Samstag, 29. Dezember 2012

Reisereportagen: Si Phan Don


Si Phan Ndon - Flussarchipel mit üppiger Vegetation


Der Mekong:

Der Mekong ist die Lebensader Südostasiens. Von seinen Quellen im Osten Tibets fließt er durch die chinesische Provinz Yunnan hinab in den Süden. Nachdem er China verlässt, wird er zum Grenzfluss zwischen Myanmar und Laos und erreicht das goldene Dreieck – das Grenzgebiet zwischen Myanmar, Thailand und Laos, das als Opiumanbaugebiet berühmt-berüchtigt geworden ist. Von dort aus vollzieht er eine Schleife durch den Nordwesten von Laos, bevor er erneut zum Grenzfluss zwischen Thailand und Laos wird. Schließlich durchquert er Kambodscha und erreicht schließlich über das Mekong-Delta im Süden Vietnams das Meer.
Ich erreichte Laos an Bord eines Schiffes, das mich vom Norden Thailands bis zum spirituellen Zentrum Laos führte – der alten Königsstadt Luang Prabang – in der buddhistische Mönche weiterhin eine wichtige Rolle im Alltag spielen und sich gleichzeitig in Architektur und Küche ein deutlich französisches Kolonialerbe erhalten hat.

 Hier findet sich der ausführliche Bericht.


Meine Reise durch Laos war wesentlich von der vielfältigen Begegnung mit dem Strom geprägt – manchmal war er einen Kilometer breit und glitt friedlich dahin, dann verengte er sich wieder dramatisch zu Nadelöhren mit wilden Stromschnellen.

Nach einem kurzen Abstecher in den Nordosten von Laos - nahe chinesischen Grenze - folgte eine Querung von Laos auf der Nord-Südachse in Bussen aus unterschiedlichen Epochen - immer wieder entlang des Mekong und vorbei an Tropenwäldern, erodierten Hängen - Überreste der traditionellen Brandrodung, um neue Ackerflächen urbar zu machen - surrealen Karstfelsen, Pfahlbauten aus Holz, Reisfeldern mit ihrem betörenden Grün und ewig lockenden Bergen im Hintergrund.

Die charakterisitschen Karstfelsen in Zentral-Laos
 
Si Phan Don:

Schließlich erreichte ich das Meer von Laos. Betrachtet man die geographischen Verhältnisse Südostasiens, kann man angesichts eines vermeintlichen Meeres nur stutzen: Laos hat keinen Zugang zur Küste. Und doch erinnert der Mekong an dieser Stelle mehr an ein Meer als an einen Fluss. Während der Monsunzeit zwischen Mai und Oktober verbreitert sich der Strom auf 15 Kilometer. Während meiner Reise herrschte Trockenzeit und dennoch war der Anblick äußerst beeindruckend: Unter dem Druck einer mächtigen Strömung verteilen sich die Wassermassen kilometerlang auf mehrere Kanäle zwischen denen einige größere, bewohnte und unzählige kleinere Inseln liegen. Daher stammt auch der Name Si Phan Don – „viertausend Inseln“. Wie viele es tatsächlich sind, dürfte kaum nachzuvollziehen sein und hängt auch vom Wasserstand ab. Viele der Insel sind nichts weiter als Sandbänke mit spärlicher Vegetation. Die größeren Inseln hingegen weisen steile Uferböschungen auf und bieten tropische Vegetation und Anbaufläche für Gemüse. 


Ein weiterer Anziehungspunkt von Si Phan Don sind die sehr seltenen Irrawaddy-Fluss-Delphine, die sich auch im kambodschanischen Kratie flussabwärts finden. In der Inselwelt, die sich über 50 Kilometer des Mekong dahinzieht leben heute etwa 60.000 Menschen. Traditionell spielt der Fischfang eine wesentliche Rolle. Inzwischen stellt der Tourismus eine Haupteinnahmequelle dar.
Laos war Teil des französischen Kolonialreichs Indochina und die Franzosen hatten sich große Hoffnungen gemacht, den Mekong als Handelsroute von China bis ins Südchinesische Meer im Süden des heutigen Vietnam, nutzen zu können. Während einer Erkundungsfahrt musste die Kolonialmacht jedoch erkennen, dass zwar die Stromschnellen südlich der viertausend Inseln bei Hochwasser befahrbar waren, aber die Khone-Wasserfälle (Pa Pheng und Samphanit) mit einer Fallhöhe von 15 Metern am jeweiligen Nadelöhr zwischen der Insel Don Khon und dem Festland nicht passierbar waren. Die Lösung stellte schließlich eine Brücke zwischen Don Det und Don Khon und eine um 1920 realisierte Schmalspurbahn dar, um die Wasserfälle zu umgehen. Ein geradezu größenwahnsinniges Projekt, von dem noch heute die Trassen, die mächtige Brücke und zwei verrostende Dampflokomotiven zeugen. Im Süden von Don Khon und im Norden von Don Det wurden Verladerampen errichtet, um die Waren wieder zu verschiffen.


Der Traum von der Zähmung des Mekong ist längst nicht ausgeträumt. Im Gegenteil: die Sprengung von Felsen, um Stromschnellen zu entschärfen und die Schifffahrt zu erleichtern, Umleitungen des Flusslaufs zur Bewässerung oder große Staudammprojekte zur Stromgewinnung, stellen Eingriffe in das Ökosystem des Flusses dar und den Wasserstand massiv beeinflussen und somit die Lebensgrundlage vieler Menschen in Frage stellt. Das Gletscherschmelzen im Himalaya ist noch weitaus bedrohlicher.

Auf der Insel Don Khon steht ein buddhistisches Kloster auf dem Gelände eines alten Khmer-Heiligtums, das hinduistischen Gottheiten gewidmet war, und darauf hindeutet, dass die Inselwelt schon seit mindestens einem Jahrtausend bewohnt ist. Unweit der Inselwelt findet sich in der Nähe der alten Königsstadt Champassak der Bergtempel Wat Phou. Hier befand sich Forschungen zufolge die erste Hauptstadt des Khmer-Reiches, lange bevor Angkor in Kambodscha an Bedeutung gewann. 
 

Reisebericht:



Nach einigen Monaten, die ich fast durchgängig in Gesellschaft verbracht hatte, war die Insel Don Det für mich ein Hafen in stürmischen Zeiten. Nach massiven gesundheitlichen Beschwerden sehnte ich mich nach Wohlbefinden und ein wenig Ruhe. Leider hatte die Freundschaft zu meinem finnischen Freund Pete einen Tiefpunkt erreicht. Reisefreundschaften sind etwas ganz besonderes und gewinnen schnell an Intensität, sie unterliegt aber auch ganz besonderen Belastungen – weil man ständig aufeinanderhängt, sich Zimmer teilt, bisweilen völlig ausgelaugt ist von unendlichen Reisen und kaum zu fassenden Sinneseindrücken. Das wird spätestens dann auf Dauer zum Problem, wenn man mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten reist. Und gegen meine Bedächtigkeit war Pete geradezu eine Rakete…
Inzwischen war Pete mir gegenüber mürrisch und abweisend. Irgendetwas beschäftige ihn und ich war zu dem Zeitpunkt offensichtlich nicht mehr der richtige Gesprächspartner für ihn. So beschloss ich wieder meiner eigenen Wege zu gehen – auch wenn wir dieselbe Insel ansteuerten.

Was sehr amüsant war: immer wieder hatte Pete davon gesprochen, wie gerne er einmal finnische Landsleute treffen würde, während ich immer wieder auf Deutsche traf, was mich allerdings längst nicht immer entzückte…
Aus irgendeinem mir unbegreiflichen Grund zog die Inselwelt viele Finnen an und so freute er sich schon lange auf den Aufenthalt dort. Die wenigen Male, die wir noch auf der Insel aufeinandertrafen, erzählte er mir, dass sein Bedarf an Gesprächen in seiner Muttersprache nach einigen enthusiastischen Tagen gründlich gedeckt war.
Kurze Zeit später erzählte er mir von gänzlich geänderten Reiseplänen, die ihn nach Kambodscha und durch Vietnam bis nach Hongkong führen würden. Damit war die Idee einer gemeinsamen Tour durch die Inselwelt der Philippinen gestorben.
Doch wir trafen uns einige Wochen später an der Küste Kambodschas wieder und unsere Differenzen hatten sich in der Zwischenzeit in Luft aufgelöst.

Ich hatte einen generellen Overkill an Backpacker-Gesprächen. Eigentlich liebe ich den Austausch mit Reisenden aus aller Herren Länder, aber mein Bedarf war inzwischen mehr als gedeckt.
„Wo warst Du schon? wo gehst Du noch hin? Wo war es am besten? Du musst unbedingt…“ – Ich konnte es nicht mehr hören!
Auch die Länge meiner Reise – mit kurzen Unterbrechungen dauerte sie bereits anderthalb Jahre an - unterschied mich gravierend von den meisten anderen Reisenden. Oft vermied ich es, darüber zu sprechen. Viel zu oft führte es zu einer Irritation, die entweder in Befremden oder in unangebrachtem Respekt gipfelte.

Mein Ziel für den Aufenthalt auf Don Det war es, einen gemütlichen und friedlichen Ort zu finden, an dem ich wieder zu mir kommen konnte. Diesen Ort fand ich auf Anhieb - ein Bungalow am Ufer des Mekong mit einer Hängematte, von der aus man den Blick über den Mekong schweifen lassen konnte. In Windeseile fühlte ich mich heimisch. Mit dem Besitzer verstand ich mich unmittelbar. Die Sprachbarriere war mit Gesten und einem Lächeln schnell zu überwinden. Ich war angekommen.


Die ersten Tage traf ich viele Leute, die ich auf meiner Reise durch Laos getroffen hatte. Runterkommen ging nicht in einem Tag. So lieh ich mir ein Fahrrad und erkundete Don Det und die Nachbarinsel Don Khon.
Der Vibe auf den Inseln war sehr angenehm. Das Leben ging einem sehr beschaulichen Gang nach. Es war sehr heiß, aber der wenige Meter von meinem Bungalow entfernte Mekong, bot Abkühlung. Es wurde zu einem täglichen Ritual den Fluss schwimmend zu durchqueren mit einer kurzen Pause auf einer der kleinen Inseln mit ihren kleinen Sandstränden.
Immer mehr Backpacker kamen direkt aus Vang Vieng – ein Ort denn ich ganz bewusst gemieden hatte. Er war berüchtigt für Touristen die sich im Vollrausch in Reifen durch die Strömung des Flusses treiben lassen, um an „Versorgungsstationen“ weitern Schnaps zu tanken. Das Ganze findet in einem ländlich geprägten Ort statt und Respekt vor den Einheimischen ist selten. Als würde einen das Geld, das man ausgab von allen moralischen Erwägungen befreien. Ein Glaube, der leider weit verbreitet ist. Viele der Backpacker waren einfach unerträglich in ihrer Arroganz und Ignoranz und zeigten Stolz ihre Verletzungen, die sie sich im Fluss zugezogen hatten. Was für Helden!
Es gibt ausgesprochen unterschiedliche Motive, in fremde Länder zu reisen. Für mich war die totale Fixierung mancher junger Leute auf Party, Spaß und Rausch bisweilen unerträglich. Sie taten Dinge, die sie sich zuhause nicht trauen würden. Für mich war die Begegnung mit den Einheimischen der eigentliche Schatz meiner Reise. Freilich waren Begegnungen mit Reisenden, die ihren Horizont erweitern wollten, unbezahlbar, schließlich ließen sich nur mit ihnen bestimmte Erfahrungen teilen, die einen ähnlichen Ausgangshorizont erforderten, um überhaupt begreifbar zu werden.

Der Norden der Insel war in den ersten Tagen überlaufen – allabendlich brannte ein Lagerfeuer am kleinen Strand am Anleger der Insel und 30-40 Leute saßen feiernd zusammen. Ein paar Mal suchte ich noch nach Gesellschaft, dann wurde es auf der Insel und in meinem Inneren ruhiger. Gegen Ende meines Aufenthalts fühlte sich die Insel ohne Touristen wie ausgestorben an. Das begrüßte ich und meine Tage waren ohnehin vom Relaxen in der Hängematte und stundenlangen Betrachtungen des Mekong geprägt. Von Zeit zu Zeit lieh ich mir das Kanu des Gasthauses aus und ruderte über den Mekong. Das Gras war sehr natürlich, genau wie ich es mochte. Ein total entspannter Ort und immer noch weniger entwickelt als all die anderen Backpackerinseln, die ich bisher gesehen hatte. Und es gab genügend andere Inseln zum Ausweichen. Auf Don Det war der Fortschritt nur eine Frage der Zeit. Zwei Monate vor meiner Ankunft hatte es noch keinen Strom gegeben und auch wenn die Preise noch sehr niedrig waren, so hatten sie sich im Vergleich zum Vorjahr bereits vervierfacht. Vom Wandel, der sich bereits vollzogen hatte, erfuhr ich vor allem von einer Nachbarin, die im Jahr zuvor drei Monate auf der Insel verbracht hatte und ein Gasthaus im indischen Himalaya betrieb.
Ich fühlte mich sehr einsam. Selbst inmitten von bereichernden Erfahrungen und  Begegnungen mit interessanten Persönlichkeiten, konnte man sich einsam fühlen – schließlich wusste man, dass diese Begegnungen selten von Dauer waren und es zuhause wenige gab, denen man seinen Erfahrungen begreiflich machen konnte.

Unheimlich, wie sehr eine so lange Reise widersprüchliche Gefühle intensivierte. Manchmal war man mental und körperlich völlig am Ende und dann schöpfte man wieder Kraft aus kleinen Gesten oder Begegnungen; bisweilen war der Wunsch, Schluss mit den Reisen zu machen und sich wieder sesshaft zu machen – und dann wurde wieder der brennende Wunsch unwiderstehlich, für immer weiter zu reisen. 


„Ich bin so weit weg vom Himmel, unter dem ich geboren bin. Ungeahnte Sehnsucht greift nach meinen Gedanken. Jetzt wo ich so allein und traurig bin, wie ein Blatt im Wind, möchte ich manchmal weinen, möchte ich manchmal vor Sehnsucht lachen.“

Carlos Castanieda: Reise nach Ixtlan

Verrückt, wie weit ich mich von meinem vorherigen Leben entfernt hatte - manchmal hatte ich Mühe mich oder mehr meine neugewonnen Fähigkeiten wieder zu erkennen. Eigentlich ein sehr gutes Gefühl; bisweilen aber auch sehr irritierend. Während viele Reisende klagten, die Zeit rase so schnell an ihnen vorbei, ging es mir genau umgekehrt. Ich habe das Gefühl ich hätte unendlich viel Zeit und sie verginge kaum. Längst hatte ich jegliches europäisches Zeitgefühl verloren. 


Ein letztes Highlight war die Einladung zu einem Totenfest auf der Insel. Auf der Inselwelt Si Phan Don hat sich wie an vielen anderen Orten Asiens der Ahnenkult mit den modernen Religionen vermischt und beides wird nicht als Gegensatz verstanden, sondern als Nebeneinander. Wenn die drei Seelen der Ahnen ins Totenreich eingehen, weist man ihnen einen irdischen Schrein zu, um zu verhindern, dass sie zu bösen, heimatlosen Geistern werden. Gleichzeitig verspricht man sich von in Ehren gehaltenen Ahnen Schutz. Das Eingehen in eine andere Existenz wird gefeiert. Ein schöner Gedanke für mich, dass eine Beerdigung einen solch fröhlichen Charakter haben konnte. Wobei ich auch hörte, dass diese Fröhlichkeit dazu dienen soll, die Dämonen zu verwirren und so dem Verstorbenen vor ihren Ablenkungen auf dem Weg ins Totenreich zu bewahren. Eine skurrile Note gab dem Abend die Tatsache, dass meine griechische Begleiterin, die ich kurz zuvor kennen gelernt hatte, einen Freund aus Griechenland traf, den sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte und der sie mit griechischem Tresterschnaps, den er mitgebracht hatte, begrüßte. Angesichts der Tatsache, wie wenig Griechen in Asien reisen, war das nun wirklich sehr außergewöhnlich. 

Auf einer Bühne wurde getanzt und die Musik konnte einen gewissen westlichen Einfluss nicht verhehlen. Das Faszinierende an Asien ist sicherlich diese Fähigkeit, fremde Einflüsse in sich aufzunehmen, und auch keinen Widerspruch zwischen Tradition und Moderne zu sehen. Doch durch die Globalisierung auf der Basis kapitalistischer Werte hat sich die Lebensweise i8nzwischen so stark verändert, dass dieses Nebeneinander immer stärker in Frage gestellt ist. Aber zweifellos sind die Folgen in Metropolen wie Shanghai, in der alte Stadtviertel dem Erdboden gleich gemacht werden und durch Wolkenkratzer ersetzt werden, bedeutend sichtbarer. Aber die Auswirkungen reichen inzwischen bis in die entlegensten Winkel.



Fazit:


Mein Freiheitsdrang und meine Neugier waren auch nach anderthalb Jahren ungebremst. Meine Suche nach Weisheit war noch weit. Hoffentlich gelang es mir bald, aus dem Wenigen, was ich erkennen konnte, die richtigen Schlüsse für mein Leben zu ziehen.

Der Aufenthalt auf der Insel war ein Wendepunkt. Die Nachricht vom Tod meiner Großmutter bedeutete für mich eine Zeitenwende. Die Großelterngeneration lebte nicht mehr und ich rückte ein Glied nach vorne. Ich war von melancholischen Gedanken erfüllt. Angesichts der Kulisse erschien die Nachricht geradezu unwirklich. Ich dachte an meine Großeltern, vermisste sie sehr und machte mir einmal mehr Gedanken über die Bedeutung unserer Existenz und mein Leben. Wann würde es mir gelingen, das zu finden, wofür ich Verantwortung übernehmen wollte? Nachdem Zeit keine Bedeutung mehr besaß, beschloss ich erst dann weiterzuziehen, wenn ich die Kraft dazu verspürte und dem Ende meines Visums keine Bedeutung beizumessen. Als ich meinen Frieden wieder gefunden hatte, verließ ich die Insel ein wenig wehmütig, aber auch wieder näher an meinen Gefühlen. Die Inselwelt würde einen festen Platz in meinem Herzen behalten. Mein nächstes Ziel würde die Ruinenstadt Angkor sein und dort sollte ich auch ein Wesen treffen, das mich wie ein Sturm an die Küste Kambodschas tragen würde und Antworten zu geben schien. 


Weiterführende Links:



mehr über Laos, den Mekong und die alte Königsstadt Luang Prabang...



Eindrücke meiner Reise nach Angkor...



über die Götterinsel Bali...

Mittwoch, 19. Dezember 2012

Wandel durch Empathie


Anknüpfend an den Beitrag Neue Wege im Journalismus möchte ich erneut spannende Reportagen und andere Medien in den Fokus stellen, die  sich dem Wandel widmen oder bereits diesem Wandel entspringen. Im Mittelpunkt soll dabei die Empathie stehen, die essentiell für einen gelingenden Wandel ist.


Dazu einleitend das inspirierende RSA-Animate „The Power of Outrospection“, das die Frage aufwirft ob wir derzeit einen Paradigmenwechsel hin zu einer empathischen Gesellschaft erleben und den Begriff der Empathie gekonnt über den Gedanken der reinen Barmherzigkeit hinaus erweitert und so andere Perspektiven ermöglicht, die davor bewahren könnten, immer wieder die gleichen Fehler zu machen, und die eine Elite durch die nächste zu ersetzen. Ermutigend:


RSA Animate - The Power of Outrospection from The RSA on Vimeo.

Sehr interessiert verfolge ich weiterhin das Projekt Next Media Report, das mir schon einige bereichernde Ideen und Inspirationsquellen beschert hat. Mehr zu dem Projekt findet sich im Post NeueWege im Journalismus – dort findet sich darüber hinaus die glänzend recherchierte Reportage „Alma – Kind der Gewalt“ – ein erschütterndes Dokument, das zeigt wie Empathie in Zukunft stärker durch multimediale Projekte verstärkt werden kann und viele weitere Hintergründe und Möglichkeiten, aktiv zu werden, vorstellt.  
Heute möchte ich die Reportage „African Air“ von Mediastorm vorstellen, die die Arbeit von Georg Steinmetz würdigt und Afrika aus ungewohnter Perspektive zeigt und die Chancen des Kontinents in den Vordergrund stellt. Steinmetz gelingen dabei einzigartige Bilder von Landschaften und Menschen: 

Flying in a motorized paraglider over one of the most diverse continents in the world, George Steinmetz captures in his photographs the stunning beauty, potential and hope of Africa's landscapes and people. See the project at http://mediastorm.com/publication/african-air
Aufmerksam wurde ich auf Mediastorm durch Next Media Report. Amrai Coen und Caterina Lobenstein führte der Weg durch die Welt auf den Spuren der Zukunft des Journalismus in New York zu Brian Storm, dem Produzenten von Mediastorm. Seine Ansichten zur Zukunft des Journalismus finden sich hier.

Ein weiteres Projekt, das mich tief beeindruckt hat, stammt von Massoud Hassani ), der seine Erfahrungen in Afghanistan nach einer Odyssee bis nach Europa zu einem Projekt verarbeitet hat, das Hoffnungen im Kampf gegen die Landminen weckt und sich hoffentlich schnell ausbreiten wird. Sein Video MINE KAFON:


Mine Kafon | Callum Cooper from Focus Forward Films on Vimeo.
weitere Infos zu seinem aktuellen Kickstarter-Projekt (Crowdfunding) auf seinem Blog.

Besonders ans Herz legen möchte ich auch die Reportage „Wir könnten auch anders - Begegnungen jenseits des Wachstums“ empfehlen. Die feinfühlige Dokumentation aus (vornehmlich) "strukturschwachen" Regionen im Osten Deutschlands behandelt gekonnt Themen, die von globalem Interesse sind, aus ungewöhnlicher Perspektive zeigt und dabei die Menschen und Initiativen in den Fokus stellt, die sich für einen Wandel engagieren - ohne zu werten. So bekommen die vielfältigen Themen wie Gentechnik, Wachstum, Energie, Flüchtlinge, Ernährung, direkte Demokratie, Grundeinkommen, Biodiversität, Gentechnik, Privatisierung oder Landbesitz eine tiefe Kraft. Im Zentrum steht die Frage nach einem erfüllten Leben und wie existentielle Bedürfnisse in einer Gemeinwohlökonomie organisiert werden können, um eine Erneuerung der Solidarität und von Werten zu ermöglichen. Der Beitrag findet sich hier.

Zum Abschluss noch der Hinweis auf das Crowfunding-Projekt Störsender-TV mit Dieter Hildebrandt, Frank-Markus Barwasser (alias Pelzig), Georg Schramm, Gerhard Polt, Urban Priol, Roger Willemsen oder Ottfried Fischer. Das Projekt möchte investigativem Journalismus, Kabarett und Gesellschaft neue Impulse geben und Ungerechtigkeiten sichtbar machen. Ich bin schon sehr gespannt! Unabhängig davon, ob Crowdfunding die Zukunft sein mag, so halte ich es in Zeiten des Umbruchs für unverzichtbar! 

Sonntag, 16. Dezember 2012

Atlas eines ängstlichen Mannes


Das Buch „Atlas eines ängstlichen Mannes“ von Christoph Ransmayr gehört zu den interessantesten, die ich bisher lesen durfte. Viele Kapitel habe ich laut gelesen, weil sie sprachlich von einer solchen Präzision und Poesie sind, dass ich keine seiner sprachlichen Finessen verpassen wollte. Christoph Ransmayr besitzt die seltene Fähigkeit seine Texte so sehr zu einem Kern zu verdichten. Das verleiht den Erzählungen eine unheimliche Lebendigkeit. Während der Recherche las ich, dass Ransmayr seine Geschichten so nah wie möglich an die gesprochene Erzählung heranführen will – das ist ihm uneingeschränkt gelungen.


Einleitend ein Zitat aus seinem ersten Buch von 1984 „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ – eine der Erzählungen berichtet vom Schauplatz des Buches:

„Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, dass er schließlich in ihr verschwand.“


„Der Atlas eines ängstlichen Mannes“ vereint 70 zumeist sehr kurze Erzählungen aus fast 50 Jahren miteinander. Jede ist in sich schlüssig und es gibt keinen roten Faden, der die einzelnen Erzählungen mit einem chronologischen Rahmen verbindet und sie bauen auch nicht aufeinander auf. Was sie jedoch verbindet, ist die radikale Einnahme einer Beobachterposition – alle seine Erzählungen beginnen mit der Einleitung „ich sah“. Diese beobachtende Warte - von der aus Ransmayr seine Impressionen gewinnt, ist die Besonderheit dieses Buches. Als ausgezeichneter Beobachter rückt er die Menschen, Tiere oder Natur in den Fokus. Dabei gibt er seine eigene Haltung nie preis – sie schimmert allenfalls zwischen den Zeilen durch und lässt sich erahnen. Dadurch überlässt er die Einordung vollständig dem Leser. Er bewertet nicht moralisch und lässt keine Eitelkeiten zu. Mit diskreten und respektvollen Beobachtungen fängt er mit größter Aufmerksamkeit die Zwischentöne des Lebens ein. Er ist Zeuge, hört aufmerksam zu und notiert seine Eindrücke, um sie später zu verdichten. Eigene Befindlichkeiten spielen keine Rolle. Dadurch gewinnen die behandelten Themen eine unglaubliche Kraft – er erzählt von allen Aspekten des Lebens: vom Streben und Scheitern, von prallem Leben und Sterblichkeit, Mut und Angst, Gesundheit und Krankheit, von Sehnsucht, Liebe und Einsamkeit, Macht, Gier, Glaube, Zerstörung und Erneuerung - allen Aspekten, die zusammen genommen das Lebens ausmachen.

Seine Erzählungen führen über den ganzen Globus – er erzählt von Begebenheiten in seiner Heimat, Mythen aus dem alten Griechenland, den Osterinseln oder Erfahrungen im ewigen Eis. Jedem Kontinent sind Erzählungen gewidmet – zusammen genommen sind sie ein Abbild der Welt – ein Atlas. Gleichzeitig bewegt er sich in allen sozialen Schichten – kulturelle Begegnung scheint ihm etwas Selbstverständliches – und nichts Bedrohliches.
Alle Erzählungen zusammen genommen bieten in der Vielfalt seiner Beobachtungen einen Blick auf den Kosmos. Gerne unternimmt er Ausflüge in die Astronomie und schafft dabei selbst etwas Mythisches. Die Geschichten wirken durch seine Ausflüge in verschiedene Epochen der Menschheit zeitlos. Sie wirken wie Parabeln, die in Variationen immer wieder vom Leben erzählen. 

Ransmayr bewegt sich nicht auf ausgetretenen Pfaden – er sucht immer nach seinen eigenen – auch diese Herangehensweise macht seine Erfahrungen einzigartig und nicht wiederholbar.
Besonders schön sind seine zwei Berichte von den Osterinseln, eine berichtet davon, wie Zivilisationen entstehen und verschwinden. Ausführlich berichtet er auch von den Nachfahren eines der Meuterer von der Bounty; aber neben den ungewöhnlichen Orten, die er bereist, sind es gerade die kleinen Beobachtungen aus dem Alltag, in denen sich seine ganze poetische Kraft zeigt.

In einer Geschichte berichtet er von einem Erlebnis im Himalaya und erzählt davon, dass er gefunden hat, was er seit seiner Kindheit wiederfinden wollte. Nur aus dem Gesamtwerk kann man erahnen, was er damit meinen könnte. An einzelnen Stellen des Buches erzählt er von sehr persönlichen Erfahrungen – dem Tod seines Vaters oder aus seiner Kindheit – mit der gleichen Distanziertheit wie bei allen anderen Geschichten. Das ist konsequent, ordnet sie in den Kontext des gesamten Lebens ein.
Das Motiv der Suche nach der eigenen Herkunft ist ein zentrales Thema seines Buches. So versteh ich auch seine Sehnsucht nach dem Reisen und der Begegnung mit dem Fremden. Kapuściński schreibt zu diesem Thema:

„Und man muss sie kennen lernen, denn die anderen Welten, die anderen Kulturen sind wie Spiegel, in denen wir uns selber besser kennen lernen, denn es ist unmöglich, die eigene Identität zu bestimmen, solange wir sie nicht mit anderen konfrontiert haben.“ 

Ryszard Kapuściński – meine Reisen mit Herodot


Wohin Ransmayr auch seinen Blick richtet – er ist immer interessiert an existentiellen Erfahrungen und einer Essenz, die ihm seine eigene Existenz erklären kann. Nicht umsonst richtet sich sein Blick zu den Sternen – er orientiert sich am Kosmos und den Grenzen des irdischen Lebens. 

Ransmayr verzichtet komplett auf eigene Photographien und eine Auflistung der vielen Reisen, die zu diesem Werk geführt haben. Doch eines gelingt ihm ganz gewiss: dem Leser eindrückliche Bilder von dem zu vermitteln, was auch Ransmayr auf seinen Reisen erfahren hat.
An manchen Stellen hätte ich mir durchaus ein wenig mehr Einblick in das Denken Ransmayrs gewünscht, doch letztlich macht der Verzicht darauf die ganz besondere Wirkung seines Buches aus. Manchmal wollte ich ihm zurufen: handle! Misch Dich ein! Folgt man aber seiner Philosophie, die sich aus dem Gesamtwerk ergibt – versteht man sein Nichthandeln und den Fokus auf seine größte Stärke: zuschauen und zuhören.

Ich bin ein großer Freund von persönlich gefärbten Berichten, doch dieses Buch funktioniert anders. Und diese Bandbreite macht schließlich die Kraft der Literatur aus. Bisweilen ist ein Atlas dennoch hilfreich, um seine Reisen nachzuvollziehen.

Alles in allem ein wundervolles Buch, das ich nur wärmstens ans Herz legen kann!


Weiterführende Informationen:



Lese- und Hörprobe sowie sein Interview finden sich auf Homepage von Christoph Ransmayr.

Druckfrisch - Rezension und Interview mit Christoph Ransmeyr




hier findet sich auch eine weitere Leseprobe.