Sonntag, 28. Februar 2016

Reisereportage: Paranoia Pushkar - Atemlos in Rajasthan



   


Delhi

Gerade hatte ich in den Bergen um Dharamsala und Manali etwas Abstand zu meinem alptraumartigen Einstand in Indien gewonnen. Doch nun musste ich wieder nach Delhi, um meine Reise nach Rajasthan fortzusetzen. Auf den letzten Kilometern Fahrt in die Stadt hinein, war mir mulmig zumute. Meine ersten Erfahrungen mit der Stadt steckten mir noch immer im Nacken und meine Laune wurde immer düsterer, je länger wir an endlosen Slums und grauen Industrieanlagen entlangfuhren. Immer wieder wähnte ich mich bereits in der Innenstadt, doch die Vorstädte und Industrieregionen sind von riesigem Ausmaß.
Schließlich angekommen, ließ ich mich auf einer Fahrradrikscha nach Paharganj fahren. Das Stadtviertel, das sich um die Main Bazar Road erstreckt, liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Main Bazar Road selbst ist eine kilometerlange Einkaufsstraße, in der man Alles findet. Direkt an der Straße und in zahllosen Nebenstraßen finden sich hunderte von Hotels – viele davon heruntergekommen, dafür aber sehr billig. Der Portier meines Hotels informierte mich gleich von einem Angebot für eine überteuerte Rajasthan-Reise. Diesmal ohne mich!  Ich wollte so schnell wie möglich wieder raus aus Delhi und den nächstmöglichen Zug nach Jaipur buchen.
Am Bahnhof wimmelte es von zwielichtigen Gestalten. Ihre Dreistigkeit machte mich sprachlos. Der erste wollte mich davon überzeugen, Touristen müssten sich vor einer Bahnfahrt am Conaught Place registrieren und könnten auch nur dort Tickets erstehen. Da hätte ich dann gleich noch eine Reise auf das Hausboot in Kaschmir mit meinen geliebten Freunden buchen können. Doch er versicherte mir, er handle aus reiner Menschenliebe und hatte die benötigten Formulare zur Hand. Kaum hatte ich ihn abgeschüttelt, tauchte der Nächste „Helfer“ auf, der mir weismachte, man dürfe den Bahnhof nicht ohne gültiges Ticket betreten. Als ich auch ihm nicht auf den Leim gegangen war, wollte mir ein anderer Mann einreden, dass das Tourist Office an diesem Tag geschlossen sei. Den Vogel schoss der ab, der behauptete, das Büro sei abgebrannt. Es fiel mir schwer zu fassen, wie skrupellos und professionell sie mich angelogen. Doch letztlich ließ ich mich nicht völlig verunsichern und erstand mein Ticket nach Jaipur.
In der Wartezeit bis zum Abend machte ich einen Abstecher nach Old Delhi. Es war ein Fest für die Netzhaut. Nie zuvor hatte ich solche Menschenmasse gesehen und das immerwährende Verkehrschaos war an Wahnsinn kaum zu überbieten! Autos, Rikschas, Motorroller, Ochsenkarren, berittene Elefanten, streunende Kühe und Fußgänger verursachen ein unbeschreibliches Chaos auf den Straßen. Es hat mich immer fasziniert, das dieses »System« funktioniert, ohne dass es alle zwei Sekunden einen Unfall gibt. Für den Uneingeweihten herrscht blanke Anarchie und es gehört eine große Portion Fatalismus dazu, sich keine Sorgen um die verbliebene Lebensdauer zu machen. 

 
Doch inzwischen empfand ich auch eine irre Freude, Teil dieses Chaos zu sein. Die Geräuschkulisse von allgegenwärtiger Musik, eine Mischung aus Hindipop und klassischer indischer Musik, dem endlosen Hupen (auf jedem Truck prangt die unnötige Aufforderung please horn!), den Tempelglocken und des Marktgefeilsches wirkte auf mich betörend, übermalt von den knallbunten Farben der Saris. Der Geruch war jedoch stark gewöhnungsbedürftig, eine Mischung aus widerlichem Gestank nach Fäkalien, Schweiß und Abgasen und gleichzeitigen Wohlgerüchen von Gewürzen und Sandelholz stiegen in meine Nase.
Oft konnte ich nur schwer nachvollziehen, dass Menschen unter solchen Bedingungen leben können. Doch hier käme kaum einer auf die Idee, sich über die Zustände zu beschweren. Eine imponierende Gleichmut und Gelassenheit scheint den Indern zu Eigen. In diesen Momenten spürte ich, wie weit ich mich von allem Bekannten entfernt hatte. Ich hatte meine Fassung längst aufgegeben. Indien sprengte mit seiner Reizüberflutung meine Vorstellungskraft fortwährend.

Zurück in Paharganj traf ich Craig wieder, den ich beim Ticketkauf kennengelernt hatte und der ebenfalls nach Jaipur fahren würde. Ich war froh, nicht schon wieder alleine unterwegs zu sein.
Nun saß ich also in der indischen Eisenbahn auf dem Weg von Delhi nach Jaipur. In Windeseile kamen die Einheimischen ins Gespräch mit mir. Die Neugier an meiner Person war riesig. Sie fragten mich, warum ich nach Indien gekommen war und was ich hier suchte; warum ich in meinem Alter noch nicht verheiratet sei und warum ich mich soweit von meiner Familie und meinen Freunden entfernt hatte. Eine Reise, um andere Kulturen kennen zu lernen, lag für die Meisten außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Mehr noch – bei der Bedeutung von Familie in der indischen Gesellschaft – erschien es ihnen verrückt, so weit von zuhause entfernt alleine durch die Gegend zu ziehen. Das minderte ihr Interesse nicht und sie sagten, sie seien stolz, dass ich ihr Land bereiste.
Fasziniert betrachtete ich das Treiben der fliegenden Händler, die Mahlzeiten, Snacks, Tee, Kaffee, Hygieneprodukte, sinnlosen Kitsch, Magazine oder Bücher im Angebot hatten. Einige zogen durch die Abteile, andere Geschäfte wurden in Sekundenschnelle durch die Zugfenster abgewickelt. Der Blick aus dem Fenster bereitete mir oft Unbehagen. Viele Menschen hatten sich am Rande der Eisenbahngleise angesiedelt und kämpften dort um eine bescheidene Existenz.


Jaipur

Am Bahnhof von Jaipur wurden wir von zwei jungen Rikschafahrern angesprochen. Saddam und Raja waren uns behilflich, ein billiges Hotel zu finden. Wir luden sie anschließend zu einem Bier ein. Sie erklärten uns, sie wollten kein Geld für ihre Dienste, sondern sie seien nur daran interessiert, ausländische Freunde finden.
Craig fuhr am nächsten Morgen nach Pushkar weiter, um den Camel Fair, einen gigantischen Kamelmarkt zu sehen. In seiner Heimat Australien verdiente er sein Geld mit Kameltouren in der Nähe von Perth und er freute sich wie ein Kind auf das Fest. Ich beschloss bald nachzukommen, um mir ein eigenes Bild zu machen.
Die beiden jungen Männer tauchten wieder auf und ich vereinbarte mit ihnen eine Fahrt zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Besonders in Rajasthan sind viele Straßenabschnitte in erschreckendem Zustand: Das Abwasser läuft überirdisch am Rande der Straße entlang, bei starkem Regen laufen die Kanäle über. 


Die Einheimischen scheinen die chaotischen Straßenverhältnisse gar nicht wahrzunehmen. Neben sehr baufälligen Gebäuden erinnern ältere Prunkbauten an glanzvolle Zeiten. 


Das erzeugt einen spannenden, aber auch verstörenden Kontrast. Unwillkürlich fragte ich mich, wie es möglich war, dem offensichtlichen Zerfall der Bausubstanz zuzusehen. Inneres Gleichgewicht schien über reinen Äußerlichkeiten zu stehen, die dadurch keine größere Bedeutung besaßen. Gerade diese Einstellung sprach mich an. In der westlichen Kultur erlebte ich es oft umgekehrt. Es kam mir so vor, als sei es wichtiger, den äußeren Schein zu wahren, als sich mit der eigenen Person und seinem Wirken auseinander zu setzen. Doch auch in Indien wird Materialismus immer wichtiger.
Die touristisch bedeutsamen Orte ziehen Schlepper und Betrüger an – was dazu führt, dass man ihre Zahl leicht überschätzt neben all den ehrwürdigen und freundlichen Menschen. Leider waren mit den einfachen Menschen Gespräche oft nur rudimentär möglich aufgrund ihrer eingeschränkten Englischkenntnisse und meinem Scheitern, mehr als ein paar wenige Worte Hindi aufzuschnappen.
Zuallererst besichtigten wir den „Monkey Temple“. Er liegt auf einer kleinen Anhöhe und die auf ihm lebenden Affen werden als heilig verehrt. Von oben bot sich ein umfassender Blick auf die Stadt. Danach steuerten wir die »rosarote Stadt« im Zentrum Jaipurs an. Wahrzeichen der Stadt ist der „Palast der Winde“ – ein Teil des Stadtpalastes. Er besteht heute nur noch aus einer Fassade mit kleinen Balkons und Erkern. Der Bau diente den Frauen des Harems dazu, das Leben auf den Straßen zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden – denn das war ihnen verboten.
Die Innenstadt schien mir ein einziger großer Bazar zu sein und die Händler waren selbst für indische Verhältnisse sehr aufdringlich. Das Verkehrsaufkommen ist enorm. Jaipur hat 2,5 Millionen Einwohner und ist als Handels- und Wirtschaftszentrum die wohlhabendste Stadt Rajasthans. Gleichzeitig zählt sie zu den fünfundzwanzig am schnellsten wachsenden Städten der Welt und als einer der lebendigsten Handelsplätze Asiens.
Raja und Saddam wollten mir ihren Onkel vorstellen. Ich hatte ein ungutes Gefühl, doch ich wollte ihnen vertrauen. Außerdem fiel es mir sehr schwer, mich aus konfrontativen Situationen herauszuwinden. Die endlose Fahrt durch verwinkelte Straßen und immer ärmlichere Viertel erhöhte das Grimmen in meinem Bauch. Wir fuhren weit außerhalb der touristischen Gebiete von Jaipur. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wo ich mich befand. Schließlich erreichten wir wieder ein wohlhabenderes Viertel. Der »Onkel«, Krishna, arbeitete in einem Juwelierladen. Ich blickte in seine wachen und intelligenten Augen und nachdem wir einige Sätze ausgetauscht hatten, war ich mir sicher, dass er mich einwickeln wollte. Krishna machte  einen sehr selbstbewussten Eindruck und ich mahnte mich zur Vorsicht. Er sagte zu mir, er würde nicht jeden zu sich einladen, aber ich sei herzlich aufgefordert, mit ihm zu kommen und mit ihm gemeinsam zu essen. Die Neugier war stärker als das Gefühl, dass ich mich in eine ungemütliche Situation begab, und ich willigte ein. Zumal es schwer gewesen wäre, die Einladung abzulehnen, ohne beleidigend zu sein. Mir war sehr wichtig, Niemanden vor den Kopf zu stoßen. Ich zahlte noch immer Lehrgeld für meine Gutgläubigkeit und ich hatte immer noch kein Gefühl dafür entwickelt, die Menschen zu entdecken, dir mir wirklich gut taten.
Krishna brachte mich in ein Haus, in dem er ein Apartment nutzte, dass von einem holländischen Pärchen bewohnt wurde. Es war offensichtlich, dass dieses Pärchen unter seinem Einfluss stand. Ich hatte den Eindruck, sie seien Junkies.
Er begann, mir sehr durchdachte Fragen über meinen Aufenthalt in Indien zu stellen: Warum ich gekommen sei, wie ich Indien erlebt hatte und was mir für meine Zukunft vorschwebte. Ich trank mein Bier möglichst langsam, weil mir klar war: Das dicke Ende kommt noch. Die Fragen steuerten auf ein bestimmtes Ziel zu. Zwei grimmige Männer kamen hinzu. Dann begann Krishna von Geschäften zu reden. Er habe einige Juweliergeschäfte in Europa und suche jemanden, dem er vertrauen könne und der für ihn Juwelen außer Landes bringen könnte. Sein Wunsch sei, eine langfristige Zusammenarbeit zu entwickeln. Der Transport über die Grenze sei kein Problem. So könne ein Tourist Waren im Wert von 10 000 € ausführen – in Wirklichkeit sind es weniger als 500 €. In Europa müsse ich sie nur einem Kontaktmann übergeben. Dafür würde ich eine saftige Prämie einstecken.
Sehr freundlich dankte ich ihm für sein großzügiges Angebot, versicherte ihm jedoch: »I am not a business man and I will never be!« Ich bot ihm an, für das spendierte Bier zu zahlen, das Essen war zu diesem Zeitpunkt ohnehin kein Thema mehr. Er gab nicht gleich auf, sondern versuchte weiter, mir unser Geschäft schmackhaft zu machen. Irgendwann gab er sich jedoch zufrieden, er spürte, dass er bei mir nur mit Geduld weiterkam.
Wie ich später erfuhr, handelt es sich bei dieser Betrügerei um einen Dauerbrenner in Rajasthan. Besonders in Jaipur, dem Zentrum der Edelsteinindustrie Indiens. Das System funktioniert seit Jahrzehnten so: Der »Freund« – häufig ein Rikschafahrer – bringt die Fahrgäste unter einem Vorwand in einen Juwelierladen und bekommt dafür bereits eine Provision, die sich je nach Grad des eingefädelten Deals weiter steigern kann. Nun hängt alles am Geschick des Verkäufers. Er versucht, die Touristen zur Teilnahme an einem angeblich fabelhaften Geschäft zu animieren. Es werden phantastische Gewinne von mehreren hundert Prozent versprochen. Das Geschäft wird als völlig risikolos dargestellt und zur Untermauerung werden dem Käufer Adressen und gerne auch Visitenkarten von Händlern in dessen Heimat genannt, die die Steine zum doppelten Preis sofort kaufen würden. Es wird einem vorgegaukelt, der indische Lieferant und sein europäischer Kunde bräuchten nur einen Kurier, der die Ware gegen eine hohe Provision durch den Zoll transportiert, um die Gebühren zu umgehen. Der Schock erwartet den Betrogenen dann spätestens in Europa, wenn er feststellt, dass die Qualität seiner Ware nicht den Versprechungen entspricht. Ich hatte für meinen Teil bereits meine Erfahrungen in Kaschmir gemacht und geldgierig war ich glücklicherweise noch nie.
Und die Masche erscheint mir noch verhältnismäßig human. In Agra gab es längere Zeit die miese Abzocke, einen Gast in einem Restaurant absichtlich zu vergiften. Der plötzlich auftauchende „Helfer“ sorgte dafür, dass sich der Zustand auch im Krankenhaus nicht besserte, sondern erst dann, wenn der Tourist ausgemolken war.
Da ich die unbegründete Sorge hatte, in Pushkar wegen dem Festival kein Zimmer zu bekommen, nahm ich jedoch seine Hotelempfehlung an; es hatte Aufnahme im Lonely Planet gefunden. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich darauf etwas gab. Um grundlegende Informationen über einen Ort zu erhalten, mochte der Reiseführer ganz hilfreich sein. Doch die Bewertungen waren selten etwas wert. Zu viele Menschen reisten damit, so dass die Hotels und Restaurants oft überfüllt waren und man sich einen Dreck darum scherte, ob das Hotel verkam. Die Empfehlung allein brachte genug Touristen.
Nachdem meine Reise in Indien so schwierig begonnen hatte, war ich weit von meinem inneren Gleichgewicht entfernt und hatte oft das Gefühl, nur auf das reagieren zu können, was ohnehin mit mir passierte. Es war als folgte ich einem Befehl, den ich mir selbst auferlegt hatte – nämlich um jeden Preis durchzuhalten – ganz gleich, was auch geschehen mochte. Meine »Freunde« – die jungen Rikschafahrer – wollten jetzt doch Geld, nachdem die Nummer mit ihrem Onkel nicht zum erhofften Erfolg geführt hatte. So war ich ständig in Verhandlungen, die ich nicht führen wollte, anstatt mich deutlich von der Übergriffigkeit der Nepper zu distanzieren. 


Pushkar Festival


Von Jaipur reiste ich im Bus weiter nach Pushkar, wo der Kamelmarkt stattfand. Innerhalb einer Woche wechseln zehntausende Kamele den Besitzer. In den letzten Jahren ist das Spektakel auch unter Touristen immer populärer geworden.
Das Hotel, das mir Krishna empfohlen hatte machte erst mal einen guten Eindruck. Dort traf ich Frank – einen Finnen, mit dem ich mich auf Anhieb gut verstand. Er war schon länger in Pushkar und er nahm mich gleich mit, so dass ich mir ein erstes Bild von dem bunten Treiben in der Stadt verschaffen konnte. Die Geschäfte und Straßen in der Stadt waren reich und bunt dekoriert. 150 000 Menschen waren auf den Straßen unterwegs, die eigentlich auf die knapp 20 000 Menschen ausgelegt sind, die normalerweise in der Kleinstadt am Rande der Wüste leben. Während der Feierlichkeiten ist Pushkar nichts für Menschen, die unter Platzangst leiden. Auch ich fühlte mich sehr beengt. Alles wurde immer fremder. Rajasthan wirkte nach dem muslimischen Kaschmir und dem tibetisch geprägten Dharamsala sehr orientalisch. Einerseits genoss ich diese wechselnden Impressionen sehr – doch mir ging alles zu schnell und ich fand zu wenig Zeit zum Durchatmen und das Erlebte zu verarbeiten.


In und um Pushkar sammeln sich jedes Jahr die Kamelbesitzer und deren Familien. Dazu gesellen sich unzählige Neugierige, Schausteller, Kleinkünstler, Züchter, Gaukler, Händler, Nomaden, Schlangenbeschwörer, einheimische und ausländische Fotojäger, Händler, Tänzer, Musiker und unzählige Andere, die dem Ruf des Festes nach Pushkar gefolgt waren. Auch das indische Fernsehen war vertreten. Abends wurden traditionelle Tänze aufgeführt und es gab verschiedene Wettbewerbe. Besonders skurril war der Wettbewerb um den schönsten Bart. 

 
Nach sieben Tagen würden die Händler wieder in ihre Heimat in Indien, Pakistan oder den Golfstaaten ziehen und in Pushkar würde wieder Frieden einkehren.
Für mich war der Aufenthalt eine bizarre Erfahrung. Ich fühlte mich, als wäre ich auf einem anderen Planeten gelandet. Es fiel mir schwer, mich auf das Fest einlassen und blieb distanzierter Beobachter.
In diesem Jahr war das Festival kleiner als gewöhnlich, da aufgrund der allgemeinen Dürre in Rajasthan nicht genug Wasser zum Tränken der Tiere zur Verfügung stand.
Pushkar ist eine besondere Stadt für die Hindus. Gläubige pilgern aus ganz Indien hierher, um sich im heiligen Pushkarsee zu baden. Der Legende zufolge ließ der Schöpfergott Brahma ein Lotusblatt auf die Erde fallen. An der Stelle, an der die drei Lotusblüten zu Boden fielen, entsprang mitten in der Wüste Wasser. Pushkar (Sanskrit für Lotusblüte) war entstanden. Der See ist bis heute eine von Indiens heiligsten Stätten. Besonders im Oktober/November, während einer Glück verheißenden Vollmondphase, soll ein Bad die Seele von allen Verfehlungen reinigen und die Pilger strömen in die Stadt. Gleichzeitig findet auch der Kamelmarkt statt.
In diesem Jahr war der See völlig ausgetrocknet und man hatte für die Pilger einen Swimmingpool aus Plastik im trockenen See aufgestellt, was äußerst merkwürdig auf mich wirkte, aber von den Pilgern offensichtlich akzeptiert wurde.
Sadhus (heilige Pilger) geben den Touristen gegen eine kleine Spende Lotusblüten, die man in den See wirft, was Glück verheißend ist. Wenn man sich bedrängen lässt, kann man sich auch zu einer größeren Spende genötigt fühlen.


Ich ließ mich von Frank überreden, einen der berühmt-berüchtigten Bhang lassi zu probieren. Dies ist ein Getränk aus den getrockneten Blättern und kleinen Blütenständen der Cannabis-Pflanze. Die Pflanzenteile werden zu einer knetartigen Masse verdickt und anschließend in Milch zerstoßen. In Jaisalmer und Varanasi gibt es sogar von der Regierung autorisierte Shops, die Bhang verkaufen dürfen. Mir war jedoch nicht bekannt, dass speziell der Bhang Lassi zu extremer Paranoia führen kann, was auch daran liegt, dass manchmal Stechapfel beigemischt wird. Und wie hieß es so schön bei Fear and Loathing in Las Vegas: »Das war kein guter Ort für psychedelische Drogen…«
Wenn ich mir die Originalzeilen von diesem Abend so anschaue, lesen sie sich stellenweise wie der Bericht eines Wahnsinnigen, der aus dem Gefängnis ausbrechen will und sehen auch so aus. Als die Wirkung einsetzte, steigerte sich die empfundene Reizüberflutung noch um ein Vielfaches. Viel zu viele Eindrücke prasselten auf mich ein und ich konnte sie unter dem Einfluss der Droge nicht mehr verarbeiten. Mich überkam massive Orientierungslosigkeit. Da Frank gut und gerne das doppelte Körpergewicht auf die Waage brachte, war er aufgrund der langsameren Metabolisierung noch recht guter Stimmung, als ich bereits tief in Paranoia versunken war. Ich fühlte mich, als hätte ich keinen festen Boden mehr unter den Füßen. Frank amüsierte sich bei unserem Gang durch die hoffnungslos überfüllte Stadt herrlich über mich und meinen panischen Gesichtsausdruck und kriegte sich kaum ein vor Lachen. Ich empfand die Situation als weitaus weniger amüsant. Und auch ihm gelang es nicht mehr, den Weg zu unserem Hotel zu finden. Immer wieder meinte er, den Weg wieder zu erkennen, um dann laut und schallend lachend zu verkünden, er habe nicht die geringste Ahnung, wo wir uns befinden könnten und es sei ihm auch herzlich egal. Ich wollte nur zurück ins Hotel – in eine sichere Umgebung. Bettler zerrten an meinem Arm, Händler bedrängten mich und Gypsies schmierten mir ungefragt eine Mischung aus Kameldung und Hennafarbe auf die Hände, um darauf Mandalas zu malen, was sie erst nach heftigem Protest unterließen. Ich fühlte mich dermaßen unwohl, als würde ich in einen Trichter von Anarchie und Wahnsinn gesaugt. Zu allem Überfluss fiel auch noch der Strom aus, die Lichter erloschen und mein inneres Chaos war perfekt. Ich fühlte mich völlig verloren.
Als wir gar nicht mehr weiter wussten, teilten wir uns eine Fahrradrikscha, um endlich wieder zurück zu finden. Der arme Fahrer! Mit fast 200 kg auf der Rückbank musste der Unglückliche uns den Berg raufradeln. Er tat mir richtig leid und ich schämte mich dafür, seine Dienste in Anspruch nehmen zu müssen. Ich war so glücklich, endlich wieder beim Hotel anzukommen, dass ich ihm ein üppiges Trinkgeld in die Hand drückte. Ich steuerte direkt mein Zimmer an und verließ es bis zum nächsten Tag nicht mehr. Ich schrieb noch ein paar wirre Zeilen und verputzte unvorsichtigerweise Erdnüsse in meinem Bett. Am Morgen erwachte ich in einem Meer von Ameisen, die ich mit den Schalen angelockt hatte.
Frank schaffte es nach seinem Bericht noch auf die Dachterrasse und konnte sich knapp zwei Stunden nicht mehr bewegen und lachte ohne Pause.
Frank war ohnehin ein ulkiger Bursche. Er war sich sicher, dass ich mich für immer an seine kranke Lache erinnern würde. Er war lange harter Trinker und Kiffer gewesen. Irgendwann hat er sich mit einem mächtigen Rocker angelegt, weil er mal wieder seine große Klappe nicht halten konnte. Dabei hatte er so derbe Schläge abgekriegt, dass er es fast nicht überlebt hätte. Er sprach von »brain damage« und das war auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Jedenfalls war das Gute daran, dass er das Trinken danach aufgegeben hat und jetzt nur noch kiffte wie blöd.
Auf dem Rückweg waren wir nochmal bei der Teestube, wo wir am Tag zuvor den Bhang lassi zu uns genommen hatten. Ich wollte nachfragen, was uns der Besitzer da kredenzt hatte. Nachdem er uns grinsend den riesen Bollen Bhang zeigte, wunderte mich gar nichts mehr. Der Sohn des Besitzers meinte, er hätte wesentlich weniger verwendet, sein Vater habe aber gemeint, wir würden das schon vertragen. Der hatte gut reden, er trank nach eigener Aussage seit Jahrzehnten das Zeug jeden Tag und ein Blick in seine blutroten Augen bestätigte das hinreichend. Frank gönnte sich gleich noch einen dieser Lassis, mir war die Lust gründlich vergangen.
In unserem Gasthaus versammelten sich jeden Abend die Besitzer verschiedener Gasthäusern Rajasthans auf dem roof top. Sie waren mir ausgesprochen unangenehm. Was für schmierige, selbstsüchtige und arrogante Typen! Jeden Abend betranken sie sich, führten sich wie die Schweine auf und machten den jungen Touristinnen Avancen. Später begriff ich, dass sie vor allem hier waren, um Touristen in ihre jeweiligen Hotels zu lotsen. Einer der Gasthausbesitzer, Suwai, erschien mir im Gegensatz zu den Anderen recht sympathisch und ich hatte versprochen, mir sein Hotel Desert in Jaisalmer anzusehen, das mit äußerst günstigen Preisen lockte. Allerdings warnte er mich: Es gäbe Leute, die mich vor seinem Hotel warnen würden. Das entspränge ihrem Neid auf sein erfolgreiches Unternehmen.
Er hatte nicht zu viel versprochen. Als ich das Büro des Busunternehmens erreichte, mit dem ich nach Jaisalmer weiterreisen wollte, tauchte sofort ein Fremder auf und warnte mich eindrücklich davor, im Hotel Desert abzusteigen. Dabei hatte ich mein Ziel überhaupt nicht erwähnt. Das ist der Stoff, aus dem Paranoia gesponnen ist!
Gelegentlich hatte ich den Eindruck, dass Indien mich mit Haut und Haaren verschlingen würde. Es gab kaum Privatsphäre. Eigentlich hätte ich mir die Zeit nehmen müssen, um einen sicheren und angenehmen Ort zu finden, wo ich wieder etwas zu mir fand. Doch ich fühlte mich getrieben und wollte vorankommen. Manchmal fürchtete ich in diesen Tagen, ich würde verrückt werden und hatte keinen blassen Schimmer, wem ich wohl noch vertrauen konnte. Das kostete unheimlich viel Kraft. Aber wie schrieb ein guter Freund so schön:

Wenn du das Gefühl hast, alles fliegt dir um die Ohren und eine fremde Kraft, die sich deiner Kontrolle längst entzogen hat, spült dich durch das Land und die Leute, dann halte kurz inne. Genieße diese Kraft, atme sie, schmecke sie, das ist der Zauber, das ist das, was dich süchtig macht und was du vermissen wirst. Chaos und Kreativität, Unberechenbarkeit in jeder Hinsicht. Versuche das zu durchdringen und zu verstehen.

Das gelang mir nur selten. Ich war vollauf damit beschäftigt, grenzparanoid durch das Land zu stolpern. Meine lang ersehnte Reise war zu einem einsamen Durchhaltemarathon verkommen. Nur mein Stolz hatte mich davon abgehalten, die Reise abzubrechen. Mir waren dunkle Schatten aus meiner Vergangenheit wiederbegegnet. Es war mir nicht gelungen, mich abzugrenzen. Doch trotz und sogar inmitten katastrophaler Erfahrungen in einem Land, das mich ständig überforderte, hatte ich eine Liebe zu den Menschen und dem unbeschreiblichen Wahnsinn um mich herum entwickelt. Ich spürte, dass mich diese instinktive, scheinbar absurde Liebe nie wieder loslassen würde. Die abgrundtiefen Kontraste hatten mich angezogen und abgestoßen, die Menschen verwirrt und begeistert, die bittere Armut erschüttert und die Hoffnung gerührt. Die offensichtlichen Ungerechtigkeiten waren für mich schwer auszuhalten. Das Kastensystem ist längst verboten, aber es wirkt nach. Noch immer werden Menschen brutal ausgebeutet und schikaniert. Die Korruption stinkt zum Himmel. Die hygienischen Bedingungen für die Armen sind oft katastrophal und das Bildungssystem bietet kaum Aufstiegschancen. Doch an gleicher Stelle erlebte ich Gastfreundschaft, Güte, unbändigen Lebensmut und eine unglaubliche Vielfalt verschiedener Religionsgruppen und Völker. Das hatte in der Vergangenheit immer wieder zu fürchterlichen Pogromen geführt und doch muss man staunen, in welch relativem Frieden und Koexistenz so unterschiedliche Menschen selbstverständlich miteinander leben. Indien ist ein riesiger Schmelztiegel. Das Chaos einer dauerhaften Reizüberflutung für alle Sinne hatte mich unter sich begraben, ausgespuckt und dann wieder zu einem schelmischen Grinsen verführt.
Das Land war so ambivalent wie ich selbst und hielt mir ständig den Spiegel vor. Ich hatte mich manchmal gefühlt, als wäre ich in einen Sog geraten, der mich in die Tiefe zu ziehen drohte und doch unwiderstehlich war. Der Sog war zu schnell, zu mächtig, er machte mir Angst, aber er eröffnete mir auch unbekannte Welten. Dieses ursprüngliche, unbändige Leben mit all seiner Wucht war etwas, was mich für immer gefangen nehmen sollte. Diese Kraft vermisste ich nach meiner Rückkehr und die Ordnung und Stille in unseren Breiten kam mir dann wie der Tod vor.

Dennoch waren die Mails von Freunden und Familie in diesen Tagen sehr wichtig und haben mir immer wieder Kraft gegeben. Sie waren meine einzige Brücke zu meinem alten Leben.



Jaisalmer


 Es folgte die nächste Fahrt in einem dieser herrlichen indischen Busse, die in Europa vor 30 Jahren ausgemustert worden wären. Sie machten in aller Regel keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Über den Sitzplätzen gibt es einige Boxen, in denen man sich ausstrecken und schlafen kann. Ich reiste fast immer nachts, um Zeit und Geld zu sparen. Nun hatte ich zum ersten Mal das zweifelhafte Vergnügen, in so einem »Sleeper« zu reisen. Für mich war die Liegefläche jedes Mal ein paar Zentimeter zu kurz, so dass ich mich nicht ganz ausstrecken konnte. Doch es war mir immer noch deutlich lieber, als die ganze Nacht zu sitzen. Ausnahmsweise existierte hier ein Vorhang zum Flur des Busses, so dass mich keiner sehen konnte. Diese Freiheit nutzte ich dazu, bei weit geöffnetem Fenster einen Joint zu rauchen. Aus dem Fenster konnte ich bereits die Thar-Wüste sehen.
Mir gefiel der erhabene Blick aus dem »zweiten Stock«. Da die Busse in jeder noch so kleinen Ortschaft halten, um Menschen einzusammeln und auszuspucken oder für kurze Pausen zum Essen, bekommt man Einblicke in den Alltag der Menschen. Jeder Millimeter im Bus wird genutzt. Neben tonnenweise Waren sind auch lebendige Hühner an Bord. So bessern die Busfahrer ihr mickriges Gehalt auf, auch die Reisenden bringen so Begehrtes aus der Stadt in ihre Dörfer. Ein Belastungstest für jede Achse. Oft war ich der einzige Ausländer. Das war für mich ein besonderer Reiz.
Kaum in Jaisalmer angekommen, ging es mit dem Wahnsinn weiter. Kurz vor der Ankunft rannte ein Mann hektisch durch den Bus, klopfte an jede Scheibe, und bläffte hinein: »Don’t trust the people from Hotel Desert«. In diesem Moment fragte ich mich ob die Gauner im Hotel Desert sitzen oder die sind, die vor ihnen warnen. Oder waren alle Gauner?
Jedenfalls wurde ich am Busbahnhof bereits von einem Angestellten des Hotel Desert erwartet und fuhr mit gemischten Gefühlen zum Hotel. In diesem Fall war es mir lieber, als mich mit der aggressiven Meute auseinanderzusetzen, die sich am Busbahnhof versammelt hatte, um einen Schnitt zu machen. Das Einzige was mich wunderte war, dass man mir nicht das Gepäck aus der Hand riss und mich forttrug.
Jaisalmer ist eine Stadt inmitten der Wüste Thar, die sich bis ins 100 km entfernte Pakistan zieht.
Das besondere an Jaisalmer ist das Fort. Es wurde 1156 vom Fürsten Rawal Jaisal auf einem 120 Meter langen und 500 Meter breiten Felsen aus gelbbraunem Sandstein erbaut. Daher wird Jaisalmer auch als »die goldene Stadt« bezeichnet.
Das »Hotel Desert« befand sich direkt in einer der mächtigen Mauern des Forts. Aus meinem Fenster konnte ich auf die umliegende Stadt und in die Wüste sehen.


Die Architektur von Jaisalmer ist überwältigend. Besonders die Residenz der Fürstenfamilie, die später zu Maharadscha-Ehren kam, die filigranen Jaina-Tempel und die Havelis (Kaufmannshäuser) sind überwältigend. 


Jaisalmer war einst eine wichtige Station auf der Seidenstraße und gründete darauf ihren Reichtum. Die Karawanen legten hier einen Stopp auf der Überlandroute zwischen Zentralasien und Delhi ein und Jaisalmer war ein wichtiger Umschlagplatz für Seide, Opium und Gewürze. Die Stadt wirkt wie eine »Fata Morgana« – die Märchen aus »Tausend und eine Nacht« werden lebendig. Früher spielte sich nur Leben innerhalb seiner Mauern ab. Heute wuchert die moderne Stadt auch außerhalb des alten Festungsrings. Doch noch immer leben 2000 Menschen innerhalb der Fortmauern. 70 % stammen von den Brahmanen (der höchsten indischen Kaste) und 30 % von den Rajputen (der Kriegerkaste) ab. Daran wird deutlich, dass das Kastensystems und die Abstammung noch immer eine Rolle spielen – vor allem in den ländlichen Regionen.
In ihrer Blütezeit war die Stadt kaum einzunehmen. 


Der Haupteingang ist mit einer 180-Grad-Kurve versehen, so dass Elefanten den Befestigungsring nicht durchschlagen konnten. Auf der Mauer liegen riesige runde Steine, die man von den Mauern auf Angreifer gestürzt hat. Auch Kanonen zeugen von der alten Stärke.
Selbst die Armee der muslimischen Sultane Delhis konnte Jaisalmer erst 1298 nach siebenjähriger Belagerung erstmals einnehmen. Doch als die Niederlage feststand, ritten die Männer aus der Stadt in den sicheren Tod gegen die zahlenmäßig deutlich überlegene Belagerungsarmee. Die Frauen begingen rituellen Selbstmord (Johar), indem sie sich von den Mauern der Paläste in entzündete Scheiterhaufen stürzten. Dadurch konnten sich die siegreichen Truppen mitten in der Wüste nicht weiter versorgen und mussten die Besetzung der Stadt kurze Zeit später aufgeben. Nach weiteren Belagerungen wurden die Herrscher über Jaisalmer zwar ein Vasallenstaat Delhis, doch niemals vollständig unterworfen.
Erst nach dem Aufstieg der Häfen von Surat und Bombay büßte die Stadt ihre Stellung ein. Die Überlandroute verlor an Bedeutung, weil sich ein großer Teil des Warentransports auf den Schiffsverkehr verlagerte. Die Teilung der britischen Kolonie in Indien und Pakistan nahm der Stadt endgültig ihre wichtige Rolle als Handelsstadt. Durch die scharf bewachte Grenze wurde die Route von Pakistan nach Indien vollständig gekappt. Der einzige Grenzübergang liegt hunderte Kilometer weiter nördlich bei Amritsar. Keine hundert Kilometer von Jaisalmer entfernt, zieht sich die Grenze hunderte Kilometer durch die Wüste. Schmuggel hat immer noch Bedeutung. Doch im Wesentlichen prägt heute der Tourismus die Stadt. Ähnlich wichtig ist die strategische Lage als Grenzposten für das Militär. Auch der Flughafen dient inzwischen nur noch militärischen Zwecken.

Nachdem drei sympathische Reisende im Hotel eingecheckt hatten, beschloss ich gemeinsam mit ihnen auf Kamelsafari zu gehen. Eine Übernachtung in der Wüste wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Wir fuhren mit dem Jeep 60 km bis in den Desert National Park. Hier verwandelte sich die Stein- in eine Sandwüste. Wir besichtigten zunächst ein kleines Wüstendorf. Dann ritten wir über eine Stunde auf Kamelen, um den Sonnenuntergang in der Wüste zu erleben. 


Wer schon einmal auf einem Kamel geritten ist, weiß: Das ist kein Vergnügen, sondern ein Härtetest für das Knochengerüst. Manche werden sogar seekrank von dem schaukelnden Gang der Tiere – nicht umsonst nennt man sie »Wüstenschiffe«. Anschließend gab es ein Mahl und unsere drei einheimischen Begleiter spielten orientalische Klänge auf Trommeln und einem einfachen Seiteninstrument. Beeindruckt hat mich dabei einer meiner Begleiter – ein Franzose. Durch Reisen in der algerischen Wüste, der seine Vorfahren entstammten, kannte Akim die Wüste gut. Bei einem Motorradunfall hatte er vor Jahren ein Bein verloren. Doch er hatte sich zurück ins Leben gekämpft und ließ sich nicht vom individuellen Reisen in die entlegensten Länder abbringen. Nun tanzte er ausgelassen auf einem Bein. Ich bewunderte, welche Kraft sein Lebensmut hatte.
Wir übernachteten auf Decken direkt auf dem Wüstenboden und waren von einer himmlischen Ruhe umgeben. Ich sog sie tief in mich ein. Es war Vollmond und bei meiner kleinen Wanderung über den Sand fühlte ich mich, als würde ich über den Mond laufen. Nur war ich nicht schwerelos. Im Gegenteil – es war ziemlich anstrengend zu laufen, während ich immer tiefer in den Boden einsank. Durch die Helligkeit des Mondes war die ganze Szenerie fast taghell erleuchtet. Ich fühlte mich von der Weite der Wüste magisch angezogen. In meinen neu erworbenen weißen Gewändern und mit dem inzwischen langen Bart sah ich auch aus wie ein Wüstensohn.


Seit 1986 wird Wasser über den 500 Kilometer langen Rajasthan-Kanal vom Punjab aus nach Jaisalmer geleitet. Erst dadurch wurde mehr landwirtschaftliche Nutzung möglich. Mit der Bewässerung verzehnfachte sich die Bevölkerung und die Thar gilt als das am dichtesten bevölkerte Wüstengebiet weltweit. Doch die Wüstenbildung schreit voran. Durch Abholzung und Überweidung können die Böden immer weniger Wasser speichern und der Grundwasserspiegel sinkt immer weiter. Das ist hier besonders verheerend, da durch den Salzgehalt des Grundwassers keine Oasen existieren. Bei meinem Besuch war der See außerhalb des Forts vollständig ausgetrocknet. Die Dürren häufen sich immer mehr.

Am nächsten Morgen beschloss ich, das Hotel zu wechseln, um der Vetternwirtschaft zu entkommen, in der ich mich seit Jaipur bewegte. Bei meinem Auszug wollte mein »Freund« Suwai wissen, wohin es mich zog. Meine anfängliche Sympathie für ihn war vollständig verschwunden. Nun erschien er mir keinen Deut besser als die anderen Hotelbesitzer, die ich in Pushkar kennen gelernt hatte – nämlich nur vordergründig freundlich und hinter der Fassade ein eiskalter Geschäftsmann, der sich einen Dreck für andere Menschen interessiert. Ich hatte keine Lust ihm zu sagen, wohin es mich zog. Daraufhin verlangte er mehr Geld für das Zimmer. Aber ich ließ mir das nicht gefallen und zahlte den vereinbarten Preis. Innerlich wurde ich stärker.
Doch wen sah ich keine dreißig Minuten später im neuen Hotel? Suwai.

Nachdem mir Jaisalmer in den ersten Tagen wie eine himmlische Oase schien, gingen mir die aufdringlichen Händler immer stärker auf die Nerven. Manche waren richtig unverschämt und hatten offenbar kein Gefühl dafür, dass ihr wenig subtiles Auftreten ihre Verhandlungsposition keineswegs stärkte. Es war ein schwieriges Jahr für die Händler, die Touristenzahlen waren eingebrochen. Dadurch standen sie in großer Konkurrenz zueinander.

Doch zugleich liebte ich die Offenheit der Menschen – das war genau das, was ich in Deutschland so oft vermisste. Oft blieb ich irgendwo stehen und unterhielt mich zehn Minuten mit einem Wildfremden. Meistens verblieben diese Gespräche völlig zwanglos und wo Worte fehlten, ersetzten Gesten und Lächeln die Botschaft. Wir scherzten gerne über das, was uns trennte und das, was uns verband. Ich fühlte mich eng mit den einfachen Menschen verbunden. Sie waren nichts anderes als meine Brüder. Ich mochte vor allem die Gelassenheit und die stoische Ruhe der alten Männer, die sich durch nichts aus der Fassung bringen ließen. Anderseits verliefen viele Gespräche sehr routiniert ab. Ein wahrer Fragenkatalog wurde abgefeuert:
What is your good name? Where are you from? What is your profession? Are you married? 

Egal wie weltoffen man ist, wenn man diese Fragen das zwanzigste Mal am Tag hört, bekommt man einen Overkill. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass als nächstes die Einladung in den nächstgelegenen Shop folgt. Ich gab mir jedoch größte Mühe höflich zu bleiben und ein gutes Bild abzugeben. In gewisser Weise verstand ich mich als Botschafter.  Denn ich erlebte immer wieder unverschämte Touristen, die sich einen Dreck um Kultur und die Belange der Menschen kümmerten. Dem wollte ich etwas entgegen stellen. Viele Reisende fuhren immer diese Schiene und gingen mit Tunnelblicken völlig unnahbar durch die Straßen. Sie ignorierten alles und jeden und wurden laut, wenn man ihnen zu nahe kam. Das wollte ich nicht, auch wenn ich wusste, wie viel einfacher ich mir das Leben hätte machen können. Schließlich war ich nach Indien gereist, um vor allem die Menschen kennen zu lernen und so viel wie möglich über die Kulturen Indiens zu lernen. Und ich wollte die wertvollen Begegnungen nicht missen. Oft fühlte ich mich enger mit den Einheimischen als mit anderen Reisenden verbunden.

Suwai tauchte immer wieder in meinem neuen Hotel auf und immer deutlicher kam ein unerträglicher Prahler zum Vorschein. Doch was mich an diesem ganzen eitlen Zirkel von Gasthausbesitzern am meisten abstieß, war ihre vollständige Missachtung der Menschen, die für sie arbeiteten. »Everything is possible in India«, sagten sie ständig. Doch ihre Bediensteten behandelten sie wie Dreck, so als wären sie Könige.
Gerne hätte ich ihnen zugerufen: »Ja, fast alles ist möglich, aber eben nur
für euch und auf Kosten anderer!« Es machte mich zunehmend wütend. Denn hinter den Kulissen schuften Niedriglöhner, um die Fassade für die Mittel- und Oberschicht aufrecht zu halten, für die, die es sich leisten können. Ich habe mich immer wieder bemüht, das Kastenwesen zu akzeptieren, da es auch von vielen Menschen, die unten stehen, als etwas Notwendiges, eine Art gesellschaftlicher Ordnung, akzeptiert wird, aber es ist mir nicht gelungen. Offiziell ist das Kastenwesen abgeschafft; doch es spielt noch immer eine große Rolle im täglichen Leben. Das Erbe Gandhis wird völlig missachtet.

Als ich Suwai meinen endgültigen Abschied aus Jaisalmer ankündigte, fragte er mich, ob ich schon in Jaipur gewesen sei. Als ich das bejahte, hakte er nach, ob ich nicht nochmal hinfahren wolle; er wollte mir gerne jemandem vorstellen und würde für Unterkunft und Fahrtkosten aufkommen. In diesem Moment schloss sich der Kreis und ich war 100 % sicher, wen ich da wohl treffen würde. Das konnte nur Krishna sein, der versucht hatte, mich für das Juwelengeschäft zu begeistern. Aus einer Laune heraus sagte ich ihm, ich wisse ganz genau, wen er mir vorstellen wolle. Für einen Moment war er völlig baff, denn ich lag richtig. Suwai war entgangen, dass ich den Kreis vom Ende aufgerollt hatte. Er sah vorläufig ein, dass er auf Granit biss. Er versprach mir jedoch, ich könne ihn immer anrufen – egal wo ich mich in Indien befände – zehn Minuten später sei jemand mit meinem Namen auf einem Schild in meiner Nähe. Keine wirklich beruhigende Vorstellung!


Epilog

Es erscheint völlig absurd, dass ich trotzdem und erneut einem seiner „Tipps“ folgte und tatsächlich auch in Jodhpur in dem von ihm empfohlenen Hotel abstieg. 


Es war wieder mein verquerer Stolz und meine Harmoniesucht, denen ich folgte, ich wollte mich in jedem Fall sauber aus der Geschichte ziehen, ohne mein Gesicht zu verlieren. In dem Gasthaus forderte mich die Hausherrin dazu auf, den Preis für mein Zimmer selbst zu bestimmen, war dann aber mit dem Gebot nicht zufrieden und wenige Minuten später reichte sie mir das Telefon, Suwai wolle mich sprechen. Er sagte mir, dass ich zu wenig für mein Zimmer zahlen würde. Ich wies ihn darauf hin, dass dies eine Sache zwischen der Hausherrin und mir sei. Er ermahnte er mich, und forderte, ich müsse im Gegenzug für das günstige Zimmer Werbung für sein Hotel machen.

Trotz meiner zunehmenden inneren Stärke, fühlte ich mich weiter sehr einsam und ich wünschte mir nichts sehnlicher als die Begegnung mit anderen Reisenden, mit denen ich ein Wegstück teilen konnte. Und als ich schon verzweifelt sinnierte, ob ich mich mit einem Schild auf den Marktplatz stellen sollte, mit der Aufforderung mich einzusacken, traf ich zufällig auf Neo am "Omelette Shop". 


Neo stammte aus den U.S.A. und war mit einem Pärchen unterwegs und nachdem ich ihm von den Fallstricken meiner Reise berichtet hatte, bot er mir ohne zu zögern an, ich könne mich ihnen anschließen. Und so kam es. Wir konnten noch ein Ticket für denselben Bus nach Mount Abu erstehen und ich änderte meine Reiseroute sehr gerne für die angenehme Gesellschaft. Meiner Hausherrin erzählte ich, ich würde wie geplant nach Udaipur weiterreisen und ließ mir ein Hotel empfehlen, um es meiden zu können. Damit schloss sich auch dieser Kreis und ich war nicht traurig Suwai und Konsorten fortan nicht mehr zu begegnen. Suwais Visitenkarten nutzte ich fortan, um vor seinen Machenschaften zu warnen.