Ich
hatte gehörigen Respekt vor der Begegnung mit dem Tod an den
Verbrennungsstätten am Ganges. Der Tod ist ein besonders wichtiges Thema in
meinem Leben - kein Einfaches. Und so hat es lange gedauert bis ich die Stadt
des Lichtes und des Todes aufgesucht habe. Nun hoffte ich, bereit zu sein.
Kashi
– Shivas Stadt des Lichtes – für die gläubigen Hindus ist die Reise nach
Varanasi die Pilgerfahrt, die jeder in seinem Leben unternommen haben will.
Vergleichbar ist die Bedeutung der Stadt allenfalls mit der Mekkas für die Muslime und Jerusalem für Christen, Juden (und
Muslime). Sadhus – heilige Männer - werden besonders angezogen und der Tod in
Varanasi gilt als besonders verheißungsvoll.
30 % der Bevölkerung der Stadt gehören dem
muslimischen Glauben an.
Sie nennen die Stadt Banaras – der Name Benares
war zu Zeiten der muslimischen und britischen Herrschaft gebräuchlich und ist
weiterhin sehr geläufig. In der Mahabaratha
werden weitere Namen aufgeführt. Der ansprechendste ist für mich Anandvan – Wald der Glückseligkeit. Varanasi gilt als eine der am längsten besiedelten
Städte der Welt.
Als ich Varanasi von Haridwar aus mit dem Nachtzug in den Nachmittagsstunden erreichte,
schienen sich meine Erwartungen über die Stadt zunächst zu erfüllen. Ich hatte
mir vorgenommen, günstig zur Altstadt zu gelangen, mich dann zu einem Hotel
durchzuschlagen und all den Schleppern ein Schnippchen zu schlagen. Doch als
ich ein wenig gerädert das Bahngleis entlanglief und versuchte, mich für das
Kommende zu wappnen, sprach mich ein Rikschafahrer an. Ohne ihm Zusagen zu
machen, folgte ich ihm nach draußen. Dort erwartete mich das vertraute Bild
großer indischer Städte: von allem zu viel. Modernisierung ohne Plan, eine
graue, bleierne Stadt, die zu schnell wuchs. Der Rikschafahrer blieb mir ein
wenig suspekt, doch schließlich willigte ich ein, mir ein Hotel anzusehen.
Soviel also zum Helden, der sich alleine durchkämpfte. Ich wollte nicht
kämpfen. Ich wollte einfach nur zu den Ghats,
ein schönes Hotel finden, Varanasi erkunden und bald darauf weiterziehen. Unser Beifahrer war ein Sadhu mit einer
großflächigen Pigmentstörung im Gesicht, der es nicht für nötig erachtete, mich
zu grüßen. Kurze Zeit später hielten wir, so dass sich die beiden eine frische
Ladung pan (Kautabak mit wachmachenden
Substanzen) zu Gemüte führen konnten.
Der Fahrer eröffnete mir nun:
„you give money to him!“ - „why?“ - „because he is
holy man!“ – “well…”.
Nun bereute ich bereits in eben jener Rikscha zu
sitzen und die Monotonie der unendlichen Märkte entlang der Straße, steigerte
mein Wohlbefinden auch nicht. Schließlich fuhren wir durch eine Reihe
ausgesprochen enger Gassen. Das letzte Stück mussten wir laufen. Zunächst war
ich wenig erbaut über den Preis des angebotenen Zimmers, doch es ließ sich eine
Übereinkunft erzielen. Und nun erwies sich die Wahl des Rikschafahrers und des
Hotels als Glücksgriff. Zwar gibt es sicherlich schönere Aussichtspunkte auf
die Ghats – die Aussicht vom Dach war
schön, aber nicht atemberaubend – doch das Hotel konnte mit Ruhe und
ausgesprochen freundlichen Angestellten punkten. So würde ich deutlich länger
bleiben, als vermutet. Doch zunächst war ich beschäftigt, mich in meine
Manie zu begeben und die nächsten Tage verschob ich meinen Rhythmus hin zum
Nachtmenschen. Eine einfache Übung für den Profi. Nachts schrieb ich oder holte
die Lektüre anderer Blogs nach, in den Morgenstunden fiel ich ins Koma. Mittags
war ich wieder auf der Bildfläche.
Memento
Mori
Ich war gekommen, um die Atmosphäre an den
Verbrennungsstätten auf mich wirken zu lassen. Ich wusste nicht wie ich darauf
reagieren würde. Ich konnte mir vorstellen, dass es mich umwerfen würde, dass
die Angst massiv zurückkehren würde, die mich so lange begleitet und mich nie
ganz verlassen hatte. Vielleicht würde ich Erleichterung empfinden. Würde ich
Schmerz oder gar Freude im Angesicht des Todes erleben?
Bei uns im Westen ist der Tod ein Tabuthema. Der
Jugendwahn hat kaum etwas von seiner Stärke verloren, die Gentechniker träumen
von der Verlängerung des Lebens oder gar der Eliminierung des Todes. Viele Alte
werden ins Altersheim abgeschoben. Ich hatte die Zustände gesehen und es hatte
mich erschüttert. Doch hier lag der Tod direkt vor Augen. Wie wollte man einen
sanften Tod erleben, wenn man sich nie mit ihm beschäftigt hatte, weil er
kollektiv verdrängt wurde? Nur so kann man den Schrecken erklären, den viele
Menschen empfinden, wenn sie unvorbereitet auf ihre letzte Reise gehen.
Für mich persönlich war der Gedanke, dass wir
sterben würden, zu keinem Zeitpunkt ein Tabu. Ich war als Pfarrerssohn früh
damit konfrontiert und hatte schon als kleiner Junge gespürt, dass es sich um
einen endgültigen Abschied handelt – zumindest in diesem Leben. Doch ich
glaubte an ein Leben nach dem Tod.
Zum Trauma wurde das Thema für mich erst, als ich
meinen Glauben in der Pubertät verlor und ich erleben musste, wie mir geliebte
Menschen elendig an Krebs starben. Das war zu viel.
Hauptsächlich stellte ich mir die Frage, was nach
unserem Tod kommen würde. Und als ich aller Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod
beraubt schien, verlor ich auch allen Lebenssinn – das war lange Fundament
meines Weltbildes gewesen. Es folgten Jahre der Wut, Trauer, Verzweiflung,
Depression – all dies habe ich mir im ersten Teil meines Buches von der Seele
geschrieben. Es waren Jahre, in denen der Gedanke an den Tod nie sehr fern war.
Und der Tod selbst auch nicht.
Heute habe ich zu einer Hoffnung zurückgefunden.
Ich werde wohl trotzdem ein Agnostiker bleiben, auch wenn ich manchmal
überzeugt bin, dass es Etwas Größeres gibt als uns. Und noch immer gibt es
Momente, in denen mir sicher scheint, dass nichts von Bestand sein wird – ein
Gedanke, der mich immer noch deprimiert – doch den ich denken kann, ohne ins
Bodenlose zu fallen. Das war ein langer Weg.
Und ich möchte nicht unsterblich sein. Was für
eine furchtbare Vorstellung. Es ist ein Wunder, dass ich dreißig Jahre alt
geworden bin. Ich will sicher nicht als 500-Jähriger von meinem 150. Trip nach
Indien berichten. Es gibt immer noch Todessehnsucht in mir. Aber der
destruktive Teil wird immer kleiner. Doch einst von dieser Erde zu gehen, wird
eine Erlösung sein. Das schmälert den Schmerz der Hinterbliebenen nur
unwesentlich und ich weiß nicht, wie tapfer ich dem Tod gegenüberstehen werde.
Doch entscheidend bleibt doch, was für ein Leben man geführt hat.
Ich will nicht behaupten, ich würde das Leben voll
auskosten. Doch es ist sehr intensiv – mit wundervollen und furchtbaren
Erfahrungen. Wer wäre ich, nach mehr zu fragen?
Wunderbar auch, was Tiziano Terzani im Buch „Der
Anfang ist mein Ende“ zum Tod sagt:
„Warum
macht das Sterben uns bloß solche Angst? Wo das doch alle getan haben!
Milliarden und Abermilliarden von Menschen, Babylonier, Hottentotten, alle.
Aber wenn wir selber dran sind - ah! Dann sind wir verloren.
Wie ist
das möglich? Wo das doch alle getan haben!
Wenn du
es dir genau überlegst - und das ist ein schöner Gedanke, den natürlich schon
viele angestellt haben -, ist die Erde, auf der wir leben, im Grunde ein
riesiger Friedhof. Ein immens großer Friedhof all dessen, was gewesen ist. Wenn
wir anfangen würden zu graben, fänden wir überall zu
Staub
zerfallene Knochen, die Überreste des Lebens.
Kannst
du dir vorstellen, wie viele Abermilliarden von Lebewesen auf dieser Erde gestorben
sind? Die sind alle da! Wir laufen ständig über einen unendlich großen
Friedhof. Das ist seltsam, denn wir stellen uns Friedhöfe immer wie Orte der
Trauer vor, Orte des Leidens, der Tränen. Dieser immense
Friedhof
aber, die Erde, ist wunderschön! Voller Blumen, die darauf wachsen, mit all den
Ameisen und Elefanten, die darüber laufen. Er ist die Natur!
Wenn du
das so siehst, dass du wieder Teil von all dem wirst, ist das, was von dir
bleibt, vielleicht dieses unteilbare Leben, diese Kraft, diese Intelligenz, die
du mit einem Bart schmücken und Gott nennen kannst, auch wenn Sie etwas ist,
was unser Denken nicht fassen kann, vielleicht der große Geist, der alles
zusammenhält.“
Nun lief ich also das erste Mal an den Ghats vorbei. Ich hatte mir ein anderes
Bild gemacht. Ich war davon ausgegangen, dass die Verbrennungsstätten
dominieren würden, aber das ist nicht der Fall. Es gibt deutlich mehr Badeghats, in denen die Pilger ein Bad
in „Mother Ganga“ nehmen, um ihre
Sünden abzuwaschen und der Göttin Ganga
Girlanden und schwimmende Kerzen zu opfern. Zahllose Boote brechen zu Fahrten
über den Fluss auf. Prächtige Kaufmannshäuser, Villen und Tempel aus dem 18.
und 19. Jahrhundert dominieren die Promenade und zeugen von einem anderen
Zeitalter.
Es gibt ausschließlich zwei Verbrennungsstätten in
der Stadt. Die kleinere, das Harishchandra
Ghat befindet sich nicht weit vom Hotel; die deutlich größere und
bedeutendere ist das Manikarnika Ghat.
Als ich das Mainghat erreichte, bot mir ein
drahtiger Mann seine Dienste als Masseur an. Ich wollte zunächst weitergehen,
beschloss dann aber doch, dass es Zeit wäre für meine erste Massage in Indien
seit Langem. Da lag ich nun auf den Steintreppen des Ghats auf einer Plane und es gelang mir nach einiger Zeit
erstaunlich gut, mich inmitten der Menschenmassen zu entspannen. Der Mann
verstand sein Handwerk – die Aryuveda-Massage und er forderte am Ende einen für
Varanasi exorbitanten Preis. Doch da die Massage ausgesprochen gut war und ich
für dieselbe Dienstleistung in Goa oder Kerala einen ähnlichen Preis bezahlt
hätte, ließ ich es dabei bewenden. Der Mann stammte aus Bihar und hatte fünf
Kinder durchzukriegen.
Ständig wurde mir von finsteren Gestalten
Haschisch angeboten – doch nicht nur das – die Palette reichte von (gefaktem)
LSD, Meskalin über Opium und Kokain zu Morphinderivaten und dem
Pferdeschlafmittel Ketamin. Ich wollte mir nicht im entferntesten vorstellen,
was passieren, würde unter Ketamineinfluß an den Verbrennungsstätten zu sein –
für Psychedelika war das zweifelsohne auch nicht der richtige Ort – um das mal
ganz vorsichtig auszudrücken.
Ich machte mir meine Gedanken über das
Bevorstehende. Zweimal hatte ich mich gegen den Trip nach Varanasi entschieden,
weil es für mich der falsche Zeitpunkt zu sein schien. Ich hatte viele wilde
Geschichten gehört und mein Hauptinteresse lag darin, zu erfahren was ich
empfand, wenn ich an den Verbrennungsstätten stand.
Ich war in Indien immer wieder auf Westler
getroffen, die mir ausführliche Geschichten über ihre Erlebnisse in
vorangegangenen Leben erzählen wollten – das hatte mich eher befremdet. Nicht
weil ich dem - tief in Hinduismus und Buddhismus innewohnenden - Gedanken von
Wiedergeburt nichts abgewinnen könnte – doch ich kann mir nicht vorstellen, als
ein anderer Mensch wiederzukehren – ganz abgesehen von Tieren oder Pflanzen.
Unter Umständen bleibt etwas von unserem Bewusstseinskern erhalten – weiter mag
ich nicht denken und selbst dessen bin ich mir keineswegs sicher.
Existentialistische Gedanken sind mir nicht fremd.
Die Vorstellung von Shiva, der mit Brahma,
dem Schöpfer und Vishnu, dem
„Erhalter“ der Welt eine Dreiteilung des Göttlichen bildet, wie sie auch im
Christentum zu finden ist, als Zerstörer der Welt, der zugleich eine neues
Zeitalter einläutet ist mir in der Zeit in Indien deutlich näher gekommen. Erst
kürzlich hatte ich die Lektüre von „the
age of Kali“ beendet. In diesem Buch lässt der Autor Inder zu Wort kommen,
die die (aus ihrer Sicht) glorreiche Vergangenheit mit dem aktuellen Verfall
vergleichen – am augenscheinlichsten am Beispiel von Lucknow. Für mich spricht
tatsächlich viel dafür, dass wir uns in Kali
Yug befinden, einer Zeit des moralischen Verfalls. In der zyklischen Vorstellung des Hinduismus wird
diese Periode vom golden age
abgelöst. Die große Frage bleibt für mich: falls diese aufeinander abfolgenden
Zyklen von Verfall und Erneuerung wirklich existieren – wofür viel spricht –
alle Hochkulturen und Weltmächte gingen durch diesen Prozess - wie wird der
Übergang von statten gehen?
Werden wir so weitermachen wie bisher und uns nach
und nach selbst die Lebensgrundlage entziehen bis eine Katastrophe uns zum
Neustart zwingt?
Oder werden wir uns weiterentwickeln, aus unseren
Fehlern lernen, uns gesundschrumpfen, die Totalökonomisierung aller
Lebensbereiche überwinden und uns auf die wirklich essentiellen Werte
zurückbesinnen? Unseren Verstand wieder zu einem Werkzeug machen, anstatt
vollständig von ihm dominiert zu werden?
Noch ist unser Schicksal nicht entschieden.
Diese Gedanken hatten mich schon in Haridwar
begleitet. Dort wurde der Kanal des Ganges ausgebessert und das Ausmaß der
Verschmutzung war weit schlimmer – zumindest, soweit man das erkennen konnte.
Ich hatte mich auch gefragt, wie es vereinbar war, den Fluss als heilig zu
verehren und ihn gleichzeitig mit Dämmen dermaßen zu verschandeln.
ein Bild des Manikarnika Ghats aus einer respektvollen Distanz |
Am Manikarnika
Ghat angekommen – der bedeutendsten Verbrennungsstätte, schien zunächst der
destruktive Anteil Shivas deutlich
präsenter zu sein. Gerade die verlassenen Häuser direkt oberhalb erzeugen eine
gespenstische Atmosphäre. Scharen von Fledermäusen hatten sich dort eingenistet.
Sie flogen unaufhörlich durch die glaslosen Fenster und ihr Anblick verstärkte
den Eindruck. Unterhalb davon brannten die Feuer für die Toten.
Jeder gläubige Hindu möchte hier verbrannt werden, da dieser Ort Erlösung vom
Kreislauf der Wiedergeburten verspricht:
Moksha
– das Äquivalent zu Nirvana.
Ein aufdringlicher Mann begann mit einer Litanei
über die Rituale am Ghat. Seine
Ausführungen waren durchaus interessant. Ich lauschte ihm einige Zeit, auch
wenn das nicht leicht fiel, da er sehr undeutlich sprach und eindeutig Unmengen
von Haschisch konsumiert hatte. Zudem wusste ich bereits, was folgen würde. Das
Ganze läuft so: schon, wenn man sich dem Ghat
nähert, wird man in ein unverfängliches Gespräch verwickelt – erreicht man den
Verbrennungsplatz wird man an den Experten verwiesen. Das Ziel dieses
Unterfangens ist das Geleit zu einem Hospiz, wo man zu einer Spende genötigt
wird, die leider nicht den Sterbenden zugutekommt. Nachdem ich lange genug
seiner monotonen Schilderungen ohne jegliche Affektion gelauscht hatte, bat ich
ihn die Luft anzuhalten, weil ich den Ort in Ruhe betrachten wollte. Bei all
dem was er über Respekt erzählte, war er der Einzige, der sich respektlos
verhielt und aus dem Ort Gewinn schlug. Kurze Zeit später hatte er endlich
begriffen, dass mit mir kein Geld zu machen war.
Nachdem ich das Geschehen einige Zeit aus einiger
Entfernung betrachtet hatte, begab ich mich auf einen Balkon, von dem aus man
direkt auf die Totenfeuer blicken konnte. Die Angehörigen trugen den Leichnam
auf einer Bambusbahre zum Fluss, wo eine letzte Waschung mit dem Wasser des
heiligen Flusses vollzogen wurde. Der Leichnam war in glitzernde Seidentücher
gehüllt. Danach wurde er dem Feuer umgeben. Der älteste Sohn umrundete den Leichnam
ein letztes Mal und setzte ihn in Brand. Es dauert zwei bis drei Stunden, bis
das Feuer den Körper aufgezehrt hat. Nur Hüft- und Beckenknochen verbleiben.
Sie werden dem Ganges übergeben. An einem Punkt wenden sich die Angehörigen ab,
um der Seele die Möglichkeit zu geben, Moksha
zu erlangen. Solange man sich ihr mit Trauer zuwendet, ist sie auf dieser Erde
gefangen.
Es war mir unmöglich, aus den Gesichtern Emotionen
herauszulesen. Am ehesten noch Andacht. Aber keine Trauer, keine Erleichterung,
kein Glück über die Erlösung. Vielleicht geschieht das alles deutlich früher.
Die Haare werden von vielen Angehörigen als Zeichen der Trauer geschoren. Es
ist eine erhebliche Belastung für die meisten Familien, das Feuerholz für den
Scheiterhaufen zu kaufen.
Ich war erstaunt, wie wenig Emotion ich zunächst
empfand. Da stand ich nun, dicht gedrängt auf dem Balkon. Die Sadhus rauchten Haschisch durch das
Chillum. Die Hitze war deutlich spürbar, ganz leicht schien man auch den Geruch
verbrannten Fleisches wahrzunehmen. Die Holzkohlefeuer würden die ganze Nacht
durchbrennen. Je höher die Kaste des verstorbenen, desto näher am Fluss wird
der Leichnam verbrannt. Die meisten werden jedoch auf der Terrasse verbrannt,
die auch genutzt wird, wenn der Ganges während des Monsuns die Ghats teilweise
überschwemmt.
Mit der Zeit wurden meine Sinne offener für das
Leben an diesem Ort. Der Anblick von Zicklein, Kühen und Wasserbüffeln, die
sich ihren Weg durch die unwirkliche Szenerie bahnten und über die
bereitliegenden Sandelholzberge stiegen, stellte einen großen Kontrast dar. Sie
schienen keinerlei Notiz von der Morbidität dieses Ortes zu nehmen. Das Feuer
erzeugte einen ähnlich tranceartigen Effekt wie der Blick in ein schlichtes
Lagerfeuer. Die schwimmenden Kerzen auf dem Fluss zeugten von Leben. Auch ich
war mir meiner Lebendigkeit an diesem Ort besonders bewusst. Das Gefühl war dem
beim Besuch eines Friedhofs ähnlich, auch wenn die Eindrücke hier wesentlich
intensiver waren. Doch es stellte sich automatisch eine besondere Achtsamkeit
ein. Es war ein Ort, der große Würde ausstrahlte.
Möglicherweise waren all die Gedanken, die ich mir
über die Begegnung mit dem Tod in Varanasi gemacht hatte, schlimmer als das,
was ich vorfand. Möglicherweise hatten mich aber auch gerade diese Gedanken
darauf vorbereitet. In jedem Fall fühle ich mich erleichtert. Es berührt mich,
aber es ängstigt mich nicht. Vollständig kann ich meine eigenen Gefühle aber
nicht deuten. Es war ein tiefes Gefühl tief in mir vergraben, ich konnte nicht
entscheiden, welche Gestalt dieses Gefühl hatte.
Nachdem ich schon eine Stunde dort verbracht
hatte, wurde es doch noch ein wenig deutlicher. Ich fragte mich, was für ein
Leben die Menschen geführt haben mochten. Hatten sie ein erfülltes Leben? Was hinterließen
sie?
Und ich dachte an die Menschen, die ich im Laufe
meines Lebens verloren hatte, und hoffte, dass sie Erlösung gefunden hatten –
in welcher Form auch immer. Ich habe keine Angst vor meinem eigenen Tod. Sterben
mussten wir alle, die Frage war vielmehr ob es uns gelang wahrhaftig zu leben!
Carpe
diem
Ich lernte Stina kennen. Zuvor hatte ich zwei Monate
lang bis auf zwei kurze Unterhaltungen keinen Kontakt zu anderen Westlern
gesucht. Bisweilen war ich sehr einsam gewesen, doch ich hatte auch einige
bereichernde Bekanntschaften mit Einheimischen machen dürfen. Besonders in
Haridwar war ich sehr verwöhnt worden. Dennoch blieb es etwas anderes – beides
auf seine Weise sehr schön.
Nach der langen Pause eines wirklich intensiven
Gespräches (die Sprachbarriere limitierte die Variation der Unterhaltungen in
Haridwar erheblich) und der tiefgreifenden Erfahrungen am Manikarnika Ghat sorgten dafür, dass die Begegnung von Anfang an
besonders war. Sie war ausgesprochen offen zu mir, vertraute mir vom ersten
Moment an. Das alles öffnete auch mich noch weiter.
Seit ich mein erstes Buch veröffentlicht habe,
hatte ich nicht mehr so intensiv von der Vergangenheit gesprochen. Und es war
einer der seltenen Fälle, in der in meiner Erzählung tiefe Emotionen
mitschwangen – ich neige dazu, von diesen dunklen Zeiten sehr affektisoliert zu
sprechen. Nun legten wir alles auf den Tisch.
Von Anfang an war klar, dass sie einen Freund
hatte, der auf sie wartete und so war die Grenze dieser Begegnung eindeutig. Es
gab nicht den geringsten Grund, sich zu verstellen und das führte dazu, dass
wir uns ausgesprochen nahe kamen. Ich blieb ein Gentleman und sie war treu. Ich
kann nur von mir sprechen und die Gedanken sind frei. Doch es war eine
wunderbare Begegnung und wir schufen uns für einige Tage eine eigene Welt, in
der wir verweilten, wann immer wir wollten und unserer eigenen Wege gingen,
wenn es sich richtig anfühlte. Wir hatten schnell unser Traumhaus ausgesucht
und waren eifrig beschäftigt, die Einrichtung und den Verwendungszweck der
riesigen Räumlichkeiten zu planen. Außerdem spannen wir wilde
Verschwörungstheorien über die weltweite Machtübernahme der gentechnisch
erzeugten Pop-Band „handsome brothers“.
Aber das würde hier entschieden zu weit führen. In jedem Fall lachten wir
Tränen und ich kann mich nicht entsinnen mit besonders vielen Menschen so irre
Gespräche geführt zu haben.
Copyright für dieses und das folgende Bild: Stina |
Am Abend unseres Treffens liefen wir gemeinsam über die Ghats.
Dort sahen wir den relaxtesten Ziegenbock aller Zeiten:
Die Vorbereitungen für das Dev-Devali-Fest waren in vollem Gange:
Im Anschluß zeigte ich ihr die Verbrennungsstätte am Manikarnika Ghat und wir sprachen über die Menschen, die wir verloren hatten
und die Bedeutung des Todes.
Danach begaben wir uns in die verwinkelten Gassen
der Altstadt. Wer hier nicht verloren geht, hat ein Sicherheitsdenken, das ihm
nicht ermöglichen wird, seine Komfortzone zu verlassen. Es gibt an jeder Ecke
etwas Neues zu entdecken und die engen Gassen muten mittelalterlich an.
In
Indien existieren die verschiedenen Zeitepochen
nebeneinander her.
Es war eine Überraschung, dass in Varanasi zwei
Wochen nach Divali ein weiteres Fest zum Vollmond stattfindet, das nur hier
gefeiert wird - Dev-Divali. Die Muslime begehen zum gleichen Zeitpunkt Muharram und so mischen sich unter die
Hindus an den Ghats Muslime in
feierlichen Gewändern. Es war ein Glücksfall, dass wir dieses Fest gemeinsam
erleben durften. Trotz heftiger innerer Widerstände, gelang es mir, das Hotel
in den frühen Morgenstunden zu verlassen. Wir begaben uns zu den Ghats und
machten eine Bootfahrt – es war das erste Mal, dass ich die Ghats aus dieser
Perspektive betrachten konnte. Bereits zum Sonnenaufgang waren die Ghats
gesäumt mit tausenden von Pilgern, die im Ganges badeten.
Noch eindrucksvoller war, in den Abendstunden zu
den Ghats zurückzukehren, deren Stufen in den letzten Tagen einen frischen
Anstrich erhalten hatten und bereits aus allen Nähten zu platzen drohten. Wir
unternahmen eine weitere Bootsfahrt. Ich hatte meine Kamera vergessen und das
war gut so. Die Gefahr besteht immer, dass man zu viele Bilder macht und
vergisst zu schauen. Und das, was sich uns bot, war DAS Highlight in Varanasi.
Die Ghats waren von zehntausenden Kerzen illuminiert. Von außen schien die
Menschenmenge einer gewissen Ordnung zu folgen. Nachdem ich ein selbstloses
Gebet sowohl für die mir geliebten als auch die mir unbekannten Menschen
sprach, brachte ich dem Ganges eine schwimmende Kerze dar. Ich war eins mit
meiner Umgebung. Nichts trennte mich mehr. Ich war ergriffen und konnte sehen,
dass Stina ähnlich fühlte. Es brauchte keine Worte, um das zu erkennen.
Das Gefühl einer geordneten Menge, verschwand in
dem Moment, in dem wir uns unter die Menschen mischten. Wir schlugen uns bis
zum Main Ghat durch. Die Atmosphäre war unglaublich intensiv und ließ auch mich
leuchten. Doch es blieb eine Herausforderung durch die Menschenmassen zu
gelangen und gewaltige Knaller explodierten um uns herum. Raketen stiegen in
den Himmel auf. Die folgenden Bilder stammen von Stina. Dies ist, was wir
sahen:
Nachdem Stina gegangen war, war ich ein wenig traurig. Doch nur kurz. Und die besondere Stimmung hielt an. Vorgestern lief ich erneut an den Ghats vorbei und ging danach stundenlang in den Gassen der Altstadt verloren – nichts anderes war mein Ziel gewesen. Ich fühlte mich leicht, befreit und glücklich. Meine Stimme hatte den sanften Klang tiefen inneren Friedens, meine Bewegungen geschmeidig. Und das war, wie mich die Anderen sahen:
Varanasi wird in meinem Herzen bleiben und ich werde
zurückkehren. Es war sicherlich der richtige Zeitpunkt, zu kommen. Ich war
wirklich bereit gewesen!
"Und
manchmal, während wir so schmerzhaft reifen, dass wir beinahe daran sterben,
erhebt sich aus allem, was wir nicht begreifen, ein Gesicht und sieht uns
strahlend an" Rainer Maria Rilke
Weiterführende Links:
Danke.
AntwortenLöschenSagt Jen (auf dem Weg nach Varanasi)
Ich wünsche Euch, dass Ihr ähnlich schöne Erfahrungen machen dürft!
Löschen