatsächlich
nach Kaschmir. Vom Flugzeug aus hatten wir eine überwältigende Sicht auf eine
der Himalaya-Ketten. Ich unterhielt mich mit meiner Nachbarin und notierte
begeistert die zahlreichen Tipps von Sehenswürdigkeiten, die ich unbedingt
sehen musste. Wenn ich geahnt hätte.
Am Flughafen wurden wir vom Patriarchen
der Familie abgeholt. Er begrüßte uns überschwänglich; er schien ein gesetzter,
sympathischer, sanft auftretender älterer Herr zu sein und strahlte natürliche Würde und Autorität
aus. Die Furchen auf seiner Stirn erzählten von einem bewegten Leben.
Wir fuhren zum Dal-See. Hunderte Soldaten
und Polizisten säumten die Strecke, wir mussten mehrere Checkpoints passieren. Das mulmige Gefühl meldete sich zurück.
Der goldene Käfig
Am See angekommen, bestiegen wir eine shikara – eines der Stakboote, die an venezianische Gondeln erinnern. Sie bieten Rundfahrten auf dem See an oder bringen Gäste zu einem der zahlreichen Hausboote, die fest in der Mitte des Sees verankert sind.
Nach Ankunft auf dem Hausboot empfing uns auch der Rest der Familie überaus gastfreundlich. Neben dem Patriarchen und seiner Frau lebte ihr ältester Sohn Rafiq auf dem Boot. Er hatte das Geschäft des Reisebüros fast vollständig übernommen.
Außerdem wohnte eine Schwester des
Patriarchen auf dem Boot, die seit einem schweren Trauma infolge des Todes ihrer
Eltern beim schweren Erdbeben 2005 nur noch Unverständliches vor sich hin
brabbelte und sich kriechend vorwärts bewegte. Schließlich gab es noch einen
Bediensteten, der aus Tibet stammte und wie ein Leibeigener gehalten wurde.
Die Hausboote waren eine Idee der Briten.
Zur Zeit ihrer Kolonialherrschaft war ihnen der Erwerb von Landbesitz durch den
Maharadscha Kaschmirs verboten worden. Das akzeptierten sie, weil sie sich
durch die Stützung der lokalen Herrscher die Zustimmung der Bevölkerung
sicherten. Gleichzeitig unterliefen sie diese Regelung mit den festverankerten
Hausbooten. Später wurden auf Schwemmland zwischen den Booten Gärten angelegt.
Heute ernähren sie tausende Menschen.
Der erste Abend mit den drei Japanern war amüsant, auch wenn die Gespräche aufgrund ihres schlechten Englisch rudimentär blieben. Ich entspannte mich ein wenig. Wir befanden uns in einer paradiesischen Umgebung: Das Hausboot protzte mit Holzschnitzereien und die Holzmöblierungen im Inneren waren exquisit. Anfangs durfte ich in einem dieser wunderbaren Räume übernachten. Ich konnte mir im Ansatz vorstellen, wie luxuriös die Engländer hier gelebt hatten.
Heute ist der See bei indischen Hochzeitsgesellschaften extrem beliebt. Hier spielen viele romantische Szenen der Bollywood-Filme.
Der Blick vom Hausboot reichte über den See auf die ersten Vorgebirge des Himalaya und einen Teil von Srinagar, das einst wegen seiner Wasserstraßen als „Venedig des Ostens“ bekannt war. Man konnte die Paradiesgärten erahnen, die von den Moguln angelegt worden waren, als Kaschmir in seiner vollen Blüte stand.
Morgens um vier Uhr erwachte ich das erste
Mal vom Gesang der Muezzins, der von vier Minaretten über den See schallte.
„Nichts ist geheimnisvoller, als
zufällig kurz vor Sonnenaufgang wach zu werden und dann wie auf einer von Ferne
heranrollenden Welle ein vorerst kaum verständliches Allahu akbar zu
hören, das sich mit zunehmender Geschwindigkeit nähert, immer mehr Wellen
mitführt, immer weitere Kreise zieht, immer neue Gefilde der Stille erobert,
bis es einen plötzlich umspült und man mitten drinsteht…“
Stefan Weidner: Mohammedanische
Versuchungen
Für die Familie war Ruf von der Moschee der Weckruf. Es
war die Zeit des Ramadan. Sie aßen, bevor die Sonne aufging. Dann mussten sie
auf den Sonnenuntergang warten. Das Essen bestand aus Reis und in Milch
gekochtem, zähem und scharf gewürztem Hammel- oder Ziegenfleisch.
Es dauerte nicht lange, bis die Stimmung endgültig
kippte. Ich wollte mit den Japanern über den Preis für ihren geplanten Treck
sprechen. Der Patriarch hatte einen Fetzen unserer Unterhaltung aufgeschnappt,
winkte mich harsch zu sich und stellte mich zur Rede. Als wir außer Hörweite
waren, ließ er seine Maske fallen. Etwas Verschlagenes trat in seine Augen.
Aggressiv blaffte er mich an; ob mir klar sei, welch guten Preis er mir machen
würde. Don`t destroy our business! brüllte er mir ins Gesicht. Ich
blickte in eine hasserfüllte Fratze voller Raffgier und Verachtung. In diesem
Moment las ich nichts Menschliches in seinen Zügen. Ich war geschockt von
dieser heftigen Explosion. Ich hatte mich mit den Falschen eingelassen. Die
Schlinge hatte sich um meinen Hals festgezogen. Die Bedrohung lag wie eine
schwarze Wolke über dem Hausboot.
Rafiq
stand seinem Vater in Nichts nach. Ich hatte sogar den Eindruck, dass er noch
mehr Falschheit in sich trug und eiskalt war. In seinem ganzen Wesen erschien
er bedrohlich. Niemand, mit dem man sich anlegen sollte. Sein Lieblingssatz
war: I’m talking to you honestly! Gerne versicherte er mir, ich hätte
nun ein zweites Zuhause gefunden, in dem ich immer als Bruder willkommen sei –
ein paar Mal musste ich an mich halten, um ihm für diese Verlogenheit nicht ins
Gesicht zu spucken!
Der working boy aus Tibet war alles
andere als glücklich. Man behandelte ihn wie Dreck. Die Frau des Patriarchen
war die einzige Ausnahme. Sie war fürsorglich und herzlich zu allen. Manchmal
hatte ich den Eindruck, dass sie nicht einverstanden war mit den Methoden ihres
Mannes und ihres Sohnes.
Nachdem die Japaner in aller
Herrgottsfrühe und ohne mein Wissen zum Trekking aufgebrochen waren, befand ich
mich wie in einem goldenen Käfig. Mir war schleierhaft, wie ich mich aus dieser
Situation herauswinden konnte. Die Atmosphäre auf dem Boot war vergiftet. Es
war unmöglich, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Allein sei es zu
gefährlich in der Stadt. Ich kam auch gar nicht erst vom Boot weg. Für Ausflüge
jeder Art war ich auf den Goodwill meiner »Gastfamilie« angewiesen. Wenn
man sich auf einem dieser falschen Hausboote befindet, ist es unmöglich,
eine shikara zu ergattern, die einen zurück an den Boulevard bringt.
Der Traum vom Himalaya war plötzlich weit
entfernt, dabei waren die Berge fast zum Greifen nahe. Aber ich konnte sie aus
eigener Kraft nicht erreichen.
Ich fühlte mich unglaublich einsam und
ausgeliefert. Ich besaß kein Handy und bat um einen Anruf. Ich musste eine
vertraute Stimme hören. Man gestattete mir den Anruf, alleine ließ man mich
nicht: »Ich bin in Kaschmir«, konnte ich meiner Mutter mitteilen, bevor die
Verbindung abbrach. Das dürfte sie kaum beruhigt haben…
Die Machenschaften auf dem Boot wurden immer
eindeutiger; es war kein Zufall, dass mein Gespräch mit den Japanern belauscht
worden war. Das gehörte alles zur Einschüchterungstaktik. Man wollte um jeden
Preis vermeiden, dass sich Touristen gegenseitig in ihrem Misstrauen und
Unwohlsein untereinander bestärkten.
Niemand sprach das aus, stattdessen wurde
immer auf Respekt verwiesen. Bei dem französischen Pärchen, mit dem ich gerne
gemeinsam in die Berge aufgebrochen wäre, schob man vor, es sei respektlos, sie
auf ihrem »honey moon trip« zu stören. Dabei wären wir gerne zusammen
aufgebrochen. Den beiden war anzusehen, dass auch sie sich in ihrer Haut nicht
wohl fühlten. Doch immerhin hatten sie einander.
Manchmal tauchte ein weiterer Bruder auf.
Die einzigen anderen Besucher von außen waren ein geschäftstüchtiger
Antiquitätenhandler, und eines der Boote, das mit Aufbauten in einen
schwimmenden Shop umgewandelt worden war.
Mag sein, dass es irgendeine Möglichkeit
gegeben hätte, von dort wegzukommen, aber ich war völlig verunsichert. Die Männer
waren unberechenbar und gefährlich.
Entweder ich stellte mich halbwegs gut mit
ihnen und sah zu, dass ich vernünftig und unbeschadet aus dieser Nummer wieder
rauskam, oder ich stellte mich gegen sie, was den Verlust meiner Sachen
bedeutet hätte oder Schlimmeres.
Immer häufiger fragten sie mich, ob ich
nicht auf eine Trekkingtour gehen wolle. Das war natürlich meine Absicht, doch
ich war davon ausgegangen, dass ich diese Tour auf eigene Faust angehen konnte.
So hatte Farokh das in Aussicht gestellt.
Was hätte ich machen sollen? Die acht
bezahlten Nächte auf dem Boot verbringen und sehnsuchtsvoll den Himalaya aus
der Ferne betrachten sollen? Mir jeden Tag geheuchelte Freundlichkeit anhören?
Langsam dem Wahnsinn verfallen?
So schluckte ich meinen Ärger über ihr
verlogenes Gerede herunter, sie würden mir aus Sympathie einen guten Preis
machen, und willigte schließlich nach längerer Verhandlung in einen
überteuerten Viertagestrip in die Berge ein.
Lost
in Paradise
Auf der Fahrt in den Nordosten wurde die
extreme Militärpräsenz in Kaschmir noch deutlicher. Ein Militärgelände reihte
sich ans andere – von Polizeiausbildungslagern, riesigen Armeestützpunkten bis
hin zu den »Storm Troopers«. Ein bedrückender Anblick; Kaschmir war noch immer
ein Pulverfass – eine der Achillesfersen der gesamten Region und die offene
Wunde des Subkontinents. Pakistan hält die nördlichen Gebiete von Kaschmir
besetzt und beansprucht das Kaschmirtal. Umgekehrt fordert Indien die Rückgabe
der nördlichen Territorien. Seit der Unabhängigkeit des Subkontinents und der
Teilung in Indien und Pakistan hat es drei Kriege um Kaschmir gegeben.
Fatalerweise war es mit der Unabhängigkeit
zur Schaffung eines muslimischen und eines Hindu-Staates gekommen. Gandhi war
mit dem Versuch der Aussöhnung zwischen beiden Religionsgruppen gescheitert. Doch
selbst wenn man der Logik der Staatenteilung folgte, hätte das vornehmlich
muslimische Kaschmir Pakistan zugesprochen werden müssen. Doch der herrschende
Hindu-Maharadscha beschloss, seine Macht zu sichern, indem er Indien zu Hilfe
rief. Unmittelbar danach kam es zum Genozid auf beiden Seiten der Grenze.
Millionen von Hindus und Muslimen wurden vertrieben oder getötet.
Seitdem ist Kaschmir, das in seiner
Geschichte bereits von Moguln, Hunnen, Sikhs, Afghanen und Maharadschas
beherrscht wurde, nur noch kurzzeitig zur Ruhe gekommen. Noch immer sind 500
000 indische Soldaten stationiert. In den von Pakistan besetzten Teilen
Kaschmirs gibt es Terrorcamps, in denen militante Kashmiri und Extremisten aus
Afghanistan, Pakistan oder der arabischen Welt ausgebildet werden. In den Bergen stehen sich seit Jahrzehnten beide
Armeen mit schwerem Kriegsgerät und Soldaten entlang der UN-Demarkationslinie
gegenüber. 1999 standen Indien und Pakistan nach dem letzten bewaffneten
Konflikt an der Schwelle eines Atomkrieges. Bis heute herrscht ein brüchiger
Waffenstillstand.
Die angespannte Situation wird sowohl von
Extremisten in Pakistan und Kaschmir als auch von der indischen Armee immer
wieder neu angefacht. Die Militärs haben durch Korruption, Willkür,
Vergewaltigung, Ermordung, Plünderung und Folter den Hass der Kashmiri auf sich
gezogen. Die Extremisten antworten mit blutigen Anschlägen. Eine weitere
Spirale der Gewalt. Das Gefühl, sich in einem silent war zu befinden, kann
je nach aktueller Situation sehr stark sein; manchmal schien ich die Anspannung
in der Luft zu spüren; dann hatte ich das Gefühl, es reichte, einen Funken zu
entzünden, um eine neue Eskalation herbeizuführen.
Die Kashmiri sind sich über die Zukunft
keineswegs einig. Einige befürworten die Zugehörigkeit zu Pakistan oder wollen
einen eigenen Staat, viele streben nach einer weitreichenden Autonomie
innerhalb Indiens. Doch in erster Linie sehnt sich der überwiegende Teil der
Bevölkerung nach Frieden.
Wir fuhren durch eine zersiedelte
Bergregion. Nach zweistündiger Fahrt erreichten wir ein kleineres Bergdorf in
einem malerischen Tal. Wir parkten vor einem archaischen Hindutempel.
Hier endete die Straße. Nur ein Trampelpfad führte zu den letzten Häusern und Hütten des Tals. Sie waren noch nicht an das Stromnetz angeschlossen. Unser Ziel war eine einfache Hütte. Mein Fahrer verabschiedete sich und übergab mich in die Obhut eines Kochs, der in den nächsten Tagen mein Begleiter sein würde. Noch wusste ich das nicht und fragte mich, was wohl als nächstes auf mich warten würde. Der Koch bereitete ein Reisgericht und Tee zu. Er sagte mir, dass wir am nächsten Tag ein Camp stromaufwärts beziehen würden, und stellte mir einen jungen einheimischen Führer vor, mit dem ich mir einen ersten Überblick über das Tal verschaffen könnte. Er musste sich noch um die indischen Touristen kümmern, die bald wieder nach Hause reisen würden.
Hier endete die Straße. Nur ein Trampelpfad führte zu den letzten Häusern und Hütten des Tals. Sie waren noch nicht an das Stromnetz angeschlossen. Unser Ziel war eine einfache Hütte. Mein Fahrer verabschiedete sich und übergab mich in die Obhut eines Kochs, der in den nächsten Tagen mein Begleiter sein würde. Noch wusste ich das nicht und fragte mich, was wohl als nächstes auf mich warten würde. Der Koch bereitete ein Reisgericht und Tee zu. Er sagte mir, dass wir am nächsten Tag ein Camp stromaufwärts beziehen würden, und stellte mir einen jungen einheimischen Führer vor, mit dem ich mir einen ersten Überblick über das Tal verschaffen könnte. Er musste sich noch um die indischen Touristen kümmern, die bald wieder nach Hause reisen würden.
Die Blätter der Bäume leuchteten in den
prächtigen Farben des Spätherbstes. Das Tal war ein richtiges Paradies.
Angesichts der Umstände fiel es mir jedoch schwer, das richtig zu würdigen.
Wir waren erst einige Hundert Meter
unterwegs, als mich mein Begleiter auf die Sinnhaftigkeit einer Kifferpause
hinwies. Eigentlich stand mir noch nicht der Sinn danach, aber ich wurde
schwach. Minuten später war ich völlig verblasen.
Als wir zurück zu der Hütte gelangten,
erkannte ich sie nicht wieder. Ich dachte an eine Falle. Nun war es aus mit
mir! Doch es war nur eine Sinnestäuschung. So paranoid war ich in diesen Tagen.
Ich befand mich in einem Zustand ständiger Anspannung und Sorge, kurz vor einem
Nervenzusammenbruch. Die innere Stimme, die für die nahenden Katastrophen
zuständig ist, wiederholte in einem fort: „Es ist aus, es ist aus…“
Ich war überzeugt, dass man mich aller
Habe berauben würde. Nichts würde mir bleiben außer der Kleidung, die ich am
Leib trug. Falls ich überhaupt wieder hier wegkam. Immer wieder überkam mich
das Gefühl, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Vielleicht würde mir
jemand im Schlaf die Kehle durchschneiden.
Viele dieser Gedanken waren irrational,
schließlich konnte man mich noch weiter auspressen. Andererseits: Niemand
wusste, wo ich war. Woher sollte ich wissen, wo die Grenze lag? Hatte Rafiq
überhaupt Gewissensbisse? Wie weit würde er gehen? Er spielte doch mit solchen
Horrorszenarien. Was sie anrichteten, war ihm scheißegal.
Ich konnte mein Denken nicht abschalten.
Wenn sie mich ausrauben wollten, würden sie es ohnehin tun; ich konnte nichts
dagegen machen. Aber zu echtem Fatalismus fehlte mir die Kaltblütigkeit.
Ich hatte seit meiner Kindheit kein
Heimweh mehr verspürt. Doch jetzt vermisste ich Familie und Freunde. Wie sehr
wünschte ich mir einen von ihnen an meine Seite!
Mein Vertrauen in meine Begleiter wuchs
ein wenig, nachdem wir in dem eigentlichen »Camp« angekommen waren. Es bestand
aus einem einfachen Zelt, in dem ich übernachtete, und dem Zelt des Kochs, in
dem ich mich abends aufhielt. Es war etwas robuster; am Abend hielt es noch für
einige Zeit die Wärme, die beim Kochen entstanden war. Noch besser half der
heiße Tee.
Der Koch fragte mich, wie viel ich für den Ausflug in die Berge zahlte. Ich schämte mich für den überteuerten Preis und verriet es ihm nicht; er schien ein einfacher Mann zu sein und sagte, er lebe on zero – er könne sich und seine Familie mit seiner Hände Arbeit gerade so über Wasser halten. Oder steckte er doch mit den Anderen unter einer Decke?
Nachts war es unfassbar kalt. Selbst mit
drei Decken und meiner kompletten Kleidergarnitur fror ich erbärmlich. Doch die
Umgebung war beeindruckend.
Die beiden Zelte lagen direkt neben dem Sindh,
der sich nach der Schneeschmelze in einen reißenden Strom verwandeln würde.
Schon jetzt war die Strömung gewaltig. Das Tosen übertönte alle anderen
Geräusche. Der Himmel war voller Sterne.
Trotz der immensen Anspannung habe ich
selten so gut geschlafen. Auf den Bildern sehe ich erstaunlich entspannt aus.
Wenn es darauf ankam, war ich ein guter Schauspieler. Vielleicht hat mich das
vor Schlimmerem bewahrt.
Ich erlebte auch gute Momente; immer
wieder gelang es mir, für kurze Zeit auszublenden, in welch fatale Situation
ich mich hineinmanövriert hatte.
Dann stieg ich den Hang hinauf, genoss den
weitläufigen Blick über das Tal und wähnte mich in einem unschuldigen Garten
Eden.
Ich war hin und her gerissen zwischen
Euphorie über diesen idealen und natürlichen Ort und Hysterie: die Einsamkeit
quälte mich und ich sah mein Leben bedroht. Ich fühlte mich wie in einem
verwunschenen Garten; ich war an diesem paradiesischen Ort verloren, wie ich
ihn mir schöner kaum träumen konnte.
Einzig die regelmäßigen Feuer und der
Holzschlag in den Hanglagen deuteten an, dass auch hier die Zeit nicht
stehenblieb.
Die Bergbewohner waren herzlich und
gastfreundlich. Die Männer saßen auf ihren Veranden und rauchten die hookah. Sie führten offensichtlich ein
entbehrungsreiches, aber erfüllendes Leben. Aus Srinagar sei noch nie etwas
Gutes gekommen, sagten sie.
Talaufwärts von unserem Lagerplatz gab es
keine weiteren Häuser. Dort siedelten Nomaden in Strohhütten, die mit ihren
Tieren auf uralten Wegen zwischen Sommer- und Winterlagern hin und herziehen.
Jetzt trieben sie die Tiere zurück in die Täler. Ihre Gesichter hatten mehr
Ähnlichkeit mit denen der Afghanen als der Kashmiri.
Der Höhepunkt meines Aufenthalts war der
Trek zum Gangabal-See. Ein extrem steiler Pfad führte vom Tal aus
unerbittlich nach oben. Im schneidenden Wind war es eisig. Die Luft wurde
dünner. Während des schnellen Aufstiegs schlug mir das Herz bis zum Halse. Nach
zwei Stunden war ich völlig am Ende. Doch es ging noch drei weitere Stunden
bergauf. Für mich als ungeübten Wanderer ohne nennenswerte Kondition eine
schier unmenschliche Anstrengung. Irgendwann schlich ich nur noch hinter dem
Guide hinterher.
Bei guter Sicht hätten wir weit ins
Gebirge schauen können, doch die Aussicht war durch tiefliegende Nebelschichten
getrübt. Gleichzeitig verlieh diese Unschärfe der Umgebung etwas
Geheimnisvolles.
Endlich erreichten wir den See. 1400 Meter
waren wir aufgestiegen. Hinter dem eisigen Gewässer ragte der majestätische Haramukh(5142 Meter) auf. Er gilt den Hindus als Wohnsitz Shivas. Auch der Tempel im Tal ist ihm gewidmet.
Etwas unterhalb war ein weiterer Gebirgssee sichtbar. Wir waren von einer gewaltigen Bergkulisse eingerahmt. Wir legten eine kurze Rast ein und nahmen ein kleines Mahl zu uns: gekochtes Gemüse und Kartoffeln, Eier, Toast und Marmelade.
Etwas unterhalb war ein weiterer Gebirgssee sichtbar. Wir waren von einer gewaltigen Bergkulisse eingerahmt. Wir legten eine kurze Rast ein und nahmen ein kleines Mahl zu uns: gekochtes Gemüse und Kartoffeln, Eier, Toast und Marmelade.
Wir verweilten kaum zehn Minuten. Ich wäre
gerne viel länger geblieben, um den Ausblick und die kalte, frische Luft zu
genießen. Das Tosen des Flusses war in dieser Höhe nicht mehr zu hören. Einzig
das Pfeifen des Windes durchbrach die Stille. Mein Körper schrie nach Erholung.
Doch es hatte begonnen zu schneien und mein Führer mahnte zur Eile. Es half alles
nichts. Auf dem endlosen Weg zurück ins Tal hatte ich Mühe, überhaupt noch
einen Fuß vor den anderen zu setzen. Am liebsten hätte ich mich auf den Boden
geworfen und wäre nie wieder aufgestanden. Ich musste meine letzte Willenskraft
aufbringen. Nach zehn Stunden waren wir zurück im Tal. Trotz allem hatte mir
das kleine Abenteuer gut getan. Ich wäre gerne noch länger an diesem
geheimnisvollen Ort verweilt und wäre tiefer in die kaum berührte Natur
vorgedrungen. Aber es kam nicht in Frage, den Haien auf dem Hausboot noch mehr
Geld in den Rachen zu werfen. Am letzten Morgen bereitete mir der Koch zwei
frischgefangene Forellen zu. Danach fuhren wir gemeinsam zurück zum Hausboot.
Nach der Abgeschiedenheit und der frischen Luft war es verstörend, durch
lärmende und stinkende Straßen zu fahren. Und es gab erfreulichere Aussichten,
als wieder zu den Psychopathen auf dem Hausboot zurückzukehren.
Nach der Rückkehr bekam ich eine heiße
Dusche aus einer lebensgefährlichen Apparatur spendiert. Das Wasser wurde
mithilfe einer Autobatterie in einem Fass erhitzt. Immerhin wurde ich vor einem
finalen Stromschlag gewarnt.
Rafiq
und sein Vater wollten mich überreden, noch länger auf ihrem Boot zu bleiben
und ihre Gastfreundschaft zu genießen. Doch diesmal hatte ich mich gewappnet.
Wortreich und zuckersüß erklärte ich ihnen, wie gerne ich bleiben würde, aber
dass dies aufgrund meiner Finanzen unmöglich sei. Mir war nur noch daran
gelegen, mich anständig aus dieser Sache rauszuziehen, ohne mein Gesicht zu verlieren. Ich habe sie in
dem Glauben gelassen, dass ich eines Tages
wiederkommen würde. Ich hasse Lügen, aber hier erschienen sie mir mehr als
angebracht.
Am Abend kam Rafiq in mein Zimmer und begann
mit mir über Kaschmir zu sprechen. Das erste Mal
sprach er offen über die Situation, die er sonst mal verharmloste oder
aufblies, wie es ihm gerade besser passte. Nun betonte den Effekt, den die
extrem hohe Militär- und Polizeipräsenz auf die Bewegungsfreiheit der Kashmiri
hat. Das macht für ihn Kaschmir zu einem Gefängnis und er zeigte wenig Hoffnung
für eine bessere Zukunft. Das war wohl das einzige Mal, dass ich den echten
Mann hinter der grauenhaften Maske erblickte. Er war mir in diesem Moment fast
sympathisch. Doch ich vergaß nicht, wie skrupellos er selbst war. In gewisser
Weise hat er ein eigenes Gefängnis geschaffen. Dennoch bleibt die Frage, wie
sehr ihn diese schwierige Ausgangsposition geprägt hat und was ich an seiner
Stelle täte.
Aber am Ende erweisen Scharlatane seiner
Sorte der überwiegenden Anzahl ehrlicher Bootsbesitzer einen Bärendienst. Ich
war einer der berüchtigten Familien zum Opfer gefallen, die wie eine Art Mafia
organisiert sind. Gegen Rafiq fand ich bei den Recherchen einen schweren
Vergewaltigungsvorwurf. Bedrohung, Nötigung und Kidnapping gehören zu seinem
Handwerkszeug. Eine erschreckende Geschichte erfuhr ich über zwei junge Frauen aus den USA. Sie waren auf ähnlichem Weg auf
eines dieser Hausboote gelangt. Dort wurde ihnen nach einigen Tagen eröffnet,
dass Krieg zwischen Indien und Pakistan ausgebrochen sei. Durch die
Rohstoffknappheit müssten sie den fünffachen Preis bezahlen, und es sei ihnen
unmöglich, das Hausboot zu verlassen; beim Erreichen des Ufers würden sie
erschossen. Die Beiden gaben ihr ganzes Geld für den Indientrip in Kaschmir
aus, lebten zwei Monate in Todesangst und mussten am Ende ihre Eltern anbetteln, um zurck nach
Hause fliegen zu können. Wenn man das omnipräsente Militär in Kaschmir gesehen
hat, kann man die Lüge vom Krieg durchaus glauben.
Und ich begriff. Meine Anrufe aus dem Büro in Delhi
hatten nicht weiter als bis in die nächste Kabine des Büros gereicht. Ich bekam immer
die gewünschten Antworten. Solch perfide Strategien lagen damals außerhalb
meines Vorstellungsvermögens.
Es bleibt eine furchteinflößende Erfahrung, die mich auf meiner ersten Indienreise verfolgt hat. Nie zuvor hat mich mein Gespür für Menschen so sehr getrogen. Ich hatte Mimik und Gesten völlig falsch interpretiert und nicht damit gerechnet, dass ich sie nochmal ganz neu justieren musste. Als die Geschichte erst mal im Rollen war, hatte ich das Gefühl, nicht mehr aussteigen zu können. Ich hatte die Schatten der Vergangenheit hinter mir lassen wollen, doch sie hatten mich schnell eingeholt. Es hat lange gedauert bis ich danach wieder unbefangen Fremden vertrauen konnte.
Es bleibt eine furchteinflößende Erfahrung, die mich auf meiner ersten Indienreise verfolgt hat. Nie zuvor hat mich mein Gespür für Menschen so sehr getrogen. Ich hatte Mimik und Gesten völlig falsch interpretiert und nicht damit gerechnet, dass ich sie nochmal ganz neu justieren musste. Als die Geschichte erst mal im Rollen war, hatte ich das Gefühl, nicht mehr aussteigen zu können. Ich hatte die Schatten der Vergangenheit hinter mir lassen wollen, doch sie hatten mich schnell eingeholt. Es hat lange gedauert bis ich danach wieder unbefangen Fremden vertrauen konnte.
Am Ende machte ich drei Kreuze, als ich im Jeep Richtung Jammu saß. Offenkundig war es keine gute Idee, kaum 50 Kilometer von Osama bin Ladens letztem Zufluchtsort Abbottabad entfernt, eine politische Diskussion über Kaschmir, die US-amerikanische Außenpolitik und die deutsche Geschichte mit einem bärtigen Fundamentalisten zu führen, aber das ist eine andere Geschichte.
Weiterführende Links
coming soon: "Die Lagune"