Delhi
Gerade hatte ich in den Bergen um Dharamsala und
Manali etwas Abstand zu meinem alptraumartigen Einstand in Indien gewonnen.
Doch nun musste ich wieder nach Delhi, um meine Reise nach Rajasthan
fortzusetzen. Auf den letzten Kilometern Fahrt in die Stadt hinein, war mir
mulmig zumute. Meine ersten Erfahrungen mit der Stadt steckten mir noch immer
im Nacken und meine Laune wurde immer düsterer, je länger wir an endlosen Slums
und grauen Industrieanlagen entlangfuhren. Immer wieder wähnte ich mich bereits
in der Innenstadt, doch die Vorstädte und Industrieregionen sind von riesigem
Ausmaß.
Schließlich angekommen, ließ ich mich auf einer
Fahrradrikscha nach Paharganj fahren. Das Stadtviertel, das sich um die Main
Bazar Road erstreckt, liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Main Bazar Road
selbst ist eine kilometerlange Einkaufsstraße, in der man Alles findet. Direkt
an der Straße und in zahllosen Nebenstraßen finden sich hunderte von Hotels –
viele davon heruntergekommen, dafür aber sehr billig. Der Portier meines Hotels
informierte mich gleich von einem Angebot für eine überteuerte Rajasthan-Reise.
Diesmal ohne mich! Ich wollte so schnell
wie möglich wieder raus aus Delhi und den nächstmöglichen Zug nach Jaipur buchen.
Am Bahnhof wimmelte es von zwielichtigen Gestalten.
Ihre Dreistigkeit machte mich sprachlos. Der erste wollte mich davon
überzeugen, Touristen müssten sich vor einer Bahnfahrt am Conaught Place
registrieren und könnten auch nur dort Tickets erstehen. Da hätte ich dann
gleich noch eine Reise auf das Hausboot in Kaschmir mit meinen geliebten
Freunden buchen können. Doch er versicherte mir, er handle aus reiner
Menschenliebe und hatte die benötigten Formulare zur Hand. Kaum hatte ich ihn
abgeschüttelt, tauchte der Nächste „Helfer“ auf, der mir weismachte, man dürfe
den Bahnhof nicht ohne gültiges Ticket betreten. Als ich auch ihm nicht auf den
Leim gegangen war, wollte mir ein anderer Mann einreden, dass das Tourist
Office an diesem Tag geschlossen sei. Den Vogel schoss der ab, der behauptete,
das Büro sei abgebrannt. Es fiel mir schwer zu fassen, wie skrupellos und
professionell sie mich angelogen. Doch letztlich ließ ich mich nicht völlig
verunsichern und erstand mein Ticket nach Jaipur.
In der Wartezeit bis zum Abend machte ich einen Abstecher
nach Old Delhi. Es war ein Fest für die Netzhaut. Nie zuvor hatte ich solche
Menschenmasse gesehen und das immerwährende Verkehrschaos war an Wahnsinn kaum
zu überbieten! Autos, Rikschas, Motorroller, Ochsenkarren, berittene Elefanten,
streunende Kühe und Fußgänger verursachen ein unbeschreibliches Chaos auf den
Straßen. Es hat mich immer fasziniert, das dieses »System« funktioniert, ohne
dass es alle zwei Sekunden einen Unfall gibt. Für den Uneingeweihten herrscht
blanke Anarchie und es gehört eine große Portion Fatalismus dazu, sich keine
Sorgen um die verbliebene Lebensdauer zu machen.
Doch inzwischen empfand ich
auch eine irre Freude, Teil dieses Chaos zu sein. Die Geräuschkulisse von
allgegenwärtiger Musik, eine Mischung aus Hindipop und klassischer indischer
Musik, dem endlosen Hupen (auf jedem Truck prangt die unnötige Aufforderung please horn!),
den Tempelglocken und des Marktgefeilsches wirkte auf mich betörend, übermalt
von den knallbunten Farben der Saris. Der Geruch war jedoch stark gewöhnungsbedürftig,
eine Mischung aus widerlichem Gestank nach Fäkalien, Schweiß und Abgasen und
gleichzeitigen Wohlgerüchen von Gewürzen und Sandelholz stiegen in meine Nase.
Oft konnte ich nur schwer nachvollziehen, dass
Menschen unter solchen Bedingungen leben können. Doch hier käme kaum einer auf
die Idee, sich über die Zustände zu beschweren. Eine imponierende Gleichmut und
Gelassenheit scheint den Indern zu Eigen. In diesen Momenten spürte ich, wie
weit ich mich von allem Bekannten entfernt hatte. Ich hatte meine Fassung
längst aufgegeben. Indien sprengte mit seiner Reizüberflutung meine
Vorstellungskraft fortwährend.
Zurück in Paharganj traf ich Craig wieder, den ich
beim Ticketkauf kennengelernt hatte und der ebenfalls nach Jaipur fahren würde.
Ich war froh, nicht schon wieder alleine unterwegs zu sein.
Nun saß ich also in der indischen Eisenbahn auf dem Weg von Delhi nach
Jaipur. In Windeseile kamen die Einheimischen ins Gespräch mit mir. Die Neugier
an meiner Person war riesig. Sie fragten mich, warum ich nach Indien gekommen
war und was ich hier suchte; warum ich in meinem Alter noch nicht verheiratet
sei und warum ich mich soweit von meiner Familie und meinen Freunden entfernt
hatte. Eine Reise, um andere Kulturen kennen zu lernen, lag für die Meisten außerhalb
ihrer Vorstellungskraft. Mehr noch – bei der Bedeutung von Familie in der
indischen Gesellschaft – erschien es ihnen verrückt, so weit von zuhause
entfernt alleine durch die Gegend zu ziehen. Das minderte ihr Interesse nicht
und sie sagten, sie seien stolz, dass ich ihr Land bereiste.
Fasziniert betrachtete ich das Treiben der fliegenden Händler, die
Mahlzeiten, Snacks, Tee, Kaffee, Hygieneprodukte, sinnlosen Kitsch, Magazine
oder Bücher im Angebot hatten. Einige zogen durch die Abteile, andere Geschäfte
wurden in Sekundenschnelle durch die Zugfenster abgewickelt. Der Blick aus
dem Fenster bereitete mir oft Unbehagen. Viele Menschen hatten sich am Rande
der Eisenbahngleise angesiedelt und kämpften dort um eine bescheidene Existenz.
Jaipur
Am Bahnhof von Jaipur wurden wir von zwei jungen
Rikschafahrern angesprochen. Saddam und Raja waren uns behilflich, ein billiges
Hotel zu finden. Wir luden sie anschließend zu einem Bier ein. Sie erklärten
uns, sie wollten kein Geld für ihre Dienste, sondern sie seien nur daran
interessiert, ausländische Freunde finden.
Craig fuhr am nächsten Morgen nach Pushkar weiter, um
den Camel Fair, einen gigantischen Kamelmarkt zu sehen. In seiner Heimat
Australien verdiente er sein Geld mit Kameltouren in der Nähe von Perth und er
freute sich wie ein Kind auf das Fest. Ich beschloss bald nachzukommen, um mir
ein eigenes Bild zu machen.
Die beiden jungen Männer tauchten wieder auf und ich vereinbarte mit ihnen eine Fahrt zu den Sehenswürdigkeiten
der Stadt. Besonders in Rajasthan sind viele Straßenabschnitte in
erschreckendem Zustand: Das Abwasser läuft überirdisch am Rande der Straße
entlang, bei starkem Regen laufen die Kanäle über.
Die Einheimischen scheinen
die chaotischen Straßenverhältnisse gar nicht wahrzunehmen. Neben sehr
baufälligen Gebäuden erinnern ältere Prunkbauten an glanzvolle Zeiten.
Das
erzeugt einen spannenden, aber auch verstörenden Kontrast. Unwillkürlich fragte
ich mich, wie es möglich war, dem offensichtlichen Zerfall der Bausubstanz
zuzusehen. Inneres Gleichgewicht schien über reinen Äußerlichkeiten zu stehen,
die dadurch keine größere Bedeutung besaßen. Gerade diese Einstellung sprach
mich an. In der westlichen Kultur erlebte ich es oft umgekehrt. Es kam mir so
vor, als sei es wichtiger, den äußeren Schein zu wahren, als sich mit der
eigenen Person und seinem Wirken auseinander zu setzen. Doch auch in Indien
wird Materialismus immer wichtiger.
Die touristisch bedeutsamen Orte ziehen Schlepper und
Betrüger an – was dazu führt, dass man ihre Zahl leicht überschätzt neben all
den ehrwürdigen und freundlichen Menschen. Leider waren mit den einfachen
Menschen Gespräche oft nur rudimentär möglich aufgrund ihrer eingeschränkten
Englischkenntnisse und meinem Scheitern, mehr als ein paar wenige Worte Hindi
aufzuschnappen.
Zuallererst besichtigten wir den „Monkey Temple“. Er
liegt auf einer kleinen Anhöhe und die auf ihm lebenden Affen werden als heilig
verehrt. Von oben bot sich ein umfassender Blick auf die Stadt. Danach
steuerten wir die »rosarote Stadt« im Zentrum Jaipurs an. Wahrzeichen der Stadt
ist der „Palast der Winde“ – ein Teil des Stadtpalastes. Er besteht heute nur
noch aus einer Fassade mit kleinen Balkons und Erkern. Der Bau diente den
Frauen des Harems dazu, das Leben auf den Straßen zu beobachten, ohne selbst
gesehen zu werden – denn das war ihnen verboten.
Die Innenstadt schien mir ein einziger großer Bazar zu
sein und die Händler waren selbst für indische Verhältnisse sehr aufdringlich.
Das Verkehrsaufkommen ist enorm. Jaipur hat 2,5 Millionen Einwohner und ist als
Handels- und Wirtschaftszentrum die wohlhabendste Stadt Rajasthans.
Gleichzeitig zählt sie zu den fünfundzwanzig am schnellsten wachsenden Städten
der Welt und als einer der lebendigsten Handelsplätze Asiens.
Raja und Saddam wollten mir ihren Onkel vorstellen.
Ich hatte ein ungutes Gefühl, doch ich wollte ihnen vertrauen. Außerdem fiel es
mir sehr schwer, mich aus konfrontativen Situationen herauszuwinden. Die
endlose Fahrt durch verwinkelte Straßen und immer ärmlichere Viertel erhöhte
das Grimmen in meinem Bauch. Wir fuhren weit außerhalb der touristischen
Gebiete von Jaipur. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wo ich mich
befand. Schließlich erreichten wir wieder ein wohlhabenderes Viertel. Der
»Onkel«, Krishna, arbeitete in einem Juwelierladen. Ich blickte in seine wachen
und intelligenten Augen und nachdem wir einige Sätze ausgetauscht hatten, war
ich mir sicher, dass er mich einwickeln wollte. Krishna machte einen sehr selbstbewussten Eindruck und ich
mahnte mich zur Vorsicht. Er sagte zu mir, er würde nicht jeden zu sich
einladen, aber ich sei herzlich aufgefordert, mit ihm zu kommen und mit ihm
gemeinsam zu essen. Die Neugier war stärker als das Gefühl, dass ich mich in
eine ungemütliche Situation begab, und ich willigte ein. Zumal es schwer
gewesen wäre, die Einladung abzulehnen, ohne beleidigend zu sein. Mir war sehr
wichtig, Niemanden vor den Kopf zu stoßen. Ich zahlte noch immer Lehrgeld für
meine Gutgläubigkeit und ich hatte immer noch kein Gefühl dafür entwickelt, die
Menschen zu entdecken, dir mir wirklich gut taten.
Krishna brachte mich in ein Haus, in dem er ein
Apartment nutzte, dass von einem holländischen Pärchen bewohnt wurde. Es war
offensichtlich, dass dieses Pärchen unter seinem Einfluss stand. Ich hatte den
Eindruck, sie seien Junkies.
Er begann, mir sehr durchdachte Fragen über meinen
Aufenthalt in Indien zu stellen: Warum ich gekommen sei, wie ich Indien erlebt
hatte und was mir für meine Zukunft vorschwebte. Ich trank mein Bier möglichst
langsam, weil mir klar war: Das dicke Ende kommt noch. Die Fragen steuerten auf
ein bestimmtes Ziel zu. Zwei grimmige Männer kamen hinzu. Dann begann Krishna
von Geschäften zu reden. Er habe einige Juweliergeschäfte in Europa und suche
jemanden, dem er vertrauen könne und der für ihn Juwelen außer Landes bringen
könnte. Sein Wunsch sei, eine langfristige Zusammenarbeit zu entwickeln. Der
Transport über die Grenze sei kein Problem. So könne ein Tourist Waren im Wert
von 10 000 € ausführen – in Wirklichkeit sind es weniger als 500 €. In Europa
müsse ich sie nur einem Kontaktmann übergeben. Dafür würde ich eine saftige
Prämie einstecken.
Sehr freundlich dankte ich ihm für sein großzügiges
Angebot, versicherte ihm jedoch: »I am not a business man and I will never be!«
Ich bot ihm an, für das spendierte Bier zu zahlen, das Essen war zu diesem
Zeitpunkt ohnehin kein Thema mehr. Er gab nicht gleich auf, sondern versuchte
weiter, mir unser Geschäft schmackhaft zu machen. Irgendwann gab er sich jedoch
zufrieden, er spürte, dass er bei mir nur mit Geduld weiterkam.
Wie ich später erfuhr, handelt es sich bei dieser
Betrügerei um einen Dauerbrenner in Rajasthan. Besonders in Jaipur, dem Zentrum
der Edelsteinindustrie Indiens. Das System funktioniert seit Jahrzehnten so:
Der »Freund« – häufig ein Rikschafahrer – bringt die Fahrgäste unter einem
Vorwand in einen Juwelierladen und bekommt dafür bereits eine Provision, die
sich je nach Grad des eingefädelten Deals weiter steigern kann. Nun hängt alles
am Geschick des Verkäufers. Er versucht, die Touristen zur Teilnahme an einem
angeblich fabelhaften Geschäft zu animieren. Es werden phantastische Gewinne
von mehreren hundert Prozent versprochen. Das Geschäft wird als völlig
risikolos dargestellt und zur Untermauerung werden dem Käufer Adressen und
gerne auch Visitenkarten von Händlern in dessen Heimat genannt, die die Steine
zum doppelten Preis sofort kaufen würden. Es wird einem vorgegaukelt, der
indische Lieferant und sein europäischer Kunde bräuchten nur einen Kurier, der die
Ware gegen eine hohe Provision durch den Zoll transportiert, um die Gebühren zu
umgehen. Der Schock erwartet den Betrogenen dann spätestens in Europa, wenn er
feststellt, dass die Qualität seiner Ware nicht den Versprechungen entspricht.
Ich hatte für meinen Teil bereits meine Erfahrungen in Kaschmir gemacht und
geldgierig war ich glücklicherweise noch nie.
Und die Masche erscheint mir noch verhältnismäßig
human. In Agra gab es längere Zeit die miese Abzocke, einen Gast in einem
Restaurant absichtlich zu vergiften. Der plötzlich auftauchende „Helfer“ sorgte
dafür, dass sich der Zustand auch im Krankenhaus nicht besserte, sondern erst
dann, wenn der Tourist ausgemolken war.
Da ich die unbegründete Sorge hatte, in Pushkar wegen
dem Festival kein Zimmer zu bekommen, nahm ich jedoch seine Hotelempfehlung an;
es hatte Aufnahme im Lonely Planet gefunden. Es
sollte das letzte Mal sein, dass ich darauf etwas gab. Um grundlegende
Informationen über einen Ort zu erhalten, mochte der Reiseführer ganz hilfreich
sein. Doch die Bewertungen waren selten etwas wert. Zu viele Menschen reisten
damit, so dass die Hotels und Restaurants oft überfüllt waren und man sich
einen Dreck darum scherte, ob das Hotel verkam. Die Empfehlung allein brachte
genug Touristen.
Nachdem meine Reise in Indien so schwierig begonnen
hatte, war ich weit von meinem inneren Gleichgewicht entfernt und hatte oft das
Gefühl, nur auf das reagieren zu können, was ohnehin mit mir passierte. Es war
als folgte ich einem Befehl, den ich mir selbst auferlegt hatte – nämlich um
jeden Preis durchzuhalten – ganz gleich, was auch geschehen mochte. Meine
»Freunde« – die jungen Rikschafahrer – wollten jetzt doch Geld, nachdem die
Nummer mit ihrem Onkel nicht zum erhofften Erfolg geführt hatte. So war ich
ständig in Verhandlungen, die ich nicht führen wollte, anstatt mich deutlich
von der Übergriffigkeit der Nepper zu distanzieren.
Pushkar Festival
Von Jaipur reiste ich im Bus weiter nach Pushkar, wo
der Kamelmarkt stattfand. Innerhalb einer Woche wechseln zehntausende Kamele
den Besitzer. In den letzten Jahren ist das Spektakel auch unter Touristen
immer populärer geworden.
Das Hotel, das mir Krishna empfohlen hatte machte erst
mal einen guten Eindruck. Dort traf ich Frank – einen Finnen, mit dem ich mich
auf Anhieb gut verstand. Er war schon länger in Pushkar und er nahm mich gleich
mit, so dass ich mir ein erstes Bild von dem bunten Treiben in der Stadt
verschaffen konnte. Die Geschäfte und Straßen in der Stadt waren reich und bunt
dekoriert. 150 000 Menschen waren auf den Straßen unterwegs, die eigentlich auf
die knapp 20 000 Menschen ausgelegt sind, die normalerweise in der Kleinstadt
am Rande der Wüste leben. Während der Feierlichkeiten ist Pushkar nichts für
Menschen, die unter Platzangst leiden. Auch ich fühlte mich sehr beengt. Alles
wurde immer fremder. Rajasthan wirkte nach dem muslimischen Kaschmir und dem
tibetisch geprägten Dharamsala sehr orientalisch. Einerseits genoss ich diese
wechselnden Impressionen sehr – doch mir ging alles zu schnell und ich fand zu
wenig Zeit zum Durchatmen und das Erlebte zu verarbeiten.
In und um Pushkar sammeln sich jedes Jahr die
Kamelbesitzer und deren Familien. Dazu gesellen sich unzählige Neugierige,
Schausteller, Kleinkünstler, Züchter, Gaukler, Händler, Nomaden,
Schlangenbeschwörer, einheimische und ausländische Fotojäger, Händler, Tänzer,
Musiker und unzählige Andere, die dem Ruf des Festes nach Pushkar gefolgt
waren. Auch das indische Fernsehen war vertreten. Abends wurden traditionelle Tänze aufgeführt und es
gab verschiedene Wettbewerbe. Besonders skurril war der Wettbewerb um den
schönsten Bart.
Nach sieben Tagen würden die Händler wieder in ihre
Heimat in Indien, Pakistan oder den Golfstaaten ziehen und in Pushkar würde
wieder Frieden einkehren.
Für mich war der Aufenthalt eine bizarre Erfahrung.
Ich fühlte mich, als wäre ich auf einem anderen Planeten gelandet. Es fiel mir
schwer, mich auf das Fest einlassen und blieb distanzierter Beobachter.
In diesem Jahr war das Festival kleiner als
gewöhnlich, da aufgrund der allgemeinen Dürre in Rajasthan nicht genug Wasser
zum Tränken der Tiere zur Verfügung stand.
Pushkar ist eine besondere Stadt für die Hindus.
Gläubige pilgern aus ganz Indien hierher, um sich im heiligen Pushkarsee zu
baden. Der Legende zufolge ließ der Schöpfergott Brahma ein Lotusblatt auf die
Erde fallen. An der Stelle, an der die drei Lotusblüten zu Boden fielen,
entsprang mitten in der Wüste Wasser. Pushkar (Sanskrit für Lotusblüte) war
entstanden. Der See ist bis heute eine von Indiens heiligsten Stätten.
Besonders im Oktober/November, während einer Glück verheißenden Vollmondphase,
soll ein Bad die Seele von allen Verfehlungen reinigen und die Pilger strömen
in die Stadt. Gleichzeitig findet auch der Kamelmarkt statt.
In diesem Jahr war der See völlig ausgetrocknet und
man hatte für die Pilger einen Swimmingpool aus Plastik im trockenen See
aufgestellt, was äußerst merkwürdig auf mich wirkte, aber von den Pilgern
offensichtlich akzeptiert wurde.
Sadhus (heilige Pilger) geben den Touristen gegen eine
kleine Spende Lotusblüten, die man in den See wirft, was Glück verheißend ist.
Wenn man sich bedrängen lässt, kann man sich auch zu einer größeren Spende
genötigt fühlen.
Ich ließ mich von Frank überreden, einen der
berühmt-berüchtigten Bhang lassi zu probieren. Dies ist ein Getränk aus den
getrockneten Blättern und kleinen Blütenständen der Cannabis-Pflanze. Die
Pflanzenteile werden zu einer knetartigen Masse verdickt und anschließend in
Milch zerstoßen. In Jaisalmer und Varanasi gibt es sogar von der Regierung
autorisierte Shops, die Bhang verkaufen dürfen. Mir war jedoch nicht bekannt,
dass speziell der Bhang Lassi zu extremer Paranoia führen kann, was auch daran
liegt, dass manchmal Stechapfel beigemischt wird. Und wie hieß es so schön bei Fear and Loathing in Las Vegas: »Das war kein guter Ort für psychedelische Drogen…«
Wenn ich mir die Originalzeilen von diesem Abend so
anschaue, lesen sie sich stellenweise wie der Bericht eines Wahnsinnigen, der
aus dem Gefängnis ausbrechen will und sehen auch so aus. Als die Wirkung
einsetzte, steigerte sich die empfundene Reizüberflutung noch um ein
Vielfaches. Viel zu viele Eindrücke prasselten auf mich ein und ich konnte sie
unter dem Einfluss der Droge nicht mehr verarbeiten. Mich überkam massive
Orientierungslosigkeit. Da Frank gut und gerne das doppelte Körpergewicht auf
die Waage brachte, war er aufgrund der langsameren Metabolisierung noch recht
guter Stimmung, als ich bereits tief in Paranoia versunken war. Ich fühlte
mich, als hätte ich keinen festen Boden mehr unter den Füßen. Frank amüsierte
sich bei unserem Gang durch die hoffnungslos überfüllte Stadt herrlich über
mich und meinen panischen Gesichtsausdruck und kriegte sich kaum ein vor Lachen.
Ich empfand die Situation als weitaus weniger amüsant. Und auch ihm gelang es
nicht mehr, den Weg zu unserem Hotel zu finden. Immer wieder meinte er, den Weg
wieder zu erkennen, um dann laut und schallend lachend zu verkünden, er habe
nicht die geringste Ahnung, wo wir uns befinden könnten und es sei ihm auch
herzlich egal. Ich wollte nur zurück ins Hotel – in eine sichere Umgebung.
Bettler zerrten an meinem Arm, Händler bedrängten mich und Gypsies schmierten
mir ungefragt eine Mischung aus Kameldung und Hennafarbe auf die Hände, um
darauf Mandalas zu malen, was sie erst nach heftigem Protest unterließen. Ich
fühlte mich dermaßen unwohl, als würde ich in einen Trichter von Anarchie und
Wahnsinn gesaugt. Zu allem Überfluss fiel auch noch der Strom aus, die Lichter
erloschen und mein inneres Chaos war perfekt. Ich fühlte mich völlig verloren.
Als wir gar nicht mehr weiter wussten, teilten wir uns
eine Fahrradrikscha, um endlich wieder zurück zu finden. Der arme Fahrer! Mit
fast 200 kg auf der Rückbank musste der Unglückliche uns den Berg raufradeln.
Er tat mir richtig leid und ich schämte mich dafür, seine Dienste in Anspruch
nehmen zu müssen. Ich war so glücklich, endlich wieder beim Hotel anzukommen,
dass ich ihm ein üppiges Trinkgeld in die Hand drückte. Ich steuerte direkt
mein Zimmer an und verließ es bis zum nächsten Tag nicht mehr. Ich schrieb noch
ein paar wirre Zeilen und verputzte unvorsichtigerweise Erdnüsse in meinem
Bett. Am Morgen erwachte ich in einem Meer von Ameisen, die ich mit den Schalen
angelockt hatte.
Frank schaffte es nach seinem Bericht noch auf die
Dachterrasse und konnte sich knapp zwei Stunden nicht mehr bewegen und lachte
ohne Pause.
Frank war ohnehin ein ulkiger Bursche. Er war sich
sicher, dass ich mich für immer an seine kranke Lache erinnern würde. Er war
lange harter Trinker und Kiffer gewesen. Irgendwann hat er sich mit einem
mächtigen Rocker angelegt, weil er mal wieder seine große Klappe nicht halten
konnte. Dabei hatte er so derbe Schläge abgekriegt, dass er es fast nicht
überlebt hätte. Er sprach von »brain damage« und das war auch nicht ganz von
der Hand zu weisen. Jedenfalls war das Gute daran, dass er das Trinken danach
aufgegeben hat und jetzt nur noch kiffte wie blöd.
Auf dem Rückweg waren wir nochmal bei der Teestube, wo
wir am Tag zuvor den Bhang lassi zu uns genommen
hatten. Ich wollte nachfragen, was uns der Besitzer da kredenzt hatte. Nachdem
er uns grinsend den riesen Bollen Bhang zeigte, wunderte mich gar nichts mehr. Der Sohn des Besitzers meinte, er
hätte wesentlich weniger verwendet, sein Vater habe aber gemeint, wir würden
das schon vertragen. Der hatte gut reden, er trank nach eigener Aussage seit
Jahrzehnten das Zeug jeden Tag und ein Blick in seine blutroten Augen
bestätigte das hinreichend. Frank gönnte sich gleich noch einen dieser Lassis,
mir war die Lust gründlich vergangen.
In unserem Gasthaus versammelten sich jeden Abend die
Besitzer verschiedener Gasthäusern Rajasthans auf dem roof top. Sie waren mir ausgesprochen unangenehm. Was für
schmierige, selbstsüchtige und arrogante Typen! Jeden Abend betranken sie sich,
führten sich wie die Schweine auf und machten den jungen Touristinnen Avancen.
Später begriff ich, dass sie vor allem hier waren, um Touristen in ihre
jeweiligen Hotels zu lotsen. Einer der Gasthausbesitzer, Suwai, erschien mir im
Gegensatz zu den Anderen recht sympathisch und ich hatte versprochen, mir sein
Hotel Desert in Jaisalmer anzusehen, das mit äußerst günstigen Preisen lockte.
Allerdings warnte er mich: Es gäbe Leute, die mich vor seinem Hotel warnen
würden. Das entspränge ihrem Neid auf sein erfolgreiches Unternehmen.
Er hatte nicht zu viel versprochen. Als ich das Büro
des Busunternehmens erreichte, mit dem ich nach Jaisalmer weiterreisen wollte,
tauchte sofort ein Fremder auf und warnte mich eindrücklich davor, im Hotel
Desert abzusteigen. Dabei hatte ich mein Ziel überhaupt nicht erwähnt. Das ist
der Stoff, aus dem Paranoia gesponnen ist!
Gelegentlich hatte ich den Eindruck, dass Indien mich
mit Haut und Haaren verschlingen würde. Es gab kaum Privatsphäre. Eigentlich hätte ich mir die Zeit nehmen müssen, um
einen sicheren und angenehmen Ort zu finden, wo ich wieder etwas zu mir fand.
Doch ich fühlte mich getrieben und wollte vorankommen. Manchmal fürchtete ich in diesen Tagen, ich würde
verrückt werden und hatte keinen blassen Schimmer, wem ich wohl noch
vertrauen konnte. Das kostete unheimlich viel Kraft. Aber
wie schrieb ein guter Freund so schön:
Wenn du das Gefühl hast, alles fliegt
dir um die Ohren und eine fremde Kraft, die sich deiner Kontrolle längst
entzogen hat, spült dich durch das Land und die Leute, dann halte kurz inne.
Genieße diese Kraft, atme sie, schmecke sie, das ist der Zauber, das ist das,
was dich süchtig macht und was du vermissen wirst. Chaos und Kreativität,
Unberechenbarkeit in jeder Hinsicht. Versuche das zu durchdringen und zu
verstehen.
Das gelang mir nur selten. Ich war vollauf
damit beschäftigt, grenzparanoid durch das Land zu stolpern. Meine lang ersehnte
Reise war zu einem einsamen Durchhaltemarathon verkommen. Nur mein Stolz hatte
mich davon abgehalten, die Reise abzubrechen. Mir waren dunkle Schatten aus
meiner Vergangenheit wiederbegegnet. Es war mir nicht gelungen, mich
abzugrenzen. Doch trotz und sogar inmitten katastrophaler Erfahrungen in einem
Land, das mich ständig überforderte, hatte ich eine Liebe zu den Menschen und
dem unbeschreiblichen Wahnsinn um mich herum entwickelt. Ich spürte, dass mich
diese instinktive, scheinbar absurde Liebe nie wieder loslassen würde. Die
abgrundtiefen Kontraste hatten mich angezogen und abgestoßen, die Menschen
verwirrt und begeistert, die bittere Armut erschüttert und die Hoffnung
gerührt. Die offensichtlichen Ungerechtigkeiten waren für mich schwer auszuhalten.
Das Kastensystem ist längst verboten, aber es wirkt nach. Noch immer werden
Menschen brutal ausgebeutet und schikaniert. Die Korruption stinkt zum Himmel.
Die hygienischen Bedingungen für die Armen sind oft katastrophal und das
Bildungssystem bietet kaum Aufstiegschancen. Doch an gleicher Stelle erlebte
ich Gastfreundschaft, Güte, unbändigen Lebensmut und eine unglaubliche Vielfalt
verschiedener Religionsgruppen und Völker. Das hatte in der Vergangenheit immer
wieder zu fürchterlichen Pogromen geführt und doch muss man staunen, in welch
relativem Frieden und Koexistenz so unterschiedliche Menschen
selbstverständlich miteinander leben. Indien ist ein riesiger Schmelztiegel. Das Chaos einer dauerhaften
Reizüberflutung für alle Sinne hatte mich unter sich begraben, ausgespuckt und
dann wieder zu einem schelmischen Grinsen verführt.
Das Land war so ambivalent wie ich selbst
und hielt mir ständig den Spiegel vor. Ich hatte mich manchmal gefühlt, als
wäre ich in einen Sog geraten, der mich in die Tiefe zu ziehen drohte und doch
unwiderstehlich war. Der Sog war zu schnell, zu mächtig, er machte mir Angst,
aber er eröffnete mir auch unbekannte Welten. Dieses ursprüngliche, unbändige
Leben mit all seiner Wucht war etwas, was mich für immer gefangen nehmen sollte.
Diese Kraft vermisste ich nach meiner Rückkehr und die Ordnung und Stille in
unseren Breiten kam mir dann wie der Tod vor.
Dennoch waren die Mails von Freunden und
Familie in diesen Tagen sehr wichtig und haben mir immer wieder Kraft
gegeben. Sie waren meine einzige Brücke zu meinem alten Leben.
Jaisalmer
Es folgte die nächste Fahrt in einem
dieser herrlichen indischen Busse, die in Europa vor 30 Jahren ausgemustert
worden wären. Sie machten in aller Regel keinen vertrauenserweckenden Eindruck.
Über den Sitzplätzen gibt es einige Boxen, in denen man sich ausstrecken und
schlafen kann. Ich reiste fast immer nachts, um Zeit und Geld zu sparen. Nun
hatte ich zum ersten Mal das zweifelhafte Vergnügen, in so einem »Sleeper« zu
reisen. Für mich war die Liegefläche jedes Mal ein paar Zentimeter zu kurz, so
dass ich mich nicht ganz ausstrecken konnte. Doch es war mir immer noch
deutlich lieber, als die ganze Nacht zu sitzen. Ausnahmsweise existierte hier
ein Vorhang zum Flur des Busses, so dass mich keiner sehen konnte. Diese
Freiheit nutzte ich dazu, bei weit geöffnetem Fenster einen Joint zu rauchen.
Aus dem Fenster konnte ich bereits die Thar-Wüste sehen.
Mir gefiel der erhabene Blick aus dem
»zweiten Stock«. Da die Busse in jeder noch so kleinen Ortschaft halten, um
Menschen einzusammeln und auszuspucken oder für kurze Pausen zum Essen, bekommt
man Einblicke in den Alltag der Menschen. Jeder Millimeter im Bus wird genutzt.
Neben tonnenweise Waren sind auch lebendige Hühner an Bord. So bessern die Busfahrer
ihr mickriges Gehalt auf, auch die Reisenden bringen so Begehrtes aus der Stadt
in ihre Dörfer. Ein Belastungstest für jede Achse. Oft war ich der einzige
Ausländer. Das war für mich ein besonderer Reiz.
Kaum in Jaisalmer angekommen, ging es mit dem
Wahnsinn weiter. Kurz vor der Ankunft rannte ein Mann hektisch durch
den Bus, klopfte an jede Scheibe, und bläffte hinein: »Don’t trust the people
from Hotel Desert«. In diesem Moment fragte ich mich ob die Gauner im Hotel
Desert sitzen oder die sind, die vor ihnen warnen. Oder waren alle Gauner?
Jedenfalls wurde ich am Busbahnhof bereits
von einem Angestellten des Hotel Desert erwartet und fuhr mit gemischten
Gefühlen zum Hotel. In diesem Fall war es mir lieber, als mich mit der
aggressiven Meute auseinanderzusetzen, die sich am Busbahnhof versammelt hatte,
um einen Schnitt zu machen. Das Einzige was mich wunderte war, dass man mir
nicht das Gepäck aus der Hand riss und mich forttrug.
Jaisalmer ist eine Stadt inmitten der
Wüste Thar, die sich bis ins 100 km entfernte Pakistan zieht.
Das besondere an Jaisalmer ist das Fort.
Es wurde 1156 vom Fürsten Rawal Jaisal auf einem 120 Meter
langen und 500 Meter breiten Felsen aus gelbbraunem Sandstein erbaut. Daher wird Jaisalmer auch als
»die goldene Stadt« bezeichnet.
Das »Hotel Desert« befand sich direkt in
einer der mächtigen Mauern des Forts. Aus meinem Fenster konnte ich auf die
umliegende Stadt und in die Wüste sehen.
Die Architektur von Jaisalmer ist
überwältigend. Besonders die Residenz der Fürstenfamilie, die später zu
Maharadscha-Ehren kam, die filigranen Jaina-Tempel und die Havelis
(Kaufmannshäuser) sind überwältigend.
Jaisalmer war einst eine wichtige Station
auf der Seidenstraße und gründete darauf ihren Reichtum. Die Karawanen legten
hier einen Stopp auf der Überlandroute zwischen Zentralasien und Delhi ein und
Jaisalmer war ein wichtiger Umschlagplatz für Seide, Opium und Gewürze. Die
Stadt wirkt wie eine »Fata Morgana« – die Märchen aus »Tausend und eine Nacht«
werden lebendig. Früher spielte sich nur Leben innerhalb seiner Mauern ab.
Heute wuchert die moderne Stadt auch außerhalb des alten Festungsrings. Doch
noch immer leben 2000 Menschen innerhalb der Fortmauern. 70 % stammen von den
Brahmanen (der höchsten indischen Kaste) und 30 % von den Rajputen (der
Kriegerkaste) ab. Daran wird deutlich, dass das Kastensystems und die
Abstammung noch immer eine Rolle spielen – vor allem in den ländlichen
Regionen.
In ihrer Blütezeit war die Stadt kaum
einzunehmen.
Der Haupteingang ist mit einer 180-Grad-Kurve versehen, so dass
Elefanten den Befestigungsring nicht durchschlagen konnten. Auf der Mauer
liegen riesige runde Steine, die man von den Mauern auf
Angreifer gestürzt hat. Auch Kanonen zeugen von der alten Stärke.
Selbst die Armee der muslimischen Sultane
Delhis konnte Jaisalmer erst 1298 nach siebenjähriger Belagerung erstmals
einnehmen. Doch als die Niederlage feststand, ritten die Männer aus der Stadt
in den sicheren Tod gegen die zahlenmäßig deutlich überlegene Belagerungsarmee.
Die Frauen begingen rituellen Selbstmord (Johar), indem sie sich von den Mauern
der Paläste in entzündete Scheiterhaufen stürzten. Dadurch konnten sich die
siegreichen Truppen mitten in der Wüste nicht weiter versorgen und mussten die
Besetzung der Stadt kurze Zeit später aufgeben. Nach weiteren Belagerungen
wurden die Herrscher über Jaisalmer zwar ein Vasallenstaat Delhis, doch niemals
vollständig unterworfen.
Erst nach dem Aufstieg der Häfen von Surat
und Bombay büßte die Stadt ihre Stellung ein. Die Überlandroute verlor an
Bedeutung, weil sich ein großer Teil des Warentransports auf den Schiffsverkehr
verlagerte. Die Teilung der britischen Kolonie in Indien und Pakistan nahm der
Stadt endgültig ihre wichtige Rolle als Handelsstadt. Durch die scharf bewachte
Grenze wurde die Route von Pakistan nach Indien vollständig gekappt. Der
einzige Grenzübergang liegt hunderte Kilometer weiter nördlich bei Amritsar.
Keine hundert Kilometer von Jaisalmer entfernt, zieht sich die Grenze hunderte
Kilometer durch die Wüste. Schmuggel hat immer noch Bedeutung. Doch im
Wesentlichen prägt heute der Tourismus die Stadt. Ähnlich wichtig ist die
strategische Lage als Grenzposten für das Militär. Auch der Flughafen dient
inzwischen nur noch militärischen Zwecken.
Nachdem drei sympathische Reisende im
Hotel eingecheckt hatten, beschloss ich gemeinsam mit ihnen auf Kamelsafari zu
gehen. Eine Übernachtung in der Wüste wollte ich mir auf keinen Fall entgehen
lassen. Wir fuhren mit dem Jeep 60 km bis in den Desert National Park. Hier
verwandelte sich die Stein- in eine Sandwüste. Wir besichtigten zunächst ein
kleines Wüstendorf. Dann ritten wir über eine Stunde auf Kamelen, um den
Sonnenuntergang in der Wüste zu erleben.
Wer schon einmal auf einem Kamel
geritten ist, weiß: Das ist kein Vergnügen, sondern ein Härtetest für das
Knochengerüst. Manche werden sogar seekrank von dem schaukelnden Gang der Tiere
– nicht umsonst nennt man sie »Wüstenschiffe«. Anschließend gab es ein Mahl und
unsere drei einheimischen Begleiter spielten orientalische Klänge auf Trommeln
und einem einfachen Seiteninstrument. Beeindruckt hat mich dabei einer meiner
Begleiter – ein Franzose. Durch Reisen in der algerischen Wüste, der seine
Vorfahren entstammten, kannte Akim die Wüste gut. Bei einem Motorradunfall hatte er vor Jahren ein
Bein verloren. Doch er hatte sich zurück ins Leben gekämpft und ließ sich nicht vom
individuellen Reisen in die entlegensten Länder abbringen. Nun tanzte er ausgelassen auf einem Bein. Ich bewunderte, welche Kraft sein Lebensmut hatte.
Wir übernachteten auf Decken direkt auf
dem Wüstenboden und waren von einer himmlischen Ruhe umgeben. Ich sog sie tief
in mich ein. Es war Vollmond und bei meiner kleinen Wanderung über den Sand
fühlte ich mich, als würde ich über den Mond laufen. Nur war ich nicht
schwerelos. Im Gegenteil – es war ziemlich anstrengend zu laufen, während ich
immer tiefer in den Boden einsank. Durch die Helligkeit des Mondes war die
ganze Szenerie fast taghell erleuchtet. Ich fühlte mich von der Weite der Wüste
magisch angezogen. In meinen neu erworbenen weißen Gewändern und mit dem
inzwischen langen Bart sah ich auch aus wie ein Wüstensohn.
Seit 1986 wird Wasser über den 500
Kilometer langen Rajasthan-Kanal vom Punjab aus nach Jaisalmer geleitet. Erst
dadurch wurde mehr landwirtschaftliche Nutzung möglich. Mit der Bewässerung
verzehnfachte sich die Bevölkerung und die Thar gilt als das am dichtesten
bevölkerte Wüstengebiet weltweit. Doch die Wüstenbildung schreit voran. Durch
Abholzung und Überweidung können die Böden immer weniger Wasser speichern und
der Grundwasserspiegel sinkt immer weiter. Das ist hier besonders verheerend,
da durch den Salzgehalt des Grundwassers keine Oasen existieren. Bei meinem
Besuch war der See außerhalb des Forts vollständig ausgetrocknet. Die Dürren
häufen sich immer mehr.
Am nächsten Morgen beschloss ich, das
Hotel zu wechseln, um der Vetternwirtschaft zu entkommen, in der ich mich seit
Jaipur bewegte. Bei meinem Auszug wollte mein »Freund« Suwai wissen, wohin es
mich zog. Meine anfängliche Sympathie für ihn war vollständig verschwunden. Nun
erschien er mir keinen Deut besser als die anderen Hotelbesitzer, die ich in
Pushkar kennen gelernt hatte – nämlich nur vordergründig freundlich und hinter
der Fassade ein eiskalter Geschäftsmann, der sich einen Dreck für andere
Menschen interessiert. Ich hatte keine Lust ihm zu sagen, wohin es mich zog.
Daraufhin verlangte er mehr Geld für das Zimmer. Aber ich ließ mir das nicht
gefallen und zahlte den vereinbarten Preis. Innerlich wurde ich stärker.
Doch wen sah ich keine dreißig Minuten
später im neuen Hotel? Suwai.
Nachdem mir Jaisalmer in den ersten Tagen
wie eine himmlische Oase schien, gingen mir die aufdringlichen Händler immer
stärker auf die Nerven. Manche waren richtig unverschämt und hatten offenbar
kein Gefühl dafür, dass ihr wenig subtiles Auftreten ihre Verhandlungsposition
keineswegs stärkte. Es war ein schwieriges Jahr für die Händler, die
Touristenzahlen waren eingebrochen. Dadurch standen sie in großer Konkurrenz
zueinander.
Doch zugleich liebte ich die Offenheit der
Menschen – das war genau das, was ich in Deutschland so oft vermisste. Oft
blieb ich irgendwo stehen und unterhielt mich zehn Minuten mit einem
Wildfremden. Meistens verblieben diese Gespräche völlig zwanglos und wo Worte
fehlten, ersetzten Gesten und Lächeln die Botschaft. Wir scherzten gerne über
das, was uns trennte und das, was uns verband. Ich fühlte mich eng mit den
einfachen Menschen verbunden. Sie waren nichts anderes als meine Brüder. Ich
mochte vor allem die Gelassenheit und die stoische Ruhe der alten Männer, die
sich durch nichts aus der Fassung bringen ließen. Anderseits verliefen viele
Gespräche sehr routiniert ab. Ein wahrer Fragenkatalog wurde abgefeuert:
What is your good
name? Where are you from? What is your profession? Are you married?
Egal wie weltoffen man ist, wenn man diese
Fragen das zwanzigste Mal am Tag hört, bekommt man einen Overkill. Außerdem ist
die Wahrscheinlichkeit hoch, dass als nächstes die Einladung in den
nächstgelegenen Shop folgt. Ich gab mir jedoch größte Mühe höflich zu bleiben
und ein gutes Bild abzugeben. In gewisser Weise verstand ich mich als
Botschafter. Denn ich erlebte immer
wieder unverschämte Touristen, die sich einen Dreck um Kultur und die Belange
der Menschen kümmerten. Dem wollte ich etwas entgegen stellen. Viele Reisende
fuhren immer diese Schiene und gingen mit Tunnelblicken völlig unnahbar durch
die Straßen. Sie ignorierten alles und jeden und wurden laut, wenn man ihnen zu
nahe kam. Das wollte ich nicht, auch wenn ich wusste, wie viel einfacher ich
mir das Leben hätte machen können. Schließlich war ich nach Indien gereist, um
vor allem die Menschen kennen zu lernen und so viel wie möglich über die
Kulturen Indiens zu lernen. Und ich wollte die wertvollen Begegnungen nicht
missen. Oft fühlte ich mich enger mit den Einheimischen als mit anderen
Reisenden verbunden.
Suwai tauchte immer wieder in meinem neuen
Hotel auf und immer deutlicher kam ein unerträglicher Prahler zum Vorschein.
Doch was mich an diesem ganzen eitlen Zirkel von Gasthausbesitzern am meisten
abstieß, war ihre vollständige Missachtung der Menschen, die für sie
arbeiteten. »Everything is possible in India«, sagten sie ständig. Doch ihre
Bediensteten behandelten sie wie Dreck, so als wären sie Könige.
Gerne hätte ich ihnen zugerufen: »Ja, fast
alles ist möglich, aber eben nur
für euch und auf Kosten anderer!« Es
machte mich zunehmend wütend. Denn hinter den
Kulissen schuften Niedriglöhner, um die Fassade für die Mittel- und Oberschicht
aufrecht zu halten, für die, die es sich leisten können. Ich habe mich immer wieder bemüht, das
Kastenwesen zu akzeptieren, da es auch von vielen Menschen, die unten stehen,
als etwas Notwendiges, eine Art gesellschaftlicher Ordnung, akzeptiert wird,
aber es ist mir nicht gelungen. Offiziell ist das Kastenwesen abgeschafft; doch
es spielt noch immer eine große Rolle im täglichen Leben. Das Erbe Gandhis wird
völlig missachtet.
Als ich Suwai meinen endgültigen Abschied
aus Jaisalmer ankündigte, fragte er mich, ob ich schon in Jaipur gewesen sei.
Als ich das bejahte, hakte er nach, ob ich nicht nochmal hinfahren wolle; er
wollte mir gerne jemandem vorstellen und würde für Unterkunft und Fahrtkosten
aufkommen. In diesem Moment schloss sich der Kreis und ich war 100 % sicher,
wen ich da wohl treffen würde. Das konnte nur Krishna sein, der versucht hatte,
mich für das Juwelengeschäft zu begeistern. Aus einer Laune heraus sagte ich
ihm, ich wisse ganz genau, wen er mir vorstellen wolle. Für einen Moment war er
völlig baff, denn ich lag richtig. Suwai war entgangen, dass ich den Kreis vom
Ende aufgerollt hatte. Er sah vorläufig ein, dass er auf Granit biss. Er
versprach mir jedoch, ich könne ihn immer anrufen – egal wo ich mich in Indien
befände – zehn Minuten später sei jemand mit meinem Namen auf einem Schild in
meiner Nähe. Keine wirklich beruhigende Vorstellung!
Epilog
Es erscheint völlig absurd, dass ich
trotzdem und erneut einem seiner „Tipps“ folgte und tatsächlich auch in Jodhpur
in dem von ihm empfohlenen Hotel abstieg.
Es war wieder mein verquerer Stolz und meine Harmoniesucht,
denen ich folgte, ich wollte mich in jedem Fall sauber aus der Geschichte ziehen,
ohne mein Gesicht zu verlieren. In dem Gasthaus forderte mich die Hausherrin
dazu auf, den Preis für mein Zimmer selbst zu bestimmen, war dann aber mit dem
Gebot nicht zufrieden und wenige Minuten später reichte sie mir das Telefon,
Suwai wolle mich sprechen. Er sagte mir, dass ich zu wenig für mein Zimmer
zahlen würde. Ich wies ihn darauf hin, dass dies eine Sache zwischen der
Hausherrin und mir sei. Er ermahnte er mich, und forderte, ich müsse im
Gegenzug für das günstige Zimmer Werbung für sein Hotel machen.
Trotz meiner zunehmenden inneren Stärke,
fühlte ich mich weiter sehr einsam und ich wünschte mir nichts sehnlicher als
die Begegnung mit anderen Reisenden, mit denen ich ein Wegstück teilen konnte.
Und als ich schon verzweifelt sinnierte, ob ich mich mit einem Schild auf den
Marktplatz stellen sollte, mit der Aufforderung mich einzusacken, traf ich
zufällig auf Neo am "Omelette Shop".
Neo stammte aus den U.S.A. und war mit einem Pärchen unterwegs
und nachdem ich ihm von den Fallstricken meiner Reise berichtet hatte, bot er
mir ohne zu zögern an, ich könne mich ihnen anschließen. Und so kam es. Wir
konnten noch ein Ticket für denselben Bus nach Mount Abu erstehen und ich
änderte meine Reiseroute sehr gerne für die angenehme Gesellschaft. Meiner
Hausherrin erzählte ich, ich würde wie geplant nach Udaipur weiterreisen und
ließ mir ein Hotel empfehlen, um es meiden zu können. Damit schloss sich auch
dieser Kreis und ich war nicht traurig Suwai und Konsorten fortan nicht mehr zu
begegnen. Suwais Visitenkarten nutzte ich fortan, um vor seinen Machenschaften
zu warnen.