Einleitung
Nach
einem längeren Aufenthalt im Süden Indiens, lag mein nächstes Ziel in Nepal.
Die Hitze war Mitte April in Goa kaum noch auszuhalten und der Monsun kündigte
sich bereits vorsichtig mit schweren Wolkenfronten an – auch wenn der eigentliche
Monsun noch einige Zeit auf sich warten lassen würde. Der Luftdruck und die
Luftfeuchte machten bereits jetzt den Körper und die Gedanken schwer wie Blei. Es
war Zeit in kühlere Regionen aufzubrechen und neue Horizonte zu erobern. Nach
meinen ersten Erfahrungen im Himalaya, dürstete es mich danach, die zauberhafte
Bergwelt wieder zu sehen und an den Fuß des Mount Everest zu wandern. Seit den
ersten Berichten, die ich über Kathmandu und die Bergwelt Nepals gelesen hatte,
zog es mich dorthin. Eigentlich hatte ich beabsichtigt, gemeinsam mit meinem Freund
Noah und seinen Angestellten, die ich im kleinen Paradies - einer zauberhaften
Bucht mit Felsen, Palmen und kleinen Fischerbooten, in der ich über zwei Monate
verbracht hatte - kennen und schätzen gelernt hatte, gemeinsam mit Zug und dem
Bus in ihre Heimat Nepal zu reisen. Eine Höllentour weit über 2000 Kilometer,
die aber an ihrer Seite mit Sicherheit sehr spannend und lehrreich geworden
wäre. Doch mir war eine zauberhafte indische Frau begegnet, die mich in ihren
Bann gezogen hatte. Und umgekehrt. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls
bewohnte ich die malerische Bucht auch dann noch, als die Saison bereits
beendet war und ich alleine die Kokoshütte in der verwaisten Anlage bewohnte,
die mir mitsamt der phantastischen Umgebung zu einem Stück Heimat geworden war.
Bald würde der Monsun die temporäre Behausung in ihre Einzelteile zerlegen,
bevor sie Monate später wieder errichtet werden würde.
Unterwegs
Schließlich
verließ ich nach einem schweren Abschied Indien und flog mit Zwischenstopps in
Bombay und Delhi nach Kathmandu. Aus der Vogelperspektive die Slums und
Hochhäuser von Bombay und Delhi zu betrachten, wirkte verstörend. Doch
große Teile der
indischen Bevölkerung träumen davon, aus den Dörfern und Vororten in die Städte
zu ziehen, um sich den Traum von einem besseren Leben zu erfüllen. Viele finden
jedoch nur ganz am Rande der städtischen Gesellschaft eine spärliche Existenz. Zudem
prallen traditionelle und moderne Wertevorstellungen unmittelbar aufeinander.
Allerdings ist dies keine Entwicklung, die nur auf Indien beschränkt wäre…
Beim
Reisen ins Unbekannte habe ich eine extreme innerliche Ambivalenz. Sehr
zwiespältige Gefühle wechseln in schneller Abfolge: speziell zu Beginn und gegen
Ende einer Reise fühle ich mich als würde ich taumeln: ein Gefühl zwischen
Euphorie, Schwindel und Freude - Reisefieber ist in diesem Zusammenhang mehr
als eine Metapher. Mir wird mulmig. Ich weiß: ich lebe einen Traum – zugleich
weiß ich nicht wohin mich dieser Weg führen wird und Zweifel kommen auf, ob ich
es nicht zu weit treibe. Manchmal überkommt mich leise Panik. Das Gefühl der
Getriebenheit ist bisweilen sehr
unangenehm: ich lasse nicht nur das Vertraute hinter mir, sondern überschreite
Grenzen, die keine Umkehr erlauben - so selten ich das bereut habe.
Überschreite ich diese Grenze, dann flutet Adrenalin durch meinen Körper und
Geist; ungeahnte Energie schießt durch meinen Körper.
Ich
erreiche geradezu meditative Zustände, die über Stunden anhalten und mir ein solches
Maß an Gelassenheit, Frieden und Kreativität schenken, dass ich irre vor mich
hin grinse und vor Freude zerspringen könnte. Pure Freiheit. Manchmal muss ich
laut über meine irren Gedanken lachen. Besorgte Gesichter mustern mich mit hochgezogenen
Augenbrauen – mich, den komischen Kautz, der mit ihnen reist und entweder
verrückt, gefährlich oder unverschämt gut drauf ist.
Bisweilen
kann ich mich aber auch sehr verloren und melancholisch fühlen. Trotzdem ein
Gefühl, das geradezu süchtig macht. Als Alleinreisender sind diese Gefühle
extrem intensiv und ich bedaure manchmal, dass ich sie so selten teilen kann.
Nepal
Nepal gliedert sich in drei sehr unterschiedliche
Regionen: die eine Hälfte der Bevölkerung lebt im Süden, einem relativ schmalen
Streifen am Rande der indischen Grenze, das geographisch zur Ganges-Ebene
gehört. Der Großteil der übrigen Bevölkerung lebt im Kernland - einer
Hügellandschaft, die bis auf 3000m hinaufreicht und von zahllosen Tälern
zerfurcht wird. Hier liegt auch das fruchtbare Tal von Kathmandu. Im nördlichen
Teil, das von Hochgebirgsregionen geprägt ist, leben vergleichsweise wenige
Menschen.
Noch immer leben über 80% der 28 Millionen
Einwohner Nepals auf dem Land. Doch das ändert sich rasant und inzwischen hat die
Metropolregion Kathmandu etwa 1,5 Millionen Einwohner. Das soziale Gefälle
zwischen Land- und Stadtbevölkerung ist extrem. Die Hälfte der Bevölkerung
besteht aus Analphabeten. Massive Korruption und das festzementierte
Kastensystem verhindern die Entwicklung der ländlichen Gegenden. So gehört Nepal zu den ärmsten Nationen der Welt. Trotz der
vielen buddhistischen Pilgerstätten Nepals gehören weniger als 15% der
Bevölkerung dem Buddhismus an. 80% der Bevölkerung sind Hindus und der
Hinduismus und Nepal war bis 2006 die einzige hinduistische
Monarchie der Welt.
Ankunft
Die
Ankunft in Kathmandu war ausgesprochen merkwürdig. Ich hatte kein Geld, um das
Visum zu bezahlen. Ich hatte mir auf meinen Reisen angewöhnt, mich gleich nach
Ankunft in einem neuen Land am Bankautomaten mit Devisen einzudecken. So musste
ich mir keine Gedanken über die Wechselkurse an den Flughäfen machen. Aber in
dem Gebäude, das nur entfernt an einen modernen Flughafen erinnerte, gab es
keinen Geldautomaten. Man erklärte mir freundlich, es gebe einen außerhalb des
Gebäudes. Also passierte ich das „Immigration Office“ und machte mich auf die
Suche. Da mein Rucksack schon über das Band rollte, nahm ich ihn unterwegs auf,
und verließ das Gebäude ohne von Kontrollen behelligt zu werden. Ein
merkwürdiges Land, in dem man ohne Visum
und Passkontrolle aus dem Flughafen spazieren konnte. Nepal hat zweifellos
andere Probleme als illegale Einwanderung…
Als
ich das Geld aus dem Automaten zog und genauer betrachtete, befielen mich
spontanen Zweifel an der Seriosität der entsprechenden Bank. Dermaßen
zerfleddertes Geld hatte ich noch nicht gesehen. Einzelne Geldscheine waren mit
Klebestreifen aneinandergeklebt und von einer fragwürdigen Konsistenz. Zurück
auf die obere Ebene des Flughafengebäudes zu gelangen, war offensichtlich nicht
vorgesehen – zumindest nicht für Passagiere. Also rannte ich die lange
Rolltreppe vollgepackt in Gegenrichtung nach oben. Schwer schnaufend dort
angekommen, musste ich meine neuerworbenen nepalesischen Rupien umtauschen – der
nepalesische Staat akzeptiert ausschließlich US-Dollar.
Da
ich Noah im Vorfeld nicht mehr kontaktiert hatte, wusste ich nicht, ob er
gerade im Hotel seines Onkels in Kathmandu wohnte oder im Dorf seiner Familie
gastierte. Da keiner der Schlepper vor dem Flughafen das Hotel kannte oder
kennen wollte, beschloss ich mir zunächst ein anderes Hotel zu suchen. Während
ich vor dem Flughafen rumlungerte und Tee trank, kam ich mit Raj ins Gespräch,
einen jungen Nepali, der mir auf Anhieb sympathisch war und beschloss mir das
Hotel, für das er warb, anzusehen. Wir fuhren in einem schönen Oldtimer, der
eher von Patina als von Schrauben zusammengehalten wurde, in die Stadt. Ich kam
mir vor wie auf einer Zeitreise. Sobald wir das Flughafenareal verließen,
tauchte ich in eine andere Welt ein.
Stellenweise
war die mittelalterlich anmutende Architektur des alten Kathmandus sichtbar.
Gleichzeitig waren überall einfache Betonbauten wie Pilze aus dem Boden
geschossen. Auf den schmalen, meist nur einspurigen Straßen wimmelte es von
Mopeds, Fahrrädern, Autos, Rikschas, Fußgängern und vereinzelten Kühen, die
sich ihren Weg bahnten und für ein dauerhaftes Verkehrschaos sorgten. Die
offenen Stromleitungen erinnerten an das Web-werk einer schizophrenen Spinne.
Das
Hotel bot keine Aussicht, dafür lag vor meinem Zimmer ein einladender Balkon,
der mit gemütlichen Korbstühlen ausgestattet war, und zum ruhigen Innenhof wies.
Diese Innenhöfe sind die verbliebenen Oasen Kathmandus und bieten einen
privaten Raum, der einen erholsamen Kontrast zu den stark belebten und lauten
Straßen darstellt. Ich unterhielt mich noch lange mit Raj über unsere Vorstellungen
und Träume und wir rauchten ein paar Joints. Es ist immer wieder erstaunlich zu
erleben, in welcher Windeseile Humor in der Lage ist, kulturelle Grenzen zu
überwinden.
Swayambunath
Am nächsten Tag fuhr ich auf dem Rücksitz von Rajs
Motorrad zum Swayambunath.
Raj war offensichtlich stolz auf den Besitz des
Motorrads – leider auch auf seinen psychopathischen Fahrstil, mit dem er noch
durch die schmalste Gasse bretterte. Instinktiv fragte ich mich, was zum Teufel
ich wohl auf dem Rücksitz dieses Wahnsinnigen verloren hatte. In gewisser Weise
teilte ich dennoch das rauschhafte Gefühl meines Fahrers und konnte mir ein
Grinsen ob des Wahnsinns nicht verkneifen.
Im Übrigen spiegelt sich in der grenzenlosen Faszination vieler (vor allem junger) Nepali für Motorräder die Verheißung der Moderne: individuelle Freiheit und Mobilität steigen enorm, der Geschwindigkeitsrausch ist verlockend und nicht zuletzt stellt es ein Statussymbol als Zeichen des sozialen Aufstiegs dar.
Im Übrigen spiegelt sich in der grenzenlosen Faszination vieler (vor allem junger) Nepali für Motorräder die Verheißung der Moderne: individuelle Freiheit und Mobilität steigen enorm, der Geschwindigkeitsrausch ist verlockend und nicht zuletzt stellt es ein Statussymbol als Zeichen des sozialen Aufstiegs dar.
Swayambunath ist ein zunächst hinduistisch und
später buddhistisch geprägtes Heiligtum auf einer bewaldeten Anhöhe am Rande
der Stadt. Sie wird von Tempeln und einer großen Stupa gekrönt, die mit
Gebetsfahnen geschmückt sind. Durch die hohe Affenpopulation wird das Gelände
auch „Monkey Temple“ genannt. Von dieser natürlichen Anhöhe hatten wir einen
guten Überblick über Kathmandu. Hier wurde endgültig deutlich: die Kleinstadt,
die die Hippies vorgefunden hatten, existierte nicht mehr und die Stadt war
seitdem unkontrolliert gewachsen. Längst waren Betonklötze stadtprägend. Ich
fühlte einen Stich im Herzen – mein Bild von Nepal war stark geprägt von
historischen Berichten und auch die aktuellen hatten den Ausmaß des Fortschritts nicht thematisiert oder ich
hatte es gleich wieder verdrängt. Die reiche Tradition Nepals hatte mich nach
Kathmandu gelockt. Diese existierte weiterhin, doch sie wurde zunehmend an den
Rand gedrängt. Zumindest erschien es von dieser Warte so:
Auf dem Tempelgelände wimmelte es von Sadhus (aus
dem Sanskrit; wörtlich übersetzt „guter bzw. heiliger Mann“). Sie sind Mönche
aus verschiedenen hinduistischen Orden. Ein Sadhu, der das weltliche Leben
völlig aufgegeben hat und in Askese lebt, ist ein Sannyasin,
ein „Entsagender“. Manche leben an einem Platz in der Nähe eines
Tempels; andere leben in Höhlen oder sind völlig heimatlos auf ständiger
Wanderschaft. Sannyas ist auch die letzte der vier Stufen eines idealen
Hindu-Lebens, das das Dharma, die hinduistische Ethik, als erstrebenwert
ansieht. Im letzten Abschnitt des Lebens besteht die Aufgabe, sich von allem Weltlichen
zu lösen und sich als Wanderer auf die Suche nach Erlösung zu begeben. Dabei
werden sie durch Spenden der Bevölkerung unterstützt. Manche Männer entscheiden
sich schon in jungen Jahren zu einem Leben als Sadhu.
Freilich sind die Grenzen in diesem Metier zwischen Asketen und Scharlatanen
fließend. Besonders dort, wo der Tourismus eine wichtige Rolle eingenommen hat.
Aber in gewisser Weise waren die Sadhus schon immer eine Art soziales Ventil –
eine Möglichkeit außerhalb der Gesellschaft zu überleben. Ihnen wird große
Anerkennung aber oft auch Angst entgegengebracht. Es gibt extrem verschiedene
Ausprägungen unter den verschiedenen Orden. Sehr skurril wirken vor allem die
Geschichten von Sadhus, die jahrelang einen Arm in die Höhe gehalten haben, bis
sich der Arm versteifte, um ihre Ergebenheit und ihren Willen zu demonstrieren.
Und das sind längst nicht die wildesten Geschichten…
Einer fackelte nicht lange, um mein Einverständnis
abzuwarten, sondern drückte mir einen roten Farbtupfer auf die Stirn – das
Tilaka - ein Zeichen des Segens. Seine Forderungen nach Bakschisch (im
ursprünglichen Sinn eine Art Almosen) fand ich in diesem Fall unangemessen und
auch Raj riet mir entschieden davon ab, seine offensive Annäherung zu belohnen.
Noah
Zurück in der Innenstadt lief ich zum Hotel, in
dem ich Noah anzutreffen hoffte. Er war gerade von seinem Dorf zurückgekehrt
und würde nun für einige Zeit in der Stadt bleiben. Schade; ich hatte mich sehr
auf den Besuch in seinem Dorf gefreut. Dort hatte Geld erst vor einem Jahrzehnt
den traditionellen Tauschhandel abgelöst und ich hatte gehofft so ein
authentisches Bild Nepals zu gewinnen. Leider war Noah schon seit Monaten wegen
mysteriösen Magenbeschwerden kraft- und antriebslos und besaß zu dem Zeitpunkt
nur wenig von der Gelassenheit, Fröhlichkeit und Herzlichkeit, die ihn zu einem
Menschen macht, der immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. Ich habe ihn
kennen lernen dürfen als ich nach einer turbulenten Odyssee (die ich in meinem
Buch beschrieben habe) am Ende meiner Reise einen sicheren Hafen fand, ohne den
meine Reise niemals zu einem guten Ende gekommen wäre.
Noah war schon als
Jugendlicher in den Hotelbetrieb des Vaters eingestiegen und hatte früh
gelernt, mit Ausländern umzugehen und ihre höchst unterschiedlichen Bedürfnisse
zu verstehen (in erster Linie die individuelle Sichtweise, die sich von der
asiatischen, die sich weiterhin viel stärker auf das Familiensystem oder das
Kollektiv bezieht) unterscheidet. Nachdem er gerade volljährig in Pokhara (der
zweitgrößten Stadt Nepals in der Nähe des Anapurna) ein eigenes Gasthaus geleitet
hatte, zog es ihn nach Südindien. Bereits in seinem ersten Jahr in Goa wurde
sein Talent, mit Touristen umzugehen, offensichtlich und so bekam er von einem
Engländer das Angebot gemeinsam ein kleines Resort zu betreiben. Nachdem sich
der Engländer bereits nach einem Jahr zurückzog, konnte Noah es alleine
betreiben und machte es mit seiner offenen Art auf Menschen zuzugehen, eine
Atmosphäre zu schaffen, in der man sich sofort wohlfühlt, der geschickten
Auswahl von Angestellten in Nepal und einem Instinkt für die richtige
Gastronomie, den richtigen Ton und die richtigen Angebote, zu einem sehr
beliebten Anlaufpunkt. Als ich ihn kennenlernte betrieb er im zweiten Jahr sein
neues Projekt, an dem traumhaften Ort, der Ausgangpunkt dieses Blogs war. Denn
nach der Geburt seiner zauberhaften Tochter, die neben seinen Eigenschaften
auch die Schönheit ihrer Mutter, einer französischen Musikerin mit
unglaublicher Ausstrahlung und Anmut, geerbt hatte, stand ein ruhigeres Leben
im Vordergrund.
Da es in dem Hotel, das inzwischen seinem Onkel gehört, kein
freies Zimmer gab, würde ich auf einen Umzug dorthin noch ein wenig warten
müssen.
Apokalyptische Gefühle
Am Abend ließ ich mich alleine durch die Straßen
Kathmandus treiben, kaufte mir ein Bier und hielt nach einem ruhigen Platz
Ausschau, um mich ein wenig zu sammeln. Obwohl ich kilometerlang durch die
Stadt flanierte, konnte ich keinen Ort finden, der sich zum Verweilen angeboten
hätte. Ich fühlte mich beengt und hätte viel gegeben, wenn irgendwo ein Park
aufgetaucht wäre. Kathmandu hat sich inzwischen zu einer der
abgasverseuchtesten Städte der Welt entwickelt und wird in manchen Studien in
einem Atemzug mit Delhi oder Peking genannt. Die fehlenden Filteranlagen und
der steigende Verkehr werden noch durch den etwa 30km breiten Talkessel
akzentuiert, in dem Kathmandu liegt. Durch den geringen Luftaustausch mit den
umgebenden Waldgebieten, reichern sich die Abgase an und erreichen bedenkliche
Konzentrationen. Wie weit diese Entwicklung gehen kann, zeigen die
schockierenden Bilder aus Peking, die derzeit durch die Medien gehen. Atemmasken
sind im Stadtbild keine Seltenheit. Die Bebauungsdichte steigt immer mehr und die
Innenhofoasen müssen immer neuen Betonbauten weichen. Die traditionellen
Gebäude sind vielfach dem Verfall preisgegeben. Die Stadtentwicklung kann mit
dem Bedarf nicht ansatzweise mithalten. Vielfach werden Häuser planlos
hochgezogen (was durch Korruption begünstigt wird), dann werden die
traditionellen schmalen Gassen zu kleinen Straßen, die dem Verkehr nicht
gewachsen sind. Immer wieder musste ich staunen, dass dennoch riesige Jeeps
durch die Straßen fahren. Gäbe es nicht die Ringstraße um die Stadt wäre der Verkehrsinfarkt
längst Realität. In anderen Metropolen Asiens ist dieser Punkt bereits
erreicht.
Noch immer auf der Suche nach einem lauschigen
Plätzchen, stieß ich auf den Bagmati, den größten Fluss der Stadt und fand ein Bild
des Grauens vor: der Fluss war entsetzlich verschmutzt mit Bergen
von Plastikmüll und stank wie eine Kloake. Die meisten Abwässer der Stadt werden
durch die an manche Stellen offene Kanalisation in den Fluss geleitet. Noch
bedenklicher sind die Industrieabwässer. Wenn man bedenkt, welche Bedeutung der
Fluss für die Menschen hat, kann man es kaum fassen. Schließlich liegt am
Bagmati die Kultstätte Pashupatinath (wörtlich aus dem Sanskrit: Herr alles
Lebendigen) – ein heiliger Ort für die Hindus. Hier werden - - analog zu
Varanasi am Ufer des Ganges in Nordindien - die Toten verbrannt, um eine
segensreiche Wiedergeburt zu erreichen oder aus dem Kreislauf der
Wiedergeburten (Samsara) zu entkommen und in die Weltenseele Brahman einzugehen
– so gilt das Leben als Leiden und ist nichts weiter als maya – eine Illusion. Es besteht noch eine direktere Beziehung zum
Ganges – der Bagmati mündet über Umwege in ihn hinein.
Hierbei handelt es sich längst nicht um den schmutzigsten Abschnitt des Bagmati... |
Am gegenüberliegenden Flussufer reihten sich armselige
Behausungen aus Wellblech aneinander. Was sind das für Bedingungen zum Leben?
Roshan, den ich aus Goa kannte, hatte mir erzählt, er sei als Kind noch in
einem sauberen Fluss geschwommen. Das kann keine fünfzehn Jahre her sein. Das Verhalten vieler Menschen hat sich nicht
einmal verändert – doch wo früher Alltagsgegenstände aus Glas oder Ton
bestanden und ohne Folgen für die Umwelt den Weg alles Irdischen gingen, so ist
vielen das Problem des Plastiks nicht bewusst. Hier müssen auch die Produzenten
in die Pflicht genommen werden. Alleine dem fragilen nepalesischen Staat die
Verantwortung aufzubürden, ist zynisch. Das Problem hat eine globale Dimension.
Das Umweltbewusstsein ist auch in den westlichen
Staaten erst langsam gewachsen (man denke an die Verschmutzung von Rhein, Ruhr
oder Wupper) und noch lange nicht so ausgereift, wie es sein müsste. In Nepal
sind die Menschen in ihrer Gesundheit und ihrer Existenz durch die rasante
Entwicklung bedroht. In Indien und anderen Ländern Asiens, Südamerikas oder
Afrikas sieht es nicht besser aus! Das Thema Klimawandel habe ich bei meinen
Berichten aus dem Himalaya stärker beleuchtet und werde es weiter in den Fokus
stellen.
Natürlich wünsche ich den Menschen einfachere
Lebensbedingungen, doch leider lassen sich viele Resultate einer solch rasanten
Entwicklung im Vorfeld nicht absehen und vielen nutzt der Wandel nicht, sondern
treibt sie aufgrund der massiven Landflucht und erodierender Gemeinschaften,
die zuvor das Zusammenleben geprägt haben, in neues Elend. Fortschritt ist
nicht immer eine Verbesserung, sondern erfordert immer ein Abwägen. Noch fehlt
viel an Bewusstsein.
Die Wasserversorgung Kathmandus kann nur noch
sichergestellt werden, indem Wasser mithilfe großer Transporter jeden Tag aus
den Bergen herangeschafft wird und auf riesige Wassertanks auf den Dächern der
Häuser verteilt wird. Das Wasser des Bagmati ist ungenießbar geworden.
Diese Entwicklung machte mich traurig und
betroffen. Ich setzte mich für einige Zeit an den Fluss, trank ein Bier und
wurde wehmütig. Ich grübelte über den Zustand unsrer Welt und wie weit wir uns
von unserer Natur entfernt haben. All das Elend, das ich sah, ließ alte Gedanken
hoch kommen:
Wie
gehen wir Menschen mit diesem Planeten und seinen Ressourcen um und wie lange kann
das noch gutgehen? Können wir ernsthaft darauf setzen, dass der
Fortschritt diese Probleme wieder in den Griff bekommt? Zerstören wir nicht
nach und nach die Wurzeln des Lebens?
Orientierungslosigkeit
Tief in Gedanken versunken, machte ich mich auf
den Weg zurück ins Stadtzentrum. Nach kurzer Zeit brach die Dämmerung über die
Stadt herein. Die schmalen Gassen waren bereits bei Tageslicht für einen
Neuankömmling nur schwer voneinander zu unterscheiden und ich verlor schnell
die Orientierung. Auch in mentaler Hinsicht – die Bilder vom Fluss wirkten nach
und würden mich noch lange beschäftigen. Ich ging ohnehin nur in eine grobe
Richtung. Auch nachdem ich wieder ins Stadtzentrum zurückgefunden hatte, bewegte
mich ständig im Kreis. Weit konnte mein Hotel nicht entfernt liegen, aber ich konnte
eine Straßenkreuzung nicht von der anderen unterscheiden. Ein wenig erschöpft
und ratlos ließ ich mich auf ein Mäuerchen sinken. Zwei junge Mönche sprachen
mich an. Sie luden mich ein, sie zu begleiten und fragten, ob ich bereit sei,
sie auf einen Kaffee einzuladen. Warum nicht? Ich hatte ohnehin keine Ahnung,
wie ich zurückfinden sollte. Vielleicht fand ich so einen Ort von dem aus ich
mich orientieren konnte. Außerdem erlebt man gerade dann am meisten, wenn man
sich treiben lässt. Die beiden erschienen zunächst ausgesprochen freundlich.
Doch anstatt auf einen Kaffee einzukehren, schleppten sie mich in einen der
modernen Supermärkte und begannen mich zu bedrängen: ich sollte ihnen eine
überdimensionierte Kaffeedose und eine nicht minder unanständige Menge
Milchpulver kaufen. Meine Sympathie erlosch innerhalb eines Augenblicks und ich
ließ sie auf der Stelle stehen. Mir war nur zu bewusst, dass ihr nächster Weg
in einen anderen Laden führen würde, um die Waren zurück zu verkaufen. Die
Gier, die in ihren Augen aufgeflackert war, sprach Bände und entgegen jedem
Verdacht, sie wollten weltlichen Genüssen entsagen. Auf solche „Mönche“ konnte
ich verzichten.
So lief ich weiter planlos durch die Straßen und dabei
wurde mir immer wieder Haschisch angeboten. Auf den Straßen von Kathmandu
Haschisch zu kaufen, ist nicht übertrieben clever, da Dealer und Polizei gerne
zusammenarbeiten, um doppelt abzukassieren. Aber irgendwann wurde ich schwach
und ging mit einem der Dealer in ein Restaurant. Plötzlich waren meine
„Geschäftspartner“ zu dritt. Doch das störte mich nicht weiter und ich ließ
mich dadurch nicht beeindrucken. Ich verhandelte mit ihnen, wir tauschten Geld
und Ware und alles ging glatt. Das nenne ich Prioritäten setzen: noch immer
hatte ich keinen blassen Schimmer Ahnung, wo mein Hotel sein könnte, dafür
hatte ich auf die risikoreichste Variante Haschisch erworben. Das sei in keinem
Fall zur Nachahmung empfohlen! Hintergründe warum Cannabisprodukte in Nepal
unter dem Einfluss der U.S.A. verboten wurden und welche Probleme Nepal seit
langem als Umschlagplatz von Morphium und Heroin hat, zeigt ein
englischsprachiger Artikel, den ich am Schluss des Blogs anhänge.
Nachdem ich eingesehen hatte, dass ich das Hotel
auf eigene Faust nie finden würde, verlegte ich mich aufs Fragen. Leider konnte
mir keiner weiterhelfen und ich hatte versäumt, mir eine Visitenkarte des
Hotels mitzunehmen. Ich entschied auf eine der Fahrradrikschas zu setzen. Er
wisse den Weg, versicherte mir der junge Fahrer sofort. Doch er hielt ständig
an, um sich im Fahrradsattel sitzend, rhythmisch zu den Diskoklängen zu
bewegen, die aus den Tanzclubs dröhnten. Dann sprach er lange mit einem jungen
Mädchen, das mir Sachen andrehen wollte, die ich nicht im Entferntesten kaufen
wollte. Irgendwann wurde es mir zu bunt. Ich bat ihn, mich zu meinem Hotel zu
fahren. Daraufhin meinte er, er habe nicht den geringsten Schimmer, wo ich hin
wolle. So musste er auf den Verdienst verzichten. Seine Absichten blieben mir
unklar und während der Fahrt hatten sich große Zweifel aufgetan, ob er
überhaupt wusste, was er tat. Er hatte einen entrückten Anschein erweckt:
entweder war er völlig bekifft oder hatte andere Substanzen zu sich genommen.
Auch diese Episode brachte mich meinem Ziel nicht näher.
Als ich schon fast aufgegeben hatte, bot mir ein
Fremder seine Hilfe an. Er nahm mich auf seinem Motorrad mit und fragte sich
solange durch, bis wir das Hotel gefunden hatten. Mein „Retter“ wollte kein
Geld dafür annehmen.
Durbar
Square
Tags drauf ging ich zum Durbar Square
(Tempelplatz), dem traditionellen Zentrum der Stadt. Er wird dominiert von
mehrstöckigen Pagoden-Bauten und anderen Sakralbauten, die allesamt
mittelalterlich anmuten und wesentlich den Zauber Katmandus ausmachen. Noch
heute ist der Glaube in Nepal sehr ausgeprägt und wird mit unzähligen, bunten
Festen zelebriert.
Mir
fielen besonders die vielen zerlumpten Kinder auf. Schätzungen zufolge leben
5000 Straßenkinder in den Straßen Kathmandus. Sie leben in Gruppen zusammen,
die ihnen als Familienersatz dienen. Gewalt in ihren Familien und die Tatsache,
dass Kinder nach dem Tod eines Elternteils vom Stiefvater/-mutter oft abgelehnt
werden, zwingen sie auf die Straße. Sie besitzen keinerlei gesellschaftliche
Akzeptanz. In Gruppen kämpfen sie gegen Kälte und Hunger und verfallen dem
Klebstoff-Schnüffeln, Alkohol und/oder Marihuana, die den Hunger erträglich
machen und helfen ihre hoffnungslose Situation zeitweise zu verdrängen. Ihre
einzige Überlebenschance ist das Betteln um Almosen. Oftmals müssen kleine
Kinder auf noch kleinere aufpassen. Sie sind wahre Überlebenskünstler, aber
sehr, sehr traurige.
Ein
furchtbares Schicksal erleben die 20.000 Mädchen, die jedes Jahr aus purer Not ins Ausland verkauft werden - weil viele Familien es nicht schaffen, alle ihre
Kinder zu ernähren und keine Alternative sehen als die Kinder wegzugeben - viele
von ihnen landen in Bordellen.
Ich entschied mich zu einer Führung. Mein Guide
war ein ausgesprochen sympathischer Mann, der mir genau erklären konnte, wem
die Tempel geweiht waren und deren Geschichte und Funktion erklären konnte. Ein
Tempel war mit Darstellungen aus dem Kamasutra geschmückt; sie alle waren wichtigen
hinduistischen Göttern geweiht und die Funktion der Tempel hat sich im Laufe
der Jahrhunderte immer wieder verändert.
In einem Tempel-Palast am Rande des Durbar Square
lebt die Kumari – eine lebendige Kind-Göttin, die als Reinkarnation der
Schutzgöttin Taleju gilt und als Orakel des Königs, den sie wiederum während
einer jährlichen Prozession als Reinkarnation des Gottes Vishnus bestätigt. Im
Alter von drei Jahren werden die Mädchen (es gibt auch in anderen Städten
Nepals Kumari) von ihrer Familie getrennt und gelten fortan als Göttinnen, die
nur noch einmal im Jahr den Palast im Rahmen eines Festes verlassen und ansonsten
völlig isoliert von der Außenwelt leben, der sie sich nur gelegentlich an einem
Fenster des Palastes zeigen. Sie werden nach einem uralten und sehr komplexen
Ritual ausgewählt, das Assoziationen zur tibetischen Auswahl der Lamas weckt.
Mit der ersten Menstruation, verlieren sie ihren göttlichen Status und gelten
fortan als unrein. Hier spiegelt sich ein uraltes Denken, das leider noch immer
vielfach auf dem indischen Subkontinent vorherrscht und in Frauen Menschen
zweiter Klasse ansieht. Man denke nur an die Reaktionen eines Gurus in Indiens,
der bei der schrecklichen Vergewaltigung, die erst kürzlich zu einem internationalen
Aufschrei führte, die (leider sehr verbreitete) Meinung vertrat, die Frau trage
eine Mitschuld. In diesem Zusammenhang ist das Glorifizieren von Traditionen
per se dumm und gefährlich. Mit der Würde einer Göttin verlieren die Kumari
jegliche soziale Anerkennung und den Fall eines Menschen könnte man sich tiefer
kaum vorstellen – zumal soziale Fähigkeiten in der völligen Isolation
zwangsläufig nicht entwickelt werden können.
Gerne hätte sich mir der gelehrte und sympathische
Mann als Führer in den Bergen angedient. Wenn ich jemand engagiert hätte – dann
ihn und ich hätte ihm gerne geholfen. Doch ich hatte mir vorgenommen, die Berge
auf eigene Faust zu erobern und meine eigenen Wege zu finden.
Die
Hippies und die Freak-Street
Danach schlenderte ich über die „Freak Street“. Allerdings
war von den vergangenen Hippie-Zeiten, als hier offen Haschisch verkauft wurde,
fast nichts mehr zu sehen. Schade, dass ich diese Zeit nicht erlebt habe.
Allerdings hatte die Ankunft der Hippies Ende der 60`er und Anfang der
70`er-Jahre viele Entwicklungen angestoßen, die ich bedaure. Nepal, das sich
lange massiv gegen äußere Einflüsse abgeschottet hatte und erst in den
50`er-Jahren für westliche Besucher geöffnet und nie kolonialisiert wurde,
erlebte einen Kulturschock. Mit Sicherheit hätte das Land in jedem Fall einen
gravierenden Wandel erlebt, doch die Hippies und die ihnen folgenden
Globetrotter und Touristen haben die Geschwindigkeit erheblich erhöht. Die
erste befestigte Straße zwischen Kathmandu und Indien wurde erst 1956
fertiggestellt. Ab 1974 gab es die ersten internationalen Flugverbindungen.
Zuvor
hatte Nepal vor allem eine Bedeutung als wichtiges Glied in der Handelskette
zwischen Nordindien und Tibet. Als Transitland zwischen den aufstrebenden
Mächten Indien und China hat Nepal weiterhin eine erhebliche Bedeutung, da es
zwischen Indien und China keinerlei direkte Grenzübergänge gibt.
Auf die Nepali musste die Invasion der bunten
Blumenkinder wie die Ankunft von Aliens gewirkt haben. Doch das wird den
Menschen in Kabul kaum besser gegangen sein. Heute kann man auf Märkten DVD`s
erstehen, die erst Monate später in Europa oder Nordamerika in die Kinos
kommen. Auch viele andere moderne Luxusgüter haben ihren Weg hierher gefunden.
Eigentlich waren die Hippies auf den indischen
Subkontinent gereist, um aus ihrer modernen und weitgehend auf reiner Logik
basierenden Welt zu fliehen. Sie waren auf der Suche nach Spiritualität und
Weisheiten, die im Westen in Vergessenheit geraten waren. Angelockt wurden sie
vom geradezu mystischen Ruf Kathmandus.
Durch den (unfreiwilligen) Import von westlicher
Lebensart haben sie materielles Denken transportiert. Alleine die Vorstellung,
dass einfache Menschen aus Nordamerika oder Europa in der Lage waren bis
hierher zu reisen, war ungeheuerlich. Wie frei und wohlhabend mussten die
Menschen im Westen sein?
Ich bin mir jedoch bewusst, dass auch ich mit
meinen Reisen einen Beitrag zu den Veränderungen beitrage, die ich so sehr
kritisiere. Da mag ich mich noch so als
Brückenbauer verstehen. Doch auch hier gilt es abzuwägen und die Art und Weise
wie und mit welcher Intention man reist, spielt durchaus eine Rolle.
Wer
bedenkt, wie schnell sich die Lebensumstände in den Industrienationen in den
letzten Jahrzehnten geändert haben, der mag erahnen, wie schwierig die
Verständigung in Nepal zwischen den Generationen geworden ist – bisweilen
scheinen sie aus verschiedenen Zeitaltern zu stammen, die nebeneinander
bestehen.
So
scheinen viele junge Menschen den Kontakt zur eigenen Kultur zu verlieren und westliche
Lebensart übt auf die Meisten eine geradezu magische Faszination aus. Vielen reichen die Perspektiven im eigenen Land
nicht mehr aus. Ein Leben in den Dörfern ihrer Eltern, können sich nur noch die
wenigsten vorstellen. Fernsehen, Handys und Nachrichten von denen, die es in
Kathmandu oder im Ausland zu Wohlstand gebracht haben, wirken wie ein Magnet.
Doch es ist zunehmend schwieriger geworden in Kathmandu und entlang der
beliebten Treckingrouten ein Auskommen zu finden. So träumen Viele vom Aufbruch
in andere Länder, die ihnen mehr Perspektiven bieten sollen. So erlebt Nepal
einen wahren Exodus. Viele junge Menschen werden zu Wanderarbeiten, die in
Indien, Malaysia, Thailand oder den Golfstaaten heiß begehrt sind – aber auch
in aller Regel schlecht bezahlt werden. Längst nicht allen gelingt es nach der
Rückkehr mit den Ersparnissen eine eigene Existenz aufzubauen. Viele Träume
enden in den Fängen von Menschenhändlern oder in Elendsvierteln in Kuala Lumpur
oder anderen Metropolen. Diejenigen, die zurückkehren und ihren Traum
verwirklichen konnten, beschleunigen den Kulturtransfer und befeuern den Traum vom
Aufstieg. Eine Vielzahl von Internetcafes, Hotels und Lodges entlang der
beliebten Wanderrouten verschärfen den Konkurrenzkampf immer weiter.
Die Sprache dieses Plakats spricht Bände... |
Die
Maoisten
Auch die politische Situation spielt eine
entscheidende Rolle in dieser Entwicklung. Die Verhältnisse sind seit
Jahrzehnten so verworren, das viele nicht mehr an eine bessere Zukunft glauben.
Noah hatte zahlreiche Freunde durch den Terror der Maoisten verloren. Seit 1996
führen die Maoisten einen Guerillakampf gegen Polizei und Armee, der sich
schnell zu einem Bürgerkrieg ausweitete, der bis 2006 andauerte. Ende 2002
beherrschten die Maoisten 55 der 75 Distrikte Nepals. Sie haben durch Terrorakte und Zwangsrekrutierungen von Kindern in den
Dörfern viel Unheil über das Land gebracht. Nicht mal die chinesischen
Kommunisten wollen mit ihnen etwas zu tun haben und das will etwas heißen. Doch
die Brutalität kam auch von Seiten des Militärs und der Polizei. Der Ruf nach
gesellschaftlichen Veränderungen angesichts der massiven Korruption und dem Stillstand
in den ländlichen Gebieten, war nur zu verständlich. Indien schlug sich auf
Seiten der Monarchen und der Konflikt innerhalb Indiens zwischen der Regierung und den
marxistischen Naxaliten weist Ähnlichkeiten auf und es bestehen Verbindungen zwischen den Rebellen in Indien und Nepal.
Interessen der
Zentralregierung und lokalen Gemeinschaften stehen sich oft konträr gegenüber
und werden durch den steigenden Einfluss von multinationalen Konzernen immer
weiter verschärft. Auch hier kann man durchaus von einem Bürgerkrieg sprechen,
der aber außerhalb des indischen Subkontinents weitestgehend unbekannt ist.
Der Tourismus blieb von
den Konflikten weitgehend unberührt. Beide Seiten wussten um die Bedeutung
dieser Einnahmequelle und die Maoisten erhoben lange Zeit Zölle von Ausländern,
die in maoistisch kontrollierten Gebieten Wanderungen unternahmen.
Das Ende der Monarchie
Im
Jahr 2001 wurde bei einem Anschlag auf die nepalesische Königsfamilie fast die
ganze Familie ausgelöscht. Schließlich galt der König noch immer als
gottgleich.
In den Medien wurde der älteste
Sohn des Königspaares, Kronprinz Dipendra für den feige Anschlag verantwortlich
gemacht, der nach dem Massaker versucht habe, Selbstmord zu begehen. Drei Tage
später erlag er seinen Verletzungen.
Der
König war ausgesprochen beliebt in der Bevölkerung und hatte Nepal 1990 in eine
konstitutionelle Monarchie umgewandelt, in der er allerdings große
Machtbefugnisse behielt. Der Tod der Königsfamilie wirkte wie ein Schock auf
die Bevölkerung Nepals. Der wenig beliebte Bruder des Königs, Gyanendra, wurde
zum König und erklärte sich 2005 wieder zum absoluten Herrscher. Er hätte als
Nutznießer der Ereignisse ein Motiv gehabt, sich durch einen solchen Anschlag an
die Macht zu putschen. Doch bis heute ist ungeklärt, was sich tatsächlich
damals abgespielt hat.
Nach
einem Generalstreik der Maoisten im Jahre 2006 musste Gyanendra seine Macht
wieder auf das Parlament und den Ministerpräsidenten übertragen. 2008 wurde der
König durch das Parlament entmachtet und eine föderale demokratische Republik
ausgerufen. Die Wahlen im selben Jahr führten zu einem überraschenden Sieg der
Maoisten. Bis heute sind die Machtverhältnisse in Nepal ausgesprochen
undurchsichtig und es kommt immer wieder zu Streiks und Unruhen.
Thamel
Schließlich
konnte ich in das Hotel umziehen, in dem mein Freund Noah wohnte. Aus Goa
kannte ich auch eine Reihe anderer Gesichter. Merkwürdig die vertrauten Personen
an einem so ganz anderen Ort wieder zu sehen. Das verstärkt das Gefühl des
Irrealen, das mich immer stärker befiel. Das Hotel lag mitten in Thamel in
einem großzügigen Innenhof. Thamel ist das Zentrum der Tourismus-, Bergsteiger-
und Treckingindustrie Kathmandus. Ich hatte das Gefühl mich in einem
Paralleluniversum zu befinden, das von Händlern, Schleppern, Dealern,
Althippies und abgestürzten Freaks geprägt war, die sich vor einer Kulisse von
Treckingagenturen, Ausrüstungsläden, Kneipen, Restaurants, Internet-Cafes,
Massagesalons oder Bordellen, aber auch historischen Gebäuden, Schneidereien,
Märkten oder Läden, die Kunsthandwerk aller Art feilboten, durch die engen
Gassen drängten. Hier fand sich alles, was man sich vorstellen konnte und oft
noch weitaus mehr. Ganz besonders beeindruckten mich die verschiedenen
Kunsthandwerke; besonders Holzschnitzereien, Schmuck, Bronzestatuen, Steinskulpturen
oder tibetische Teppiche waren von einer erlesenen Qualität. Ein für die
Himalaya-Region sehr typisches Produkt sind auch die Thankas (Rollbilder mit religiösen Motiven).
Im
einen Moment war ich berauscht von den Eindrücken, im nächsten Moment wollte
ich so weit weg sein, wie irgend möglich. Manchmal mussten die Fahrradrikschas
mit ihren Klingeln Sturm läuten, um in diesem bizarren Chaos Gehör zu finden.
Die Motorradfahrer setzen ihre Hupen ein.
Bisweilen kam ich mir eingepfercht vor und die Häuser, die immer höher in den Himmel wachsen, verschlucken in den schmalen Gassen immer mehr Tageslicht.
Ich will nicht verschweigen, dass ich mir weiter viele Gedanken machte über die Schattenseiten des Fortschritts. Natürlich kann man Kathmandu auch ganz anders erleben.
Bisweilen kam ich mir eingepfercht vor und die Häuser, die immer höher in den Himmel wachsen, verschlucken in den schmalen Gassen immer mehr Tageslicht.
Ich will nicht verschweigen, dass ich mir weiter viele Gedanken machte über die Schattenseiten des Fortschritts. Natürlich kann man Kathmandu auch ganz anders erleben.
Die Atmosphäre in dem Zimmer, das ich bewohnte tat ihr Übriges: ein lauter und verdreckter Generator aus vor-sinnflutlicher Zeit raubte mir den Schlaf. Der Luftaustausch fand nur über den schmalen Innenhof des Gebäudes statt, auf den das einzige Fenster wies und der war düster, so dass kaum Licht ins Zimmer fand. Dafür aber Gerüche, deren Quelle ich nicht erkunden wollte. Die Dusche wurde zwar heiß, doch die Farbe des Wassers hielt mich davon ab, ausgedehnte Lieder unter der Dusche zu trällern – ich wollte den Mund auf keinen Fall aufmachen. Die Wände des Zimmers hatten schon bessere Zeiten gesehen und waren von gelben Nikotinrändern vergilbt. Dafür gab es mehrere Aschenbecher um den Prozess fortzusetzen. So gab es nur einen Ort, den ich aufsuchte – das Bett – immerhin schienen die Laken sauber zu sein. Es gab in dem Hotel auch bessere Zimmer; Da ich eigentlich einiges gewöhnt bin, kommt es selten vor, dass ich mich beschwere: aber hätte ich nicht gerne Zeit in der Nähe meines Freundes verbracht, dann wäre ich nicht lange geblieben. So verstärkten sich Innen- und Außenleben zu einem explosiven Gemisch und raubten mir zunehmend den Antrieb, so dass ich das irrationale Gefühl entwickelte, in eine Sackgasse geraten zu sein, aus der ich nicht mehr herausfinden konnte. Ein selbstverstärkender Prozess, der mir alle Kraft raubte. Ständig fiel der Strom aus. Zunächst dachte ich, dass es sich um Schwankungen im Stromnetz handeln würde, doch dann erfuhr ich, dass Nepal einen Teil seines Stroms an Indien verkauft und stellenweise 12 Stunden am Tag abgeschaltet wird. Ich mag den Schein von Kerzenlicht, aber in dieser Situation erschien mir alles noch trostloser.
Der
Lichtblick war ein kleiner Garten vor dem Hotel – inzwischen eine absolute
Seltenheit in der Stadt. Obwohl sich mit dem Baugrund viel Geld machen ließe,
weigert sich Noahs Onkel glücklicherweise, den Garten aufzugeben. In dem
kleinen Gartenhaus betreibt er eine bescheidene Gastronomie, die einfache
Speisen und Tee oder Bier bereithält. Im Garten saßen meistens junge Männer,
die ihre Zeit mit Gesprächen und zahllosen Joints totschlugen. Ich liebte die
Abgeschiedenheit dieser kleinen Oase und verbrachte viel Zeit hier. Nach ausgedehnten
Streifzügen durch die Stadt war es immer eine Wohltat, in den kleinen Garten
zurückzukehren.
Einer meiner Streifzüge führte mich in die Schwesterstadt Patan, die inzwischen mit Kathmandu zusammengewachsen ist. Das Bild zeigt den dortigen Durbar Square. |
Münchner
Weißbier und das Licht
Eines Abends traf ich im Garten auf einen Münchner,
der wohl um die 30 war und eine Flasche Münchner Weißbier in seinen Händen
hielt. Er war ein völlig verrückter Typ. Er machte zwar einen durchaus intelligenten,
einfühlsamen und wachen Eindruck, aber seine irren Augen sprachen eine andere
Sprache. In gewisser Weise war er mitreißend, man könnte seine Ausdrucksweise
aber auch übergriffig nennen. Er konnte sich schnell in Fahrt reden und befand
sich dann auf einer verbalen Schussfahrt ohne Bremsen. Tanzte in seinen Adern
das Morphium?
Seine Sprache war gespickt mit biblischen
Begriffen und Floskeln. Er sprach einerseits von Liebe und Selbstlosigkeit,
anderseits vom Fegefeuer, den Prophezeiungen der Apostel und der Apokalypse,
die uns bald reinwaschen würde. In seinen Worten lag eine befremdliche
Überzeugung und Wucht. Er war offenbar in seiner religiösen Überzeugung übers
Ziel hinausgeschossen. Nachdem er den richtigen Pfad für sich gefunden zu haben
meinte, war er nun mit einem missionarischen Eifer gesegnet, der keine anderen
Vorstellungen zulassen konnte.
In
seinem Gebaren erinnerte er mich an ein Bild eines apokalyptischen Reiters. Er
sprach vom Licht, das der Ursprung aller Religionen ist – eine durchaus schöne
Metapher - und hielt mir das brennende Feuerzeug vors Gesicht, um seine These
zu unterstreichen. Wenn es doch so einfach wäre…
Von
ihm erfuhr ich jedoch auch erstmals vom Schicksal der Straßenkinder. Er hatte
alles hinter sich gelassen und behauptete, er hätte lange mit den Kindern
zusammen verbracht. Seine Vergangenheit hatte er nach eigener Aussage weit
hinter sich gelassen. Ob er noch wusste, wer er einst gewesen war?
Bakthapur
und das nepalesische Neujahr
Ich wollte mit Noah Bakthapur einen Besuch
abstatten. Neben Patan und Kathmandu war Bakthapur eine der drei Königsstädte gewesen,
die in wechselnden Bündnissen und Rivalitäten über Jahrhunderte das Leben im
Tal bestimmt hatten. Ich freute mich darauf, endlich wieder etwas mit Noah
unternehmen zu können. Nur einmal waren wir zuvor in die Hügellandschaft im
Umland gefahren. Doch auf dem Weg sollte ich
noch eine andere Seite von Nepal kennen lernen. Kaum hatten wir die
Stadt verlassen, war unser Ausflug auch schon zu Ende. Auf dem Highway musste der ganze Verkehr
plötzlich kehrt machen. Die Situation wurde in Sekundenbruchteilen völlig undurchsichtig
und erschien bedrohlich. Polizei und schwer bewaffnetes Militär rückte an. Noah
konnte in Erfahrung bringen, dass es einen Unfall gegeben hatte. Ein Mann war von
einem Bus überfahren worden. Nun war sein ganzer Clan erschienen, um diesen
„Mord“ zu rächen. In diesem Moment war sichtbar, wie archaisch es in Nepal
zugehen kann. Noah war bestimmt kein ängstlicher Mensch. Seine Besorgnis war
ein deutliches Zeichen, wie gefährlich diese Situation werden konnte.
Beim
nächsten Anlauf erreichte ich Bhaktapur mit dem öffentlichen Bus. Das dauerte
zwar anderthalb Stunden, war aber zwanzigmal billiger als ein Taxi.
Bakthapur
ist die am besten erhaltene der drei Städte im Tal von Kathmandu. Die Altstadt wurde
nach einem Erdbeben 1934 schwer beschädigt und wurde seitdem aufwendig restauriert.
Hier sind keine motorisierten Gefährte erlaubt. Außerhalb der Innenstadt zieht
sich auch hier ein Betongürtel wie ein Ring um die Stadt. Ich genoss die
deutlich bessere Luft in der Altstadt nach dem lebensfeindlichen Gemisch in
Kathmandu. Durch eines der Stadttore in die Altstadt gelangt, fühlte ich mich,
als wäre ich geradewegs im Mittelalter aufgeschlagen. Das Bild entsprach viel
stärker dem, was ich mir unter Kathmandu vorgestellt hatte. Ich sah kaum Touristen
und genoss die relativ leeren Gassen – eine Wohltat nach den immerwährenden
Menschenmassen. Das erste Mal seit Langem fühlte ich Frieden in meinem Herzen.
Die Menschen sangen vor den Tempeln oder saßen in Gruppen zusammen und
unterhielten sich. Eine gefühlt andere Welt.
Ich
schlenderte stundenlang durch die Stadt und als ich mich schon auf den Rückweg
machen wollte, stieß ich auf den Hauptplatz, der mir zuvor entgangen war. Hier
sah ich die schönsten Pagoden-Tempel, die ich je gesehen habe. Der
Platz war gesäumt von Menschen; die Kulisse strotze vor Lebendigkeit – etwas
lag in der Luft. Ich war gänzlich umgeben von einer Kulisse, die einer anderen
Zeit entstammte.
Am anderen Ende des Platzes erblickte ich eine große Zahl Polizisten – sie waren ausgerüstet mit Helmen samt Sichtschutz, hohen Schutzschildern und schweren Knüppeln. Die Stimmung auf dem Platz war angeheizt. War hier ein Aufstand im Gange? Meine Neugier wuchs mit jeder Sekunde. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass keineswegs der Kriegszustand ausgebrochen war, sondern dass sich vor meinen Augen das Neujahrsfest abspielte, das in Bakthapur eine Woche lang zelebriert wurde, während es in Kathmandu völlig unspektakulär verlaufen war und nach einem Tag zu Ende ging. Die Dämmerung war dabei der Nacht zu weichen. Im künstlichen Licht zeigten sich schwere Wolken und ein mächtiges Donnergrollen verhieß nichts Gutes. Blitze zuckten vom Himmel herab. Es begann, in Strömen zu regnen. Der Strom fiel aus und im Zwielicht wurden die Umrisse der Tempel zu Schemen und mir schien, als würde die Vergangenheit mit einem Schlag lebendig. Grimmige Laute aus hunderten Kehlen weckten mein Interesse. Als ich näher kam, erblickte ich einen hölzernen Tempel, an dem zwei schwere Taue befestigt waren. Zwei Parteien versuchten den Tempel auf ihre Seite zu ziehen. Wie ich später erfuhr, handelt es sich um einen symbolischen Wettstreit zwischen Unter- und Oberstadt. In dem Moment bewegte sich der Tempel gar nicht; er steckte an einem Anstieg fest. Die herben Ausdünstungen von Reisschnaps verrieten mir, dass meine eigene Nüchternheit ein exklusives Privileg darstellen musste.
Als
wäre die Anarchie um mich herum nicht schon groß genug, realisierte ich nun,
dass auch der Wurf von schweren Steinbrocken Teil der Veranstaltung war. Welche archaische Tradition dahinter steckte, konnte ich bislang nicht herausfinden.
Jedenfalls
formierte sich jeweils eine der Parteien, rückte vor und ließ einen Steinhagel
auf die Gegenseite niedergehen. Diese floh, sammelte sich, begann mit lauten
Rufen die Gegenseite zu provozieren und holte ihrerseits zum Gegenschlag aus.
Eine Reihe junger Männer war auf einzelne Tempel geklettert, deckte Teile der
Steindächer ab, die von anderen am Boden zerkleinert wurden und den Nachschub
an Munition sicherstellten. Die Polizei war nur dazu da, um mit ihren Schilden
das Schlimmste zu verhindern. Ich realisierte die Gefahr erst, als ich im
Steinhagel stand und nur mit Glück verfehlt wurde. Ich war der einzige
Ausländer weit und breit, was nur mäßig überraschen konnte. Auf meine Nachfrage
bei einem der Teilnehmer erklärte er mir, dass man gesegnet sei, sollte einen
ein Stein treffen. Die Getroffenen sahen jedoch wenig gesegnet aus…
Doch
es zog mich noch ein paar Mal ins Geschehen. Eine morbide Faszination war dem
Ganzen keineswegs abzusprechen. Wer weiß wohin es mich getragen hätte, wenn ich
geblieben wäre, den angebotenen Reisschnaps akzeptiert hätte und Teil des
Geschehens geworden wäre. Aber dies war nicht meine Welt und so wandte ich mit
klopfendem Herzen aber auch einigem Bedauern ab, nicht erfassen zu können, was
sich hier abspielte.
Ich
verließ die Szenerie durch eines der Stadttore und stellte nun fest, dass kein
Bus mehr zurückfuhr. Ich konnte auch kein Taxi auftreiben. Die wenigen, die ich
sah, waren schon besetzt. Also lief ich wieder in die Richtung, aus der ich mit
dem Bus gekommen war.
Die Apokalypse und ihr Reiter aus
München
Der
Weg führte auf den Highway, der gerade von zwei auf sechs Spuren ausgebaut
wurde. Ich lief im strömenden Regen direkt auf der Straße, da es keinen
Fußgängerweg gab. Der Strom war noch nicht zurückgekehrt und das Gewitter war
weiter im Gange. Längst war ich vollständig durchnässt. Ich verfluchte mich, dass
ich nicht mehr Anstrengungen unternommen hatte, um ein Taxi in der Stadt zu
organisieren. Ich glaube kaum, dass viele Menschen so wahnsinnig sind, auf
diesem Highway zu laufen. Ich steckte meinen Daumen raus, aber diese Geste
wurde ignoriert. So lief ich kilometerweit auf dem pechschwarzen Highway und
nur das Aufflackern der Blitze, verriet mir, in welch trostloser Umgebung ich
mich befand. Auf
beiden Seiten der Straße zogen sich endlose Betonklötze. Die Welt war schwarz-weiß
geworden und der sofortige Beginn der Apokalypse hätte mich nicht weiter
überrascht. Was zur Hölle tat ich hier?
Irgendwann hielt ein Taxi an und nahm
mich mit. Auf der Fahrt realisierte ich, dass ich erst einen Bruchteil der
Strecke absolviert hatte und noch die ganze Nacht unterwegs gewesen wäre.
Nach meiner Rückkehr, lief ich durch die düsteren
Gassen Kathmandus und hörte das Raunen von Männern, die mir alle erdenklichen
Substanzen und Dienstleistungen des leichten Gewerbes schmackhaft machen
wollten. Als ich endlich den Garten unseres Hotels erreichte, traf ich wieder
den exzentrischen Münchner. Er hatte keinerlei Schwierigkeiten, meine
Erlebnisse zu deuten. Er erklärte mir wissend, ich hätte durch die Steinigung
meine Läuterung erlebt und das Unwetter habe mich gereinigt und jetzt sei ich
bereit das Licht zu schauen…
Wenn man so einen Schatten hat,
lebt es sich womöglich leichter.
Fazit
Ich
habe mich in diesem Blog vornehmlich den Schattenseiten Kathmandus zugewandt. Ich
möchte betonen, dass ich das getan habe, weil ich das Land auf Anhieb in mein
Herz geschlossen habe und mir das Schicksal der Menschen viel bedeutet. Bis
heute pflege ich Kontakt mit den Nepali, die ich kennen gelernt habe. Ich habe fast
ausschließlich Erfahrungen mit freundlichen, ehrlichen und sympathischen
Menschen machen dürfen.
In diesen Blog sind auch Erfahrungen eingeflossen,
die ich an anderen Orten Asiens gemacht habe. Das waren Bilder von Industriegebieten,
Elendsvierteln oder verdreckten Flüssen und Stränden. Auch die sichtbaren
Folgen des Massentourismus an zahllosen Orten haben aufgrund ihrer
Eindringlichkeit mein Denken geprägt. Doch an keinem anderen Ort waren diese Eindrücke so
massiv.
Immer wieder habe ich mich auf Routen begeben, die
auch schon die Hippies angezogen haben. Ich teile den Wunsch nach einem
Innehalten und einem Hinterfragen von sinnvollen und sinnlosen Folgen des
Fortschritts, bin in vielerlei Hinsicht selbst ein Aussteiger, der am
herrschenden Wirtschaftskreislauf so wenig wie möglich partizipieren möchte.
Zum anderen bin auch ich bestrebt, essentielle Werte (wieder) zu entdecken. Gleichzeitig habe ich ein Unbehagen bezüglich der
hedonistischen Züge vieler Hippies. Zudem entwickeln viele eine Engstirnigkeit und
ein irrationales Gefühl der moralischen Überlegenheit. Ganz wichtig erscheint mir, sein
eigenes Handeln immer wieder zu hinterfragen und anderen Kulturen Respekt entgegenbringen. Noch
immer zieht Asien viele Menschen an, die nach neuen (bzw. alten) Wegen suchen.
Umso wichtiger ist es seine Suche in Einklang mit den Bedürfnissen der
Einheimischen aber auch mit den eigenen ökologischen Vorstellungen zu bringen.
Es gibt nachhaltige Wege zu reisen und vor Ort zu leben und man kann
entscheiden, wen man vor Ort unterstützt und wie man sich auch nach der
Rückkehr engagieren kann. Nicht zuletzt hat das Konsumverhalten in der
westlichen Welt direkte Einflüsse auf die Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländer.
Kathmandu hat mit dem Müll, seinen Abgasen und seiner
viel zu schnellen Stadtentwicklung für mich etwas Apokalyptisches. So stellte
ich mir manchmal die ganze Welt vor, wenn dieser Fortschritt um jeden Preis
nicht gebremst wird.
Auf der einen Seite empfand ich Kathmandu als laut,
stinkend und aufdringlich – ein extremer Kontrast zu den am Ende der Saison
fast ausgestorben Stränden Goas - gleichzeitig gab es an jeder Ecke etwas zu
sehen - als befände man sich in einem riesigen Freilichtmuseum. Das
ungebrochene Geistesleben, das sich vor den kleinen Tempeln in den Straßen der
Stadt abspielt, pulsierende Märkte mit exotischen Gerüchen und fortwährende
Zeitreisen von Gasse zu Gasse – all das erzeugt eine ganz besondere Atmosphäre
und raubt einem bisweilen die Sinne. Auch wenn ich mich manchmal überrollt
fühlte von den ganzen Eindrücken – so vermisse ich diese Lebhaftigkeit oft und
freue mich schon, noch einmal in das Land zu reisen. Ich hoffe ich finde noch
Wege, mich direkter für das Land zu engagieren oder zumindest mit meinen
Beiträgen Menschen zum Nachdenken anzuregen und ein Bewusstsein zu erzeugen.
Nicht vergessen habe ich auch einen Engländer, der
offenbar Kathmandu niemals wieder verlassen hat und versucht sein Auskommen zu
bestreiten, indem er Flöten an Touristen verkauft. Doch wer weiß - vielleicht wird
man vielleicht auch mich irgendwann in Katmandu antreffen, mit einem anderen
genialen Geschäftsmodell…
Am
Ende meiner zwei Wochen in Kathmandu waren meine Atemwege stark mitgenommen. Welche Auswirkungen hatten diese Lebensbedingungen auf die Stadtbevölkerung?
Mental pfiff ich aus dem letzten Loch und mich plagten große Zweifel, ob ich meine Reisen fortsetzen konnte. Am Ende gab ich mir einen kräftigen Tritt und die dreiwöchige Wanderung zum Fuße des Everest, die folgen sollte, wurde zu einem der Schlüsselerlebnisse meiner Reisen. Der erste Teil meines Berichts findet sich hier.
Mental pfiff ich aus dem letzten Loch und mich plagten große Zweifel, ob ich meine Reisen fortsetzen konnte. Am Ende gab ich mir einen kräftigen Tritt und die dreiwöchige Wanderung zum Fuße des Everest, die folgen sollte, wurde zu einem der Schlüsselerlebnisse meiner Reisen. Der erste Teil meines Berichts findet sich hier.
Beim
nächsten Besuch in Kathmandu werde ich mich stärker auf das spannende kulturelle Erbe des Tals
fokussieren und die schönen Seiten der Stadt stärker herausarbeiten. Doch die Stadt hat nur eine lebenswerte Zukunft, wenn die ungelösten Probleme angegangen werden...
Weiterführende Links:
Kathmandu
Detaillierte
Informationen zur Müllproblematik der Stadt.
Der Bericht stammt von
1995 und beschreibt die ökologischen, hygienischen und spirituellen Folgen der
Verschmutzung des Bagmati und die Auswirkungen von westlicher Lebensart auf die
Jugend.
weitere Blogs mit dem Schwerpunktsthema Fortschritt
Rezension: Die Wege der Menschen - auf den Straßen, die unsere Welt verändern
sechs ausführlich recherchierte und vielschichtige Reportagen über die Globalisierung und die Verheißungen des Fortschritts - die Reportagen zeichnen ein differentiertes Bild der tatsächlichen Verbesserungen und der Schattenseiten einer zunehmend einförmigen Entwicklung.
sechs ausführlich recherchierte und vielschichtige Reportagen über die Globalisierung und die Verheißungen des Fortschritts - die Reportagen zeichnen ein differentiertes Bild der tatsächlichen Verbesserungen und der Schattenseiten einer zunehmend einförmigen Entwicklung.
Der Banana-Pancake-Trail - Unterwegs auf dem vollsten Trampelpfad der Welt
Ein Buch über die Backpacker der heutigen Zeit. Stellenweise mit großer Sympathie für seine Mitreisenden; oft voller beißender Ironie. Ein Buch, das die Überzeugungen vieler Backpacker aufs Korn nimmt und dabei zum Nachdenken anregt.
Ein Buch über die Backpacker der heutigen Zeit. Stellenweise mit großer Sympathie für seine Mitreisenden; oft voller beißender Ironie. Ein Buch, das die Überzeugungen vieler Backpacker aufs Korn nimmt und dabei zum Nachdenken anregt.
im zweiten Teil meiner Biographie Tiziano Terzanis geht es um seine Erfahrungen im boomenden Japan mit dem entfesselten Kapitalismus und den Wandel der asiatischen Kulturen, die durch den zunehmenden Einfluss materieller Werte an den Rand gedrängt werden. Eine außergewöhnliche Reise konfrontiert ihn schließlich mit den Verlieren der Globalisierung.
Reisereportagen: Bali - Kuta und der Massentourismus
Betrachtungen zu Den Folgen des Massentourismus
auf das reiche kulturelle Erbe Balis.
Reportagen: der Preis des Fortschritts
Reportagen aus Indien, China und Papua-Neuguinea, die Zukunftsfragen aufwerfen.
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aktuelle Links zum Thema Plastik
ich lebe in Kathmandu, alles so wie Du es beschrieben hast sind auch meine Empfindungen. es gibt nur eins, man liebt, oder hasst es. Danke für die Links von dir. lg US kathmandu
AntwortenLöschenDann freut es mich besonders, wenn Du meine Empfindungen teilen kannst. Mein Bericht basiert ja nur auf einem zweiwöchigen Besuch in Kathmandu. Aber gerade die Gespräche mit jungen Nepalis haben mir einen gewissen Einblick gewährt. Eine Liebe zu Indien und Nepal habe ich definitiv entwickelt; aber auch Erfahrungen gemacht, die bisweilen hart zu ertragen sind. Von hassen würde ich in dem Zusammenhang nicht sprechen, aber ich weiß, wie Du das meinst. Beileibe nicht jeder kann sich auf die Fremde wirklich einlassen. Ein wenig Zeit braucht es in jedem Fall...
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