Nur noch eine letzte Fahrt mit dem Nachtbus trennte mich noch von den Stränden Goas. Dort würde meine Reise vorläufig enden. Ich hatte mir in der Einsamkeit und Beklemmung in den Bergen Kaschmirs geschworen, an Weihnachten im Kreis meiner Familie zu sein und meine Freunde zu besuchen, bevor ich meine Reise fortsetzte.
Auf der Fahrt
fielen mir schwere Steine vom Herzen; eine wahre Odyssee lag hinter mir. Meine
Reise hatte nicht gerade unter besonders günstigen Sternen gestanden: Waldbrände
und Bombenanschlag in Athen, schwere Überschwemmungen in Istanbul, Paranoia in
den Bergen von Kaschmir, windige Mafiosi in Rajasthan, Zyklon über Bombay. Die
hektische Stadt hatte ich am Rande des Nervenzusammenbruchs erlebt. Es schien
mir fast, als wolle mich Bombay mit Haut und Haaren verschlucken. Nun sehnte
ich das Erreichen der letzten Station meiner Indienreise herbei. Ich war davongekommen und trug zugleich viele Entdeckungen in
meinem Herzen. Es fühlte sich an, als hätte ich eine schwere Prüfung bestanden.
Unterwegs kam
ich in den zweifelhaften Genuss, mir ein 80 Zentimeter breites Doppelbett mit
einem Unbekannten zu teilen. Der angehende indische Geschäftsmann, der zu
meinem unfreiwilligen Gefährten geworden war, blickte mich entsetzt an, als er
sein Dilemma erkannte. Er befand sich auf dem Weg zu seinem neuen Arbeitsplatz
in Goa und konnte sich offensichtlich Besseres vorstellen, als sein Bett mit
einem bärtigen Hippie zu teilen. Stammelnd fragte er mich, ob ich schwul sei.
Doch ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen.
Nach langer
Fahrt erreichte ich einen belebten Strand im Süden Goas. Der Bundesstaat zieht
sich über 100 Kilometer in einem schmalen Streifen am Arabischen Meer entlang.
Ich blickte über eine sichelförmige Bucht, die an beiden Enden von Felsen
eingerahmt war. Palmen, Holzhütten, Bars, Restaurants und kleine Läden säumten
die Strandpromenade. Ich setzte mich in den Sand, lauschte dem beruhigenden
Rauschen des Meeres, sog den Salzgeruch tief in mich auf, ignorierte die
Schlepper und wollte bleiben.
Eine halbe Stunde später bezog ich die erste Kokoshütte meines Lebens. Es war das erste Mal seit Istanbul, dass ich mich wieder am Meer befand. Seitdem hatte ich 3000 Kilometer in Indien zurückgelegt. Den ersten Vollmond sah ich im Himalaja, den zweiten in der Wüste, beim dritten lag ich im Ozean.
Eine halbe Stunde später bezog ich die erste Kokoshütte meines Lebens. Es war das erste Mal seit Istanbul, dass ich mich wieder am Meer befand. Seitdem hatte ich 3000 Kilometer in Indien zurückgelegt. Den ersten Vollmond sah ich im Himalaja, den zweiten in der Wüste, beim dritten lag ich im Ozean.
Am Anfang fiel
es mir schwer, Kontakte zu knüpfen und die Einsamkeit zu durchbrechen, die
meine Reise oft geprägt hatte. Zunächst beschränkte ich mich auf einsame Wanderungen an den Stränden der Umgebung. Ich hatte kaum Zeit zum Luftholen gefunden, wenige Häfen, in denen ich zur Ruhe kam. Eigentlich war ich aufgebrochen, um mich von den anstrengenden Jahren, die
hinter mir lagen, zu erholen. Stattdessen war meine Reise zu einer Tortur
verkommen. Statt zu relaxen, hatte ich mich mit immer neuen Herausforderungen
konfrontiert und mich mit einer beachtlichen Zielsicherheit in unangenehme
Situationen gebracht. Auf der anderen Seite war mein
Kopf voll von Eindrücken und ich war ein wenig stolz, dass ich trotz aller
Widrigkeiten nicht aufgegeben und es bis hierhin geschafft hatte. In einer der
wenigen ruhigen Minuten in meiner Zelle in Bombay hatte ich noch einmal die
Indienkarte zur Hand genommen und meine Route nachvollzogen. Erst da war mir
richtig klargeworden, welch riesige Strecken ich in Windeseile zurückgelegt
hatte. Nun wollte ich zur Ruhe kommen.
Und es war an der Zeit mich wieder FÜR etwas zu entscheiden. Und so folgte
ich der Einladung zu einem „Eastern/Western-Konzert“. Ich hoffte an dem Abend
Kontakte zu knüpfen. Als ich ankam, blieb mir jedoch zu meiner Enttäuschung nur
ein einsamer Tisch direkt vor dem Musikensemble. So vertiefte ich mich ganz in
die Musik und nach kurzer Zeit war meine Schwermut weggeblasen. Die Sängerin
vor mir hatte eine phantastische Stimme, sang auf Französisch, Englisch und
Hindi; sie war sinnlich, strahlte Energie und Hingabe aus. Sie wurde von einem
indischen Tablaspieler und einem Querflötenspieler begleitet, der seinem
Instrument Jazz entlockte. Sie harmonierten perfekt.
Auch die Texte sprachen mich an. The warrior walks alone schien ein Sinnbild für meine Reise zu sein. It doesn’t really matter, where we go sang sie – entscheidend war die innere Haltung. Bald setzt sich Thomas zu mir, ein langhaariger, aufgekratzter, muskulöser Typ. Durch seine mitreißende und offene Art fühlte ich mich sofort mit ihm verbunden und wir teilten mein letztes Charras aus Manali. Ihm gefiel die Odyssee des langbärtigen Reisenden, der seinen Weg in Bussen und Bahnen von Kaschmir über Himayal Pradesh, Rajasthan, Gujarat und Bombay hierher gemacht hatte und es war ihm ein Spaß, mich den Anderen als positiv-verrückten Einzelkämpfer vorzustellen. Bald bezog ich einer der Strandhütten.
Auch die Texte sprachen mich an. The warrior walks alone schien ein Sinnbild für meine Reise zu sein. It doesn’t really matter, where we go sang sie – entscheidend war die innere Haltung. Bald setzt sich Thomas zu mir, ein langhaariger, aufgekratzter, muskulöser Typ. Durch seine mitreißende und offene Art fühlte ich mich sofort mit ihm verbunden und wir teilten mein letztes Charras aus Manali. Ihm gefiel die Odyssee des langbärtigen Reisenden, der seinen Weg in Bussen und Bahnen von Kaschmir über Himayal Pradesh, Rajasthan, Gujarat und Bombay hierher gemacht hatte und es war ihm ein Spaß, mich den Anderen als positiv-verrückten Einzelkämpfer vorzustellen. Bald bezog ich einer der Strandhütten.
Am Vormittag hörten wir nepalesische Musik und genossen die Ruhe, bevor die ersten Gäste von außerhalb eintrudelten. Dann waren meist ein paar interessante Typen angekommen, mit denen es sich lohnte, Geschichten auszutauschen.
Die natürliche Meeresbucht in der unser Domizil lag, erinnerte an eine Lagune. Sie ist von einem Felsen geprägt, der die Bucht in zwei Bereiche teilt. Von seiner Spitze hat man ein wundervolles Panorama über die ganze Bucht. Rechts vom Felsen blickt man auf die Fischerboote der Einheimischen. Gerne betrachtete ich von dort oben aus den magischen Sonnenuntergang und die goldene Welle, die sich bei Flut im letzten Glanz der Abendsonne in der Bucht bricht.
Die Bucht ist der einzige Ort in der näheren Umgebung, an dem die Einheimischen noch nicht vollständig vom Strand verdrängt worden sind. Viele vermieten ihre Häuser an Langzeitgäste und schlafen selbst auf den Veranden der Häuser. Nach wie vor gibt es auch Fischer, doch viele Bootsbesitzer sind dazu übergegangen, ihre Boote für Touren zu versteckten Buchten oder für die Besichtigung von Delphinen anzubieten.
Die Lagune liegt
zwischen zwei beliebten Stränden und hat doch eine ganz eigene Atmosphäre. Es
ist erstaunlich, dass sich verhältnismäßig wenige Touristen hierher verirren.
In die Bucht zieht es vor allem Menschen, die sich länger niederlassen wollen.
Wichtiger als die pure Schönheit der Lagune war für mich die Besatzung meines kleinen Paradieses:
Wichtiger als die pure Schönheit der Lagune war für mich die Besatzung meines kleinen Paradieses:
Noah war der Chef des Restaurants. Seine natürliche Herzlichkeit sprang sofort auf mich über und ich schloss ihn auf Anhieb in mein Herz. Er stammt aus Nepal und war schon als Jugendlicher in den Hotelbetrieb seines Vaters in Kathmandu eingestiegen. Er hatte früh gelernt, sich auf die Bedürfnisse von ausländischen Gästen einzustellen, deren individuelle Sichtweise sich grundlegend von der asiatischen unterscheidet, die sich viel stärker auf das Familiensystem oder das Kollektiv bezieht. Gerade volljährig, hatte es ihn nach Südindien gezogen. Zunächst war er ein einfacher Angestellter in einem kleinen Resort. Dabei erwies er sich als so geschickt, geschäftstüchtig und kreativ, dass er bereits im zweiten Jahr zum Partner eines Engländers in einem Restaurant mit Strandhütten aufstieg. Nachdem der sich ein Jahr später vollständig aus dem Geschäft zurückzog, übernahm er den Laden und machte ihn schnell zu einer beliebten Adresse am zunehmend umkämpften Hauptstrand.
Dort hatte er Axelle kennen gelernt. Sie war jene Sängerin, deren Performance mir die Magie des Ortes eröffnet hatte. Der künstlerische Ausdruck war ein zentrales Element in ihrem Leben. Sie studierte seit Jahren indische Musik. Ihre künstlerische Ader bewirkte, dass sich viele andere Kreative angezogen fühlten. Das war von Anfang an Teil des Konzepts – einen Ort zu schaffen, an dem Raum für Inspiration und Begegnung von Künstlern entstand. Sie hatte klare Vorstellungen von ihrem Leben, doch eines war ihr noch wichtiger: dass sie immer einen offenen Raum vor sich fand, den sie gestalten konnte.
Nach der
Geburt ihrer gemeinsamen Tochter June hatten sie gemeinsam das neue Restaurant
in der ruhigeren Bucht aufgebaut. June ist ein unglaublich fröhliches Kind mit
einer unbändigen Kraft und einer Ausstrahlung, die jedem ein Lächeln ins
Gesicht zaubert.
Thomas managte die sechs Hütten neben dem Restaurant. Wer seine kräftige Statur und sein jugendliches Wesen erlebte, glaubte kaum, dass er bald 50 werden würde. Seit einigen Jahren zog es ihn für die Hälfte des Jahres nach Goa. Er ließ sich durch nichts verbiegen, beschritt konsequent seinen eigenen Weg und lebte seine Träume. Für mich war er der „high-powered mutant“ – too weird to live, to rare to die – aus „Fear and Loathing in Las Vegas“, ein Hightech-Hippie, Musikproduzent, ein Lebemann im Hier und Jetzt. Er hatte seine Schlachten auf Jamaika, in San Francisco, Paris, Goa und anderen Orten geschlagen. Ich stand noch am Anfang meiner asiatischen Jahre.
Wir erlebten grandiose Abende, doch im Gegensatz zu mir saß er nach einer durchzechten Nacht wie eine Eins am Frühstückstisch und verbreitete schon wieder gute Stimmung. Frauen zog er magisch an. Gerne präsentierte er mir neue weibliche Gäste mit den Worten „it is a present for you!“ Er war gerne ein Spaßvogel, aber niemals ein Leichtgewicht. Wenn es drauf ankam stand er wie ein Fels. Er bespielte auch die Bar und bis heute erklingen Perlen von diesem Erbe aus meinen Boxen.
Besonders viel
Freiheit empfand ich durch meine Erkundungsfahrten mit dem Scooter. Es waren
meine ersten Erfahrungen mit einem fahrbaren Untersatz, seit ich
führerscheinlos einen geparkten Mazda gerammt hatte. Am Anfang war ich etwas
unsicher, schließlich hatte ich keine Fahrerfahrung und der indische Verkehr
ist gewöhnungsbedürftig: Man kommt nicht umhin, sich die Straßen mit verrückten
Verkehrsteilnehmern, törichten Hunden und den stoisch vor sich hin trottenden
Kühen zu teilen, die sich durch nichts beeindrucken lassen. Man sollte eine
Kollision mit den ehrenwerten Tieren in jedem Fall vermeiden, wenn man es nicht
darauf anlegt, von einem wütenden Mob niedergeknüppelt zu werden. Dazu kamen
die Busse, die ohne Rücksicht auf Verluste durch die Gegend rasen. Die Straßen
sind zum Teil sehr gut, andere Abschnitte präsentieren sich in katastrophalem
Zustand und voller Schlaglöcher. Nachts kann man in Erfahrung bringen, dass
viele Scooter entweder ausschließlich Fern- oder gar kein Licht besitzen. Man
muss immer auf der Hut sein. Doch schnell fand ich Sicherheit und genoss die
Fahrten durch phantastische Dschungellandschaften, an den wenigen abgelegenen
Stränden entlang und durch kleine Dörfer hindurch. Wilde Felsen, raue Brandung,
das Rauschen der Wellen, goldene Sonne, die Weite des arabischen Meers, versteckte Buchten. Freiheit
pur!
Mein
Lieblingsplatz war einer der letzten einsamen Strände im Süden. Er wurde zu
meinem persönlichen Kraftort. Steile Klippen überragen den perfekten
Palmenstrand.
Abgesehen von Wellengang und Wind war es dort vollkommen still. Nach einem ausgedehnten Bad stand ich wieder auf den Felsen und blickte über eine kilometerlange Bucht, sah dem Farbenspiel des Sonnenuntergangs zu, bis ich in vollkommener Dunkelheit die Rückfahrt antrat. Ein Ort, an den ich fuhr, wann immer ich auftanken wollte.
Abgesehen von Wellengang und Wind war es dort vollkommen still. Nach einem ausgedehnten Bad stand ich wieder auf den Felsen und blickte über eine kilometerlange Bucht, sah dem Farbenspiel des Sonnenuntergangs zu, bis ich in vollkommener Dunkelheit die Rückfahrt antrat. Ein Ort, an den ich fuhr, wann immer ich auftanken wollte.
Eine Abwechslung
waren die seltenen Ausflüge ins Landesinnere. Das hügelige Hinterland ist mit Bambus und Farnen bewachsen, und in Lagen
von über 500 Metern erstrecken sich immergrüne Feuchtwälder.
Das Tiefland ist stärker vom Ackerbau geprägt.
Gerne fuhr ich auch an den Mangrovenwäldern der Flussmndungen und an kaum besuchten Stränden zu Joseph, dem immer lächelnden Chef einer Strandbar. Hier lockten Wellen, Hängematten und frische Seefrüchte aller Art.
Das Tiefland ist stärker vom Ackerbau geprägt.
Gerne fuhr ich auch an den Mangrovenwäldern der Flussmndungen und an kaum besuchten Stränden zu Joseph, dem immer lächelnden Chef einer Strandbar. Hier lockten Wellen, Hängematten und frische Seefrüchte aller Art.
Noah, Junkerry
und Thomas waren ein eingespieltes Team und so gelang es ihnen fast spielerisch
eine Atmosphäre zu schaffen, in der ich mich sofort
wohlfühlte. Es war für sie ein Zuhause, das spürte
ich auf Anhieb. Auch andere Aussteiger wurden von diesem Ort magisch angezogen.
Die Begegnungen mit denen, die sich wie ich auf die Suche nach einem anderen
Leben gemacht hatten, bereicherten mich enorm. Manche hatten dieses Leben schon
gefunden. Sie folgten ihrer Intuition, einer inneren Überzeugung, die zur
Bestimmung geworden war. Sie hatten aufgehört, ihre Ziele zu stark zu
hinterfragen. Eines ergab sich aus dem anderen. Das wollte auch ich lernen.
Meistens waren es sehr einfühlsame Menschen, die für andere ein offenes Ohr
hatten. Es war für sie eine Selbstverständlichkeit, die Einheimischen mit dem
gebotenen Respekt zu behandeln. Seit Langem hatte ich wieder das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Das war mein Tribe.
Natürlich
mussten die Drei mit ihrem Geschäft genug verdienen, um im Sommer in Europa
über die Runden zu kommen. Freitags zur Live-Music war es wichtig, dass der
Laden voll war. Es war der Höhepunkt der Woche und ich wurde nie müde den
vertrauten Liedern zu lauschen, Bekanntschaften aufzufrischen und mich an
„Wodka Melon“ zu laben. Alles war gut, solange ich mich nicht an dem „Old Monk“
vergriff, einem heimtückischen indischen Rum, vom goanischen „Feni“ ganz zu
schweigen. Am besten gefiel mir, wenn der Strom ausfiel und nur Kerzen das
Restaurant beleuchteten. Manchmal zelebrierte einer der Nepali eine Feuershow
am winzigen Sandstrand vor dem Felsen.
Im Wesentlichen standen aber eine relaxte, angenehme Atmosphäre und persönlicher Kontakt im Vordergrund. Die richtigen Menschen fanden automatisch hierher und verbreiteten über Mundpropaganda das Wort. Sicher gab es auch die, die ihre Individualität so stark auslebten, dass sie anderen den Raum nahmen. Es kam durchaus vor, dass solche Gäste freundlich gebeten wurden, sich nach einer anderen Unterkunft umzusehen.
Noah wählte jedes Jahr in
Nepal die Angestellten für die Saison aus und brachte ihnen alles bei, was sie
über das Geschäft wissen mussten. Über mehrere Saisons hinweg konnte ich
beobachten, wie innerhalb kurzer Zeit aus schüchternen Jungs gestandene Männer
wurden, die genau wussten, worauf es ankam. Sie legten großen Arbeitseifer in der Küche und im Service an den Tag. Es
war ihre Chance, Fuß im Tourismus zu fassen, und sie gaben alles dafür.
Weltklasse, wie sie mit bescheidenen Mitteln phantastische Speisen auf den
Tisch zauberten. Im Gegensatz zu vielen Restaurants am Strand war das Ziel
nicht, alle Küchen der Welt anzubieten und davon nur einen Bruchteil zu
beherrschen; alles, was auf der Menükarte stand, war eine Köstlichkeit. Es gab
Momos und aufwendige Thali-Varianten, frisch gefangenen Fisch, Krebse und
Garnelen und allerlei andere Delikatessen. Gerne gesellte ich mich zu
ihnen, um zu plaudern, mir von Nepal erzählen zu lassen oder ihnen
bei der Arbeit zuzusehen.
Zweimal am Tag konnten wir das Spiel von Ebbe und Flut beobachten. Der Wasserstand variiert um gut einen Meter, was den Blick auf die Bucht fortwährend verändert.
Bei Vollmond strömt das Meer bis vor die neben dem Restaurant gelegenen Hütten. Vom gemütlichen Chill-Out-Bereich inmitten des Restaurants, unserem Wohnzimmer, hatten wir die Bucht direkt vor Augen. Ich ruhte immer stärker in mir selbst, zugleich fühlte ich mich, als würde ich ein wenig schweben. Es erleichterte mich sehr, dass ich meine Reise doch noch zu so einem runden Ende bringen konnte.
Möglicherweise waren es gerade die schwierigen Phasen meiner Reise, die mich hierher geführt hatten. Hier hatte ich endlich die richtigen Menschen um mich herum entdeckt und ich genoss es sehr, die letzten Wochen meiner Reise gemeinschaftlich mit ihnen zu teilen.
Goa war meine
erste richtige Begegnung mit dem Hippie-Trail. In den 60er- und 70er-Jahren
waren die Hippies von Istanbul aus über den Iran und Afghanistan bis nach
Indien, Nepal, Ceylon (Sri Lanka) oder Thailand gereist. Goa war einer der
Sehnsuchtsorte ihrer langen Reise, die in Nordamerika und Europa begonnen
hatte. Sie fanden ein Paradies vor. Sie stießen auf kleine Fischerdörfer und
einsame Strände. Der Tourismus spielte eine Nebenrolle und öffentliche
Verkehrsmittel fuhren selten. Die Aussteiger flüchteten vor den zunehmend
anonymen, karriere- und geldorientierten westlichen Gesellschaften und waren
voller Hoffnung im mystisch aufgeladenen Osten nach ihren Vorstellungen leben
zu können. Mithilfe von Yoga, Meditation und Drogenerfahrungen versuchten sie,
den Verstand als Werkzeug einzusetzen und nicht mehr von ihm beherrscht zu
werden, frei nach Timothy Learys Slogan „turn on, tune in, drop out“. Sie
suchten nach kreativem Ausdruck, Magie und einem neuen Lebenssinn. Für viele
war Goa nicht in erster Linie ein physikalischer Ort, sondern ein state of
mind. Viele Hippies übernachteten draußen unter dem Sternenhimmel. Sie
lebten oft in kleinen Gruppen, wie in selbstgewählten Familien. Viele Kinder
wurden in Goa geboren. Die Dropouts blieben für Monate oder Jahre.
Manche fühlten sich so wohl, dass sie niemals wieder weggingen. Die Goaner
waren weltoffen und gastfreundlich. Die Aussteiger fanden fruchtbaren Boden
vor.
Goa war 450
Jahre lang portugiesische Kolonie und wurde erst 1961 von Indien in einem
Handstreich annektiert. Viele Goaner waren davon wenig begeistert. Die
verfallene Hauptstadt Old Goa war zu ihrer größten Blütezeit mit 300 000
Einwohnern deutlich größer als London. Von hier aus verwalteten die Portugiesen
ihre Kolonien in Asien. Die Terrassen und Säulenhallen alter Häuser mit ihren
bunten Fenstern sind neben den weißen Kirchen und den portugiesischen Orts- und
Familiennamen Zeugen dieser Vergangenheit. Auch die einheimische Sprache
Konkani ist durchsetzt von portugiesischen Wörtern.
Der große
Zustrom von Touristen setzte in den 80er- und 90er-Jahren ein, als Raver in
Scharen nach Goa kamen. Zwischen 1982 und 1985 legten viele DJ`s in Goa nicht
mehr Reggae und Psychedelic Rock auf, sondern verlegten sich auf elektronische
Musik. Der „Goa-Trance“ wurde in Europa und Goa
weiterentwickelt. Viele der Aussteiger, die bisher auf Ibiza einen rechts- und
normenfreien Platz für ihren Lifestyle gefunden hatten, suchten nun in Goa ihr
Glück. Die Einflüsse
von Acid- und Gegenkultur der 60er-Jahre blieben unverkennbar. Die DJ`s versuchten, die Effekte von LSD mithilfe dem Stakkato
einer großen Trommel, indischen
Musikeinflüssen, „außerweltlichen“ Klängen und hypnotischen Klangfarben zu
simulieren. So waren die Partys eine Art moderne Initiation.
Die von Rucksacktouristen
und den während der 1960er-Jahre ausgewanderten und noch heute in Indien
ansässigen Hippies beeinflusste Goa-Kultur propagiert eine lebensbejahende
Sichtweise, und ist stark mit den Ideen und Symbolen der 68er-Bewegung,
buddhistischer Philosophie und Schamanismus verbunden. Weiter entfernt von den
protestantisch geprägten Vereinigten Staaten von Amerika und seinen Puritanern oder dem konservativen Europa der Nachkriegszeit
konnten sie sich kaum positionieren.
Der Begriff
„Goa-Trance“ hat sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt. In seiner Hochphase
zwischen 1994 und 1998 wurden wilde »Full Moon Partys« gefeiert, die nur noch
wenig mit den Lagerfeuern der Hippies am Strand gemein hatten. Goa war längst
zu einer Marke mutiert und begann aus allen Nähten zu platzen.
Doch nachdem die indische
Regierung Reformen beschloss, die die Freiheiten der Aussteiger deutlich
einschränkten und sich zunehmend der Pauschaltourismus etablierte, kehrten
viele Dropouts Goa den Rücken. Auch die Full
Moon Partys fanden im Jahr 2000 ein jähes Ende, als man laute Musik nach 22.00
Uhr verboten hat. Danach verlagerten sich die Partys nach Thailand, und mit
ihnen zogen viele Raver und Partybegeisterte weiter. Die Partys wurden selten,
denn abgesehen von der Silvesternacht sind die meisten illegal. Zum Bruch kam
es wohl auch, weil die Drogen sich veränderten. Aus Marihuana und Opium wurden
Kokain und Heroin, die Musik wurde immer schneller getaktet und das
Gemeinschaftsgefühl ging den Bach hinunter.
Trotz allem
blieb der Ansturm auf Goa ungebrochen. Überall wurden Resorts aus dem Boden
gestampft. Pauschaltouristen begannen, die Strände zu belagern. Einsame Strände
muss man inzwischen mit der Lupe suchen. 200 000 ausländische Touristen und
zwei Millionen Inder zieht es jedes Jahr nach Goa. Dem stehen 1,5 Millionen
Goaner gegenüber.
Doch es gibt
auch heute noch Orte, an denen sich Goa etwas von seinem einstigen Flair
bewahrt hat. Dort herrscht noch immer eine sehr relaxte Atmosphäre. Manchmal
fühlte ich mich wie in einem »Global Village«, in dem sich westliche und
indische Kultur begegnen konnten und sich vermischten. Dabei öffnen sich
spannungsgeladene interkulturelle Räume. Sinnsuchende, Hippies, Technofans,
Künstler, Rebellen, Yogabegeisterte, Sonnenanbeter, Trinker, Junkies,
gescheiterte Existenzen und Träumer werden von diesem Goa noch immer magisch
angezogen.
Manche
verwirklichen den Traum von der Selbstständigkeit im Paradies. Das funktioniert
aber nur mit einem indischen Strohmann, da Ausländern inzwischen der Kauf von
Land untersagt ist, nachdem Goa der Ausverkauf gedroht hatte. Der Wettbewerb
ist immer härter geworden. Die Lizenzen für ein Restaurant, den
Alkoholausschank und die Vermietung von Hütten sind inzwischen so teuer, dass
sich ein Geschäft oft nur in der Illegalität und mit der Zahlung von
Schmiergeldern lohnt. Dadurch besteht ständig die Gefahr, alles zu verlieren.
Jedes Jahr wurden Exempel statuiert und illegale Resorts mit dem Bulldozer
niedergewalzt.
Trotzdem
dachte auch ich öfter daran, mich länger niederzulassen und meinen eigenen
Wohlfühlort für mich und andere zu schaffen. Allerdings hatte meine absurd
zustande gekommene Aushilfstätigkeit an der Bar den Schluss nahegelegt, dass
ich damit noch etwas warten sollte. Ich war eigentlich kein schlechter
Barkeeper, wenn man berücksichtigt, dass nachher alle Kunden im Koma lagen.
Und noch etwas
stieß mir auf. Es war die Selbstgefälligkeit, die manche Aussteiger
ausstrahlten, die sich schon (zu) lange nur in ihrer eigenen Filterblase
befanden. Die von nichts anderem als von „Peace & Happiness“
schwadronierten, die längst vergessen hatten, dass sie in Indien lebten und von
einer Welt profitierten, die ihnen den Platz an der Sonne beschert hatte. Ich hatte nicht vergessen,
was außerhalb dieses Paradieses vor sich ging. Es war unmöglich, nachdem ich
gerade hautnah erlebt hatte, wie die Lebensrealität hunderter von Millionen
Inder aussieht.
Außerdem bin ich davon überzeugt, dass
der Glanz verblasst, wenn man sich ausschließlich auf das Licht starrt und die
Schatten ignoriert. Natürlich ist es wunderbar sein eigener Herr zu sein und
einen Traum zu verwirklichen, aber man sollte sich nicht so verdammt moralisch
überlegen fühlen, sondern dem Schicksal für so viel Glück danken und nicht die
Menschen vergessen, die nie so viel erreichen können. Sonst
droht das Paradies zur Hölle zu werden. Wie könnte man Glück
empfinden, wenn man nicht wüsste was Leiden bedeutet?
Zu Beginn der
neunziger Jahre war der Süden Goas ein Geheimtipp. Der Lonely Planet hat
das solange beschworen und die Welt hinausposaunt, bis es nicht mehr stimmte.
Seit kurzem stehen die Geldautomaten direkt am Strand. Die einstigen
Fischerdörfer im Hinterland der Strände wimmeln heute von Geschäften, die
jegliche Art von Souvenirs feilbieten. Es springt schon lange nicht mehr genug
für alle heraus, die sich mühen, ein Stückchen vom Kuchen abzukriegen. Die
meisten der fliegenden Händler, die Tücher, Kettchen, Räucherstäbchen und
ähnliche Kleinigkeiten anbieten, stammen aus den umliegenden Bundesstaaten und
versuchen der bitteren Armut zu entkommen.
Erfreulich ist
hingegen, dass eine ökologisch-nachhaltige Form des Tourismus einen Boom
erlebt. Gerade die vielen Aussteiger, die ein eigenes Geschäft auf die Beine
gestellt haben, verschreiben sich einer neuen Umweltverträglichkeit, die auch
von immer mehr Touristen eingefordert wird. Das betrifft den Aufbau von
Restaurants und Hütten ganz aus Sperrholz, den Umgang mit Abwässern oder das
Bereitstellen von Wasserfiltern. Andererseits sind die Strände im Zentrum Goas um
Neujahr mit Müll übersät und der Wasserverbrauch durch den Tourismus ist enorm.
Goa ist die Projektionsfläche für viel zu viele Träume geworden.
Yoga kann man
in Goa auch heute nicht entkommen Der esoterische Schnickschnack, dem vor allem
Yogalehrer und Einsteiger erliegen, ist bisweilen kaum zu ertragen. Nicht
überall, wo Shanti draufsteht, ist auch Shanti drin! Man kann
alles übertreiben.
Das ändert
nichts daran, dass ich Yoga als eine sehr anregende körperliche und sinnliche
Erfahrung erlebt habe. Gerade die Unterrichtsstunden bei dem nahezu blinden
Yogi, der zehn Jahre alleine in einer Höhle verbracht hatte, beeindruckten mich
nachhaltig und zeigten mir einen Einblick in die spirituelle Dimension der
Yoga-Philosophie. Dieser Art des Yoga mit Gebet, intensiven Atemübungen und
Meditationsphasen bringe ich großen Respekt entgegen. Der Versuch, Yoga
westlichen Bedürfnissen anzupassen, gelingt dagegen oft nicht. Power-Yoga ist
für mich nichts anderes als die Verkehrung des eigentlichen Gedankens, ein
bewusstes Leben zu führen. Yoga ist eine uralte Philosophie und keine
Gymnastik.
Eines Abends, an dem es
mal wieder keine Elektrizität gab, genossen wir im kleinen Kreis ein
„Candlelight-Dinner“ in der liebgewonnen Bar. Wir
beschlossen, den schneidigen Yogafreaks etwas hoch Sportliches entgegen zu
halten. Ich hatte in Manali eine rauchbare Kokosnuss erstanden. Der schrullige
Verkäufer, ein Landsmann, hatte sie an den Stränden Goas gesammelt und in
Manali bearbeitet. Ich hatte sie nun zurückgebracht und es schien mir
standesgemäß, sie dort einzuweihen, wo sie einst von der Palme gefallen war.
Als wir gerade erste Atemübungen mit dem neuen Sportgerät durchführten, kam Boris, der Stammgast schlechthin, von seiner ersten Yogastunde zurück. Er irittierte unfreiwillig die Einheimischen damit, dass er tatsächlich Rikschafahrer in München war. Er war völlig überdreht und strahlte eine befremdliche Begeisterung aus, wo wir doch gerade dabei waren, tiefenentspannt in unsere Sessel zu versinken. Ich murmelte: »Yoga is dangerous for Boris. Soon he will become a warrior and destroy everything«.
Als wir gerade erste Atemübungen mit dem neuen Sportgerät durchführten, kam Boris, der Stammgast schlechthin, von seiner ersten Yogastunde zurück. Er irittierte unfreiwillig die Einheimischen damit, dass er tatsächlich Rikschafahrer in München war. Er war völlig überdreht und strahlte eine befremdliche Begeisterung aus, wo wir doch gerade dabei waren, tiefenentspannt in unsere Sessel zu versinken. Ich murmelte: »Yoga is dangerous for Boris. Soon he will become a warrior and destroy everything«.
In dieser Stimmung nahm Boris
ein paar Züge durch die Kokosnuss und intonierte: »Yoga gives Power«. Erst
jetzt bemerkten wir, dass auch wir Yoga betrieben, eben Coconutyoga. An diesem
Abend wurde Mr. Coconutyoga geboren – mein Alter Ego. Der geschätzte Herr Coconutyoga wurde zu einer Visitenkarte, zu einer Marke,
nicht zu kontrollieren, geschweige denn zu vermarkten. Er musste fortan
für meine Fehltritte einstehen. Denn er ist eindeutig der Verrückte in meinem
Kopf, dafür ist sein Leben auch um einiges interessanter. Und ohne ihn wäre ich
wohl ein unerträglicher Moralapostel. Wenn er die Kontrolle übernimmt, schaut
der Analytiker und Vernünftige dumm aus der Wäsche –
aber selbst er kann sich ein Lächeln nicht verkneifen angesichts der puren
Sorglosigkeit, mit der dieser Unbelehrbare ins Fettnäpfchen tritt. Er hat keine
Zeit zum Grübeln, ist getrieben und muss eher zusehen, dass er nicht alles in
den Sand setzt – wobei ihm das in seiner Manie
bisweilen erschreckend egal ist.
Doch ich war
hier nicht allein mit meinem Wahnsinn. Beim Vergleich mit Südostasien erscheint
mir der Anteil der Sinnsuchenden in Indien deutlich größer. Zugleich findet man
aber auch die mit Abstand verrücktesten Typen. Der Grat zwischen Heiligen und
Wahnsinnigen ist nirgendwo so schmal wie in Indien – auch einer der Gründe,
warum ich begann, das Land so zu lieben.
Da war zum
Beispiel „Italian Baba“; wir hatten ihn so getauft, weil er die Kokosnuss wie
kein anderer rauchte. Er sprach ausschließlich Italienisch und scherte sich
nicht darum, ob man ihn verstand oder nicht. Ich habe selten einen härteren
Raucher, Trinker und Kiffer gesehen. Mit seinem massigen Körper steckte er fast
alles weg. Zum Morgen ein Bier und einen Joint, der mich ins nächste Eck
geschleudert hätte. Endgültig zum
Unikat wurde er, als er sich eines Morgens dem Restaurant mit einem Kajak von
der Bucht aus näherte. Noch beim Einlaufen orderte er einen Espresso und ein
Bier. Er landete an und setzte sich an die Bar. Aus seinen Taschen zog er
Bankkarte, Pass und Geld – alles völlig durchnässt. Das kümmerte ihn aber nicht
im Geringsten. Den wichtigsten Gegenstand hatte er ein weiteres Mal verpackt –
seinen Joint. Ungerührt steckte er diesen an und machte sich daran, die
italienische Sprache in der Welt zu verbreiten.
Ich verließ
Goa kurz vor Weihnachten, zwei Monate später war ich schon wieder zurück und setzte von dort aus meine Reisen fort. Auch in den
folgenden Jahren blieb die Lagune ein wichtiger Ankerplatz. Nach und nach erlebte ich alle
Phasen der Saison: den mühsamen Aufbau der Hütten, die gespannte Erwartung,
bevor die ersten Touristen kamen, den Höhepunkt mit Weihnachten und Sylvester
und das Ende, wenn alle Touristen abreisen und wieder Ruhe einkehrt.
Mitte April nach meiner Rückkehr war die Lagune
verwaist, die Hitze war gnadenlos. Der Monsun kündigte sich mit bleiernen
Wolkenfronten an, aus denen es noch nicht regnen wollte. Jeder Gedanke wog
Tonnen. Die Hütten würden bald wieder in ihre Einzelteile zerlegt und
eingelagert; der Gewalt des Monsuns hatten sie nichts entgegenzusetzen. Ein
halbes Jahr später würden die Hütten wieder aufgebaut und die Idealisten, die
Freaks, die Pauschaltouristen und Aussteiger wieder mit ihren Träumen und
Alpträumen einziehen.
Ich würde einer von ihnen sein.
Weiterführende
Links
Was
auf meiner ersten Indienreise zuvor geschah:
Nach
meiner ersten Rückkehr nach Goa setzte ich meine Reise in Nepal fort: