Freitag, 18. Januar 2013

Reisereportagen: Kathmandu und der Fortschritt



Einleitung

Nach einem längeren Aufenthalt im Süden Indiens, lag mein nächstes Ziel in Nepal. Die Hitze war Mitte April in Goa kaum noch auszuhalten und der Monsun kündigte sich bereits vorsichtig mit schweren Wolkenfronten an – auch wenn der eigentliche Monsun noch einige Zeit auf sich warten lassen würde. Der Luftdruck und die Luftfeuchte machten bereits jetzt den Körper und die Gedanken schwer wie Blei. Es war Zeit in kühlere Regionen aufzubrechen und neue Horizonte zu erobern. Nach meinen ersten Erfahrungen im Himalaya, dürstete es mich danach, die zauberhafte Bergwelt wieder zu sehen und an den Fuß des Mount Everest zu wandern. Seit den ersten Berichten, die ich über Kathmandu und die Bergwelt Nepals gelesen hatte, zog es mich dorthin. Eigentlich hatte ich beabsichtigt, gemeinsam mit meinem Freund Noah und seinen Angestellten, die ich im kleinen Paradies - einer zauberhaften Bucht mit Felsen, Palmen und kleinen Fischerbooten, in der ich über zwei Monate verbracht hatte - kennen und schätzen gelernt hatte, gemeinsam mit Zug und dem Bus in ihre Heimat Nepal zu reisen. Eine Höllentour weit über 2000 Kilometer, die aber an ihrer Seite mit Sicherheit sehr spannend und lehrreich geworden wäre. Doch mir war eine zauberhafte indische Frau begegnet, die mich in ihren Bann gezogen hatte. Und umgekehrt. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls bewohnte ich die malerische Bucht auch dann noch, als die Saison bereits beendet war und ich alleine die Kokoshütte in der verwaisten Anlage bewohnte, die mir mitsamt der phantastischen Umgebung zu einem Stück Heimat geworden war. Bald würde der Monsun die temporäre Behausung in ihre Einzelteile zerlegen, bevor sie Monate später wieder errichtet werden würde.


Unterwegs

Schließlich verließ ich nach einem schweren Abschied Indien und flog mit Zwischenstopps in Bombay und Delhi nach Kathmandu. Aus der Vogelperspektive die Slums und Hochhäuser von Bombay und Delhi zu betrachten, wirkte verstörend. Doch große Teile der indischen Bevölkerung träumen davon, aus den Dörfern und Vororten in die Städte zu ziehen, um sich den Traum von einem besseren Leben zu erfüllen. Viele finden jedoch nur ganz am Rande der städtischen Gesellschaft eine spärliche Existenz. Zudem prallen traditionelle und moderne Wertevorstellungen unmittelbar aufeinander. Allerdings ist dies keine Entwicklung, die nur auf Indien beschränkt wäre…

Beim Reisen ins Unbekannte habe ich eine extreme innerliche Ambivalenz. Sehr zwiespältige Gefühle wechseln in schneller Abfolge: speziell zu Beginn und gegen Ende einer Reise fühle ich mich als würde ich taumeln: ein Gefühl zwischen Euphorie, Schwindel und Freude - Reisefieber ist in diesem Zusammenhang mehr als eine Metapher. Mir wird mulmig. Ich weiß: ich lebe einen Traum – zugleich weiß ich nicht wohin mich dieser Weg führen wird und Zweifel kommen auf, ob ich es nicht zu weit treibe. Manchmal überkommt mich leise Panik. Das Gefühl der Getriebenheit ist bisweilen  sehr unangenehm: ich lasse nicht nur das Vertraute hinter mir, sondern überschreite Grenzen, die keine Umkehr erlauben - so selten ich das bereut habe. Überschreite ich diese Grenze, dann flutet Adrenalin durch meinen Körper und Geist; ungeahnte Energie schießt durch meinen Körper.

Ich erreiche geradezu meditative Zustände, die über Stunden anhalten und mir ein solches Maß an Gelassenheit, Frieden und Kreativität schenken, dass ich irre vor mich hin grinse und vor Freude zerspringen könnte. Pure Freiheit. Manchmal muss ich laut über meine irren Gedanken lachen. Besorgte Gesichter mustern mich mit hochgezogenen Augenbrauen – mich, den komischen Kautz, der mit ihnen reist und entweder verrückt, gefährlich oder unverschämt gut drauf ist.
Bisweilen kann ich mich aber auch sehr verloren und melancholisch fühlen. Trotzdem ein Gefühl, das geradezu süchtig macht. Als Alleinreisender sind diese Gefühle extrem intensiv und ich bedaure manchmal, dass ich sie so selten teilen kann.


Nepal


Nepal gliedert sich in drei sehr unterschiedliche Regionen: die eine Hälfte der Bevölkerung lebt im Süden, einem relativ schmalen Streifen am Rande der indischen Grenze, das geographisch zur Ganges-Ebene gehört. Der Großteil der übrigen Bevölkerung lebt im Kernland - einer Hügellandschaft, die bis auf 3000m hinaufreicht und von zahllosen Tälern zerfurcht wird. Hier liegt auch das fruchtbare Tal von Kathmandu. Im nördlichen Teil, das von Hochgebirgsregionen geprägt ist, leben vergleichsweise wenige Menschen.

Noch immer leben über 80% der 28 Millionen Einwohner Nepals auf dem Land. Doch das ändert sich rasant und inzwischen hat die Metropolregion Kathmandu etwa 1,5 Millionen Einwohner. Das soziale Gefälle zwischen Land- und Stadtbevölkerung ist extrem. Die Hälfte der Bevölkerung besteht aus Analphabeten. Massive Korruption und das festzementierte Kastensystem verhindern die Entwicklung der ländlichen Gegenden. So gehört Nepal zu den ärmsten Nationen der Welt. Trotz der vielen buddhistischen Pilgerstätten Nepals gehören weniger als 15% der Bevölkerung dem Buddhismus an. 80% der Bevölkerung sind Hindus und der Hinduismus und Nepal war bis 2006 die einzige hinduistische Monarchie der Welt.


Ankunft

Die Ankunft in Kathmandu war ausgesprochen merkwürdig. Ich hatte kein Geld, um das Visum zu bezahlen. Ich hatte mir auf meinen Reisen angewöhnt, mich gleich nach Ankunft in einem neuen Land am Bankautomaten mit Devisen einzudecken. So musste ich mir keine Gedanken über die Wechselkurse an den Flughäfen machen. Aber in dem Gebäude, das nur entfernt an einen modernen Flughafen erinnerte, gab es keinen Geldautomaten. Man erklärte mir freundlich, es gebe einen außerhalb des Gebäudes. Also passierte ich das „Immigration Office“ und machte mich auf die Suche. Da mein Rucksack schon über das Band rollte, nahm ich ihn unterwegs auf, und verließ das Gebäude ohne von Kontrollen behelligt zu werden. Ein merkwürdiges Land,  in dem man ohne Visum und Passkontrolle aus dem Flughafen spazieren konnte. Nepal hat zweifellos andere Probleme als illegale Einwanderung…

Als ich das Geld aus dem Automaten zog und genauer betrachtete, befielen mich spontanen Zweifel an der Seriosität der entsprechenden Bank. Dermaßen zerfleddertes Geld hatte ich noch nicht gesehen. Einzelne Geldscheine waren mit Klebestreifen aneinandergeklebt und von einer fragwürdigen Konsistenz. Zurück auf die obere Ebene des Flughafengebäudes zu gelangen, war offensichtlich nicht vorgesehen – zumindest nicht für Passagiere. Also rannte ich die lange Rolltreppe vollgepackt in Gegenrichtung nach oben. Schwer schnaufend dort angekommen, musste ich meine neuerworbenen nepalesischen Rupien umtauschen – der nepalesische Staat akzeptiert ausschließlich US-Dollar. 
 
Da ich Noah im Vorfeld nicht mehr kontaktiert hatte, wusste ich nicht, ob er gerade im Hotel seines Onkels in Kathmandu wohnte oder im Dorf seiner Familie gastierte. Da keiner der Schlepper vor dem Flughafen das Hotel kannte oder kennen wollte, beschloss ich mir zunächst ein anderes Hotel zu suchen. Während ich vor dem Flughafen rumlungerte und Tee trank, kam ich mit Raj ins Gespräch, einen jungen Nepali, der mir auf Anhieb sympathisch war und beschloss mir das Hotel, für das er warb, anzusehen. Wir fuhren in einem schönen Oldtimer, der eher von Patina als von Schrauben zusammengehalten wurde, in die Stadt. Ich kam mir vor wie auf einer Zeitreise. Sobald wir das Flughafenareal verließen, tauchte ich in eine andere Welt ein.
Stellenweise war die mittelalterlich anmutende Architektur des alten Kathmandus sichtbar. Gleichzeitig waren überall einfache Betonbauten wie Pilze aus dem Boden geschossen. Auf den schmalen, meist nur einspurigen Straßen wimmelte es von Mopeds, Fahrrädern, Autos, Rikschas, Fußgängern und vereinzelten Kühen, die sich ihren Weg bahnten und für ein dauerhaftes Verkehrschaos sorgten. Die offenen Stromleitungen erinnerten an das Web-werk einer schizophrenen Spinne.
Das Hotel bot keine Aussicht, dafür lag vor meinem Zimmer ein einladender Balkon, der mit gemütlichen Korbstühlen ausgestattet war, und zum ruhigen Innenhof wies. Diese Innenhöfe sind die verbliebenen Oasen Kathmandus und bieten einen privaten Raum, der einen erholsamen Kontrast zu den stark belebten und lauten Straßen darstellt. Ich unterhielt mich noch lange mit Raj über unsere Vorstellungen und Träume und wir rauchten ein paar Joints. Es ist immer wieder erstaunlich zu erleben, in welcher Windeseile Humor in der Lage ist, kulturelle Grenzen zu überwinden.


Swayambunath

Am nächsten Tag fuhr ich auf dem Rücksitz von Rajs Motorrad zum Swayambunath.
Raj war offensichtlich stolz auf den Besitz des Motorrads – leider auch auf seinen psychopathischen Fahrstil, mit dem er noch durch die schmalste Gasse bretterte. Instinktiv fragte ich mich, was zum Teufel ich wohl auf dem Rücksitz dieses Wahnsinnigen verloren hatte. In gewisser Weise teilte ich dennoch das rauschhafte Gefühl meines Fahrers und konnte mir ein Grinsen ob des Wahnsinns nicht verkneifen. 

 





Im Übrigen spiegelt sich in der grenzenlosen Faszination vieler (vor allem junger) Nepali für Motorräder die Verheißung der Moderne: individuelle Freiheit und Mobilität steigen enorm, der Geschwindigkeitsrausch ist verlockend und nicht zuletzt stellt es ein Statussymbol als Zeichen des sozialen Aufstiegs dar. 









Swayambunath ist ein zunächst hinduistisch und später buddhistisch geprägtes Heiligtum auf einer bewaldeten Anhöhe am Rande der Stadt. Sie wird von Tempeln und einer großen Stupa gekrönt, die mit Gebetsfahnen geschmückt sind. Durch die hohe Affenpopulation wird das Gelände auch „Monkey Temple“ genannt. Von dieser natürlichen Anhöhe hatten wir einen guten Überblick über Kathmandu. Hier wurde endgültig deutlich: die Kleinstadt, die die Hippies vorgefunden hatten, existierte nicht mehr und die Stadt war seitdem unkontrolliert gewachsen. Längst waren Betonklötze stadtprägend. Ich fühlte einen Stich im Herzen – mein Bild von Nepal war stark geprägt von historischen Berichten und auch die aktuellen hatten den Ausmaß des Fortschritts nicht thematisiert oder ich hatte es gleich wieder verdrängt. Die reiche Tradition Nepals hatte mich nach Kathmandu gelockt. Diese existierte weiterhin, doch sie wurde zunehmend an den Rand gedrängt. Zumindest erschien es von dieser Warte so:

 
Auf dem Tempelgelände wimmelte es von Sadhus (aus dem Sanskrit; wörtlich übersetzt „guter bzw. heiliger Mann“). Sie sind Mönche aus verschiedenen hinduistischen Orden. Ein Sadhu, der das weltliche Leben völlig aufgegeben hat und in Askese lebt, ist ein Sannyasin, ein „Entsagender“. Manche leben an einem Platz in der Nähe eines Tempels; andere leben in Höhlen oder sind völlig heimatlos auf ständiger Wanderschaft. Sannyas ist auch die letzte der vier Stufen eines idealen Hindu-Lebens, das das Dharma, die hinduistische Ethik, als erstrebenwert ansieht. Im letzten Abschnitt des Lebens besteht die Aufgabe, sich von allem Weltlichen zu lösen und sich als Wanderer auf die Suche nach Erlösung zu begeben. Dabei werden sie durch Spenden der Bevölkerung unterstützt. Manche Männer entscheiden sich schon in jungen Jahren zu einem Leben als Sadhu. Freilich sind die Grenzen in diesem Metier zwischen Asketen und Scharlatanen fließend. Besonders dort, wo der Tourismus eine wichtige Rolle eingenommen hat. Aber in gewisser Weise waren die Sadhus schon immer eine Art soziales Ventil – eine Möglichkeit außerhalb der Gesellschaft zu überleben. Ihnen wird große Anerkennung aber oft auch Angst entgegengebracht. Es gibt extrem verschiedene Ausprägungen unter den verschiedenen Orden. Sehr skurril wirken vor allem die Geschichten von Sadhus, die jahrelang einen Arm in die Höhe gehalten haben, bis sich der Arm versteifte, um ihre Ergebenheit und ihren Willen zu demonstrieren. Und das sind längst nicht die wildesten Geschichten…

 
Einer fackelte nicht lange, um mein Einverständnis abzuwarten, sondern drückte mir einen roten Farbtupfer auf die Stirn – das Tilaka - ein Zeichen des Segens. Seine Forderungen nach Bakschisch (im ursprünglichen Sinn eine Art Almosen) fand ich in diesem Fall unangemessen und auch Raj riet mir entschieden davon ab, seine offensive Annäherung zu belohnen.


Noah

Zurück in der Innenstadt lief ich zum Hotel, in dem ich Noah anzutreffen hoffte. Er war gerade von seinem Dorf zurückgekehrt und würde nun für einige Zeit in der Stadt bleiben. Schade; ich hatte mich sehr auf den Besuch in seinem Dorf gefreut. Dort hatte Geld erst vor einem Jahrzehnt den traditionellen Tauschhandel abgelöst und ich hatte gehofft so ein authentisches Bild Nepals zu gewinnen. Leider war Noah schon seit Monaten wegen mysteriösen Magenbeschwerden kraft- und antriebslos und besaß zu dem Zeitpunkt nur wenig von der Gelassenheit, Fröhlichkeit und Herzlichkeit, die ihn zu einem Menschen macht, der immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. Ich habe ihn kennen lernen dürfen als ich nach einer turbulenten Odyssee (die ich in meinem Buch beschrieben habe) am Ende meiner Reise einen sicheren Hafen fand, ohne den meine Reise niemals zu einem guten Ende gekommen wäre. 

Noah war schon als Jugendlicher in den Hotelbetrieb des Vaters eingestiegen und hatte früh gelernt, mit Ausländern umzugehen und ihre höchst unterschiedlichen Bedürfnisse zu verstehen (in erster Linie die individuelle Sichtweise, die sich von der asiatischen, die sich weiterhin viel stärker auf das Familiensystem oder das Kollektiv bezieht) unterscheidet. Nachdem er gerade volljährig in Pokhara (der zweitgrößten Stadt Nepals in der Nähe des Anapurna) ein eigenes Gasthaus geleitet hatte, zog es ihn nach Südindien. Bereits in seinem ersten Jahr in Goa wurde sein Talent, mit Touristen umzugehen, offensichtlich und so bekam er von einem Engländer das Angebot gemeinsam ein kleines Resort zu betreiben. Nachdem sich der Engländer bereits nach einem Jahr zurückzog, konnte Noah es alleine betreiben und machte es mit seiner offenen Art auf Menschen zuzugehen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man sich sofort wohlfühlt, der geschickten Auswahl von Angestellten in Nepal und einem Instinkt für die richtige Gastronomie, den richtigen Ton und die richtigen Angebote, zu einem sehr beliebten Anlaufpunkt. Als ich ihn kennenlernte betrieb er im zweiten Jahr sein neues Projekt, an dem traumhaften Ort, der Ausgangpunkt dieses Blogs war. Denn nach der Geburt seiner zauberhaften Tochter, die neben seinen Eigenschaften auch die Schönheit ihrer Mutter, einer französischen Musikerin mit unglaublicher Ausstrahlung und Anmut, geerbt hatte, stand ein ruhigeres Leben im Vordergrund. 

Da es in dem Hotel, das inzwischen seinem Onkel gehört, kein freies Zimmer gab, würde ich auf einen Umzug dorthin noch ein wenig warten müssen.


Apokalyptische Gefühle

Am Abend ließ ich mich alleine durch die Straßen Kathmandus treiben, kaufte mir ein Bier und hielt nach einem ruhigen Platz Ausschau, um mich ein wenig zu sammeln. Obwohl ich kilometerlang durch die Stadt flanierte, konnte ich keinen Ort finden, der sich zum Verweilen angeboten hätte. Ich fühlte mich beengt und hätte viel gegeben, wenn irgendwo ein Park aufgetaucht wäre. Kathmandu hat sich inzwischen zu einer der abgasverseuchtesten Städte der Welt entwickelt und wird in manchen Studien in einem Atemzug mit Delhi oder Peking genannt. Die fehlenden Filteranlagen und der steigende Verkehr werden noch durch den etwa 30km breiten Talkessel akzentuiert, in dem Kathmandu liegt. Durch den geringen Luftaustausch mit den umgebenden Waldgebieten, reichern sich die Abgase an und erreichen bedenkliche Konzentrationen. Wie weit diese Entwicklung gehen kann, zeigen die schockierenden Bilder aus Peking, die derzeit durch die Medien gehen. Atemmasken sind im Stadtbild keine Seltenheit. Die Bebauungsdichte steigt immer mehr und die Innenhofoasen müssen immer neuen Betonbauten weichen. Die traditionellen Gebäude sind vielfach dem Verfall preisgegeben. Die Stadtentwicklung kann mit dem Bedarf nicht ansatzweise mithalten. Vielfach werden Häuser planlos hochgezogen (was durch Korruption begünstigt wird), dann werden die traditionellen schmalen Gassen zu kleinen Straßen, die dem Verkehr nicht gewachsen sind. Immer wieder musste ich staunen, dass dennoch riesige Jeeps durch die Straßen fahren. Gäbe es nicht die Ringstraße um die Stadt wäre der Verkehrsinfarkt längst Realität. In anderen Metropolen Asiens ist dieser Punkt bereits erreicht.

Noch immer auf der Suche nach einem lauschigen Plätzchen, stieß ich auf den Bagmati, den größten Fluss der Stadt und fand ein Bild des Grauens vor: der Fluss war entsetzlich verschmutzt mit Bergen von Plastikmüll und stank wie eine Kloake. Die meisten Abwässer der Stadt werden durch die an manche Stellen offene Kanalisation in den Fluss geleitet. Noch bedenklicher sind die Industrieabwässer. Wenn man bedenkt, welche Bedeutung der Fluss für die Menschen hat, kann man es kaum fassen. Schließlich liegt am Bagmati die Kultstätte Pashupatinath (wörtlich aus dem Sanskrit: Herr alles Lebendigen) – ein heiliger Ort für die Hindus. Hier werden - - analog zu Varanasi am Ufer des Ganges in Nordindien - die Toten verbrannt, um eine segensreiche Wiedergeburt zu erreichen oder aus dem Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) zu entkommen und in die Weltenseele Brahman einzugehen – so gilt das Leben als Leiden und ist nichts weiter als maya – eine Illusion. Es besteht noch eine direktere Beziehung zum Ganges – der Bagmati mündet über Umwege in ihn hinein.

Hierbei handelt es sich längst nicht um den schmutzigsten Abschnitt des Bagmati... 
Das Problem mit dem Plastikmüll besteht auch in den Industrieländern, ist aber längst nicht so sichtbar. Weggeworfene Plastikabfälle finden über Flüsse und den Wind den Weg in die Meere und sind längst zu einem Problem geworden, das nicht mehr ignoriert werden darf. Plastikflaschen haben eine Haltbarkeit von 450 Jahren! Im Pazifik hat sich in einem riesigen Meeresstrudel ein „Kontinent“ entwickelt, der die Größe Mitteleuropas erreicht hat. Mehr dazu bei den Links am Ende des Blogs. 
 
Am gegenüberliegenden Flussufer reihten sich armselige Behausungen aus Wellblech aneinander. Was sind das für Bedingungen zum Leben? Roshan, den ich aus Goa kannte, hatte mir erzählt, er sei als Kind noch in einem sauberen Fluss geschwommen. Das kann keine fünfzehn Jahre her sein. Das Verhalten vieler Menschen hat sich nicht einmal verändert – doch wo früher Alltagsgegenstände aus Glas oder Ton bestanden und ohne Folgen für die Umwelt den Weg alles Irdischen gingen, so ist vielen das Problem des Plastiks nicht bewusst. Hier müssen auch die Produzenten in die Pflicht genommen werden. Alleine dem fragilen nepalesischen Staat die Verantwortung aufzubürden, ist zynisch. Das Problem hat eine globale Dimension.
Das Umweltbewusstsein ist auch in den westlichen Staaten erst langsam gewachsen (man denke an die Verschmutzung von Rhein, Ruhr oder Wupper) und noch lange nicht so ausgereift, wie es sein müsste. In Nepal sind die Menschen in ihrer Gesundheit und ihrer Existenz durch die rasante Entwicklung bedroht. In Indien und anderen Ländern Asiens, Südamerikas oder Afrikas sieht es nicht besser aus! Das Thema Klimawandel habe ich bei meinen Berichten aus dem Himalaya stärker beleuchtet und werde es weiter in den Fokus stellen.  
 
Natürlich wünsche ich den Menschen einfachere Lebensbedingungen, doch leider lassen sich viele Resultate einer solch rasanten Entwicklung im Vorfeld nicht absehen und vielen nutzt der Wandel nicht, sondern treibt sie aufgrund der massiven Landflucht und erodierender Gemeinschaften, die zuvor das Zusammenleben geprägt haben, in neues Elend. Fortschritt ist nicht immer eine Verbesserung, sondern erfordert immer ein Abwägen. Noch fehlt viel an Bewusstsein.

Die Wasserversorgung Kathmandus kann nur noch sichergestellt werden, indem Wasser mithilfe großer Transporter jeden Tag aus den Bergen herangeschafft wird und auf riesige Wassertanks auf den Dächern der Häuser verteilt wird. Das Wasser des Bagmati ist ungenießbar geworden.
Diese Entwicklung machte mich traurig und betroffen. Ich setzte mich für einige Zeit an den Fluss, trank ein Bier und wurde wehmütig. Ich grübelte über den Zustand unsrer Welt und wie weit wir uns von unserer Natur entfernt haben. All das Elend, das ich sah, ließ alte Gedanken hoch kommen:
  
Wie gehen wir Menschen mit diesem Planeten und seinen Ressourcen um und wie lange kann das noch gutgehen? Können wir ernsthaft darauf setzen, dass der Fortschritt diese Probleme wieder in den Griff bekommt? Zerstören wir nicht nach und nach die Wurzeln des Lebens?


Orientierungslosigkeit

Tief in Gedanken versunken, machte ich mich auf den Weg zurück ins Stadtzentrum. Nach kurzer Zeit brach die Dämmerung über die Stadt herein. Die schmalen Gassen waren bereits bei Tageslicht für einen Neuankömmling nur schwer voneinander zu unterscheiden und ich verlor schnell die Orientierung. Auch in mentaler Hinsicht – die Bilder vom Fluss wirkten nach und würden mich noch lange beschäftigen. Ich ging ohnehin nur in eine grobe Richtung. Auch nachdem ich wieder ins Stadtzentrum zurückgefunden hatte, bewegte mich ständig im Kreis. Weit konnte mein Hotel nicht entfernt liegen, aber ich konnte eine Straßenkreuzung nicht von der anderen unterscheiden. Ein wenig erschöpft und ratlos ließ ich mich auf ein Mäuerchen sinken. Zwei junge Mönche sprachen mich an. Sie luden mich ein, sie zu begleiten und fragten, ob ich bereit sei, sie auf einen Kaffee einzuladen. Warum nicht? Ich hatte ohnehin keine Ahnung, wie ich zurückfinden sollte. Vielleicht fand ich so einen Ort von dem aus ich mich orientieren konnte. Außerdem erlebt man gerade dann am meisten, wenn man sich treiben lässt. Die beiden erschienen zunächst ausgesprochen freundlich. Doch anstatt auf einen Kaffee einzukehren, schleppten sie mich in einen der modernen Supermärkte und begannen mich zu bedrängen: ich sollte ihnen eine überdimensionierte Kaffeedose und eine nicht minder unanständige Menge Milchpulver kaufen. Meine Sympathie erlosch innerhalb eines Augenblicks und ich ließ sie auf der Stelle stehen. Mir war nur zu bewusst, dass ihr nächster Weg in einen anderen Laden führen würde, um die Waren zurück zu verkaufen. Die Gier, die in ihren Augen aufgeflackert war, sprach Bände und entgegen jedem Verdacht, sie wollten weltlichen Genüssen entsagen. Auf solche „Mönche“ konnte ich verzichten. 

So lief ich weiter planlos durch die Straßen und dabei wurde mir immer wieder Haschisch angeboten. Auf den Straßen von Kathmandu Haschisch zu kaufen, ist nicht übertrieben clever, da Dealer und Polizei gerne zusammenarbeiten, um doppelt abzukassieren. Aber irgendwann wurde ich schwach und ging mit einem der Dealer in ein Restaurant. Plötzlich waren meine „Geschäftspartner“ zu dritt. Doch das störte mich nicht weiter und ich ließ mich dadurch nicht beeindrucken. Ich verhandelte mit ihnen, wir tauschten Geld und Ware und alles ging glatt. Das nenne ich Prioritäten setzen: noch immer hatte ich keinen blassen Schimmer Ahnung, wo mein Hotel sein könnte, dafür hatte ich auf die risikoreichste Variante Haschisch erworben. Das sei in keinem Fall zur Nachahmung empfohlen! Hintergründe warum Cannabisprodukte in Nepal unter dem Einfluss der U.S.A. verboten wurden und welche Probleme Nepal seit langem als Umschlagplatz von Morphium und Heroin hat, zeigt ein englischsprachiger Artikel, den ich am Schluss des Blogs anhänge.

Nachdem ich eingesehen hatte, dass ich das Hotel auf eigene Faust nie finden würde, verlegte ich mich aufs Fragen. Leider konnte mir keiner weiterhelfen und ich hatte versäumt, mir eine Visitenkarte des Hotels mitzunehmen. Ich entschied auf eine der Fahrradrikschas zu setzen. Er wisse den Weg, versicherte mir der junge Fahrer sofort. Doch er hielt ständig an, um sich im Fahrradsattel sitzend, rhythmisch zu den Diskoklängen zu bewegen, die aus den Tanzclubs dröhnten. Dann sprach er lange mit einem jungen Mädchen, das mir Sachen andrehen wollte, die ich nicht im Entferntesten kaufen wollte. Irgendwann wurde es mir zu bunt. Ich bat ihn, mich zu meinem Hotel zu fahren. Daraufhin meinte er, er habe nicht den geringsten Schimmer, wo ich hin wolle. So musste er auf den Verdienst verzichten. Seine Absichten blieben mir unklar und während der Fahrt hatten sich große Zweifel aufgetan, ob er überhaupt wusste, was er tat. Er hatte einen entrückten Anschein erweckt: entweder war er völlig bekifft oder hatte andere Substanzen zu sich genommen. Auch diese Episode brachte mich meinem Ziel nicht näher.
Als ich schon fast aufgegeben hatte, bot mir ein Fremder seine Hilfe an. Er nahm mich auf seinem Motorrad mit und fragte sich solange durch, bis wir das Hotel gefunden hatten. Mein „Retter“ wollte kein Geld dafür annehmen.


Durbar Square


Tags drauf ging ich zum Durbar Square (Tempelplatz), dem traditionellen Zentrum der Stadt. Er wird dominiert von mehrstöckigen Pagoden-Bauten und anderen Sakralbauten, die allesamt mittelalterlich anmuten und wesentlich den Zauber Katmandus ausmachen. Noch heute ist der Glaube in Nepal sehr ausgeprägt und wird mit unzähligen, bunten Festen zelebriert.

Mir fielen besonders die vielen zerlumpten Kinder auf. Schätzungen zufolge leben 5000 Straßenkinder in den Straßen Kathmandus. Sie leben in Gruppen zusammen, die ihnen als Familienersatz dienen. Gewalt in ihren Familien und die Tatsache, dass Kinder nach dem Tod eines Elternteils vom Stiefvater/-mutter oft abgelehnt werden, zwingen sie auf die Straße. Sie besitzen keinerlei gesellschaftliche Akzeptanz. In Gruppen kämpfen sie gegen Kälte und Hunger und verfallen dem Klebstoff-Schnüffeln, Alkohol und/oder Marihuana, die den Hunger erträglich machen und helfen ihre hoffnungslose Situation zeitweise zu verdrängen. Ihre einzige Überlebenschance ist das Betteln um Almosen. Oftmals müssen kleine Kinder auf noch kleinere aufpassen. Sie sind wahre Überlebenskünstler, aber sehr, sehr traurige.
Ein furchtbares Schicksal erleben die 20.000 Mädchen, die jedes Jahr aus purer Not ins Ausland verkauft werden - weil viele Familien es nicht schaffen, alle ihre Kinder zu ernähren und keine Alternative sehen als die Kinder wegzugeben - viele von ihnen landen in Bordellen.

Ich entschied mich zu einer Führung. Mein Guide war ein ausgesprochen sympathischer Mann, der mir genau erklären konnte, wem die Tempel geweiht waren und deren Geschichte und Funktion erklären konnte. Ein Tempel war mit Darstellungen aus dem Kamasutra geschmückt; sie alle waren wichtigen hinduistischen Göttern geweiht und die Funktion der Tempel hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert.

In einem Tempel-Palast am Rande des Durbar Square lebt die Kumari – eine lebendige Kind-Göttin, die als Reinkarnation der Schutzgöttin Taleju gilt und als Orakel des Königs, den sie wiederum während einer jährlichen Prozession als Reinkarnation des Gottes Vishnus bestätigt. Im Alter von drei Jahren werden die Mädchen (es gibt auch in anderen Städten Nepals Kumari) von ihrer Familie getrennt und gelten fortan als Göttinnen, die nur noch einmal im Jahr den Palast im Rahmen eines Festes verlassen und ansonsten völlig isoliert von der Außenwelt leben, der sie sich nur gelegentlich an einem Fenster des Palastes zeigen. Sie werden nach einem uralten und sehr komplexen Ritual ausgewählt, das Assoziationen zur tibetischen Auswahl der Lamas weckt. Mit der ersten Menstruation, verlieren sie ihren göttlichen Status und gelten fortan als unrein. Hier spiegelt sich ein uraltes Denken, das leider noch immer vielfach auf dem indischen Subkontinent vorherrscht und in Frauen Menschen zweiter Klasse ansieht. Man denke nur an die Reaktionen eines Gurus in Indiens, der bei der schrecklichen Vergewaltigung, die erst kürzlich zu einem internationalen Aufschrei führte, die (leider sehr verbreitete) Meinung vertrat, die Frau trage eine Mitschuld. In diesem Zusammenhang ist das Glorifizieren von Traditionen per se dumm und gefährlich. Mit der Würde einer Göttin verlieren die Kumari jegliche soziale Anerkennung und den Fall eines Menschen könnte man sich tiefer kaum vorstellen – zumal soziale Fähigkeiten in der völligen Isolation zwangsläufig nicht entwickelt werden können.    

Gerne hätte sich mir der gelehrte und sympathische Mann als Führer in den Bergen angedient. Wenn ich jemand engagiert hätte – dann ihn und ich hätte ihm gerne geholfen. Doch ich hatte mir vorgenommen, die Berge auf eigene Faust zu erobern und meine eigenen Wege zu finden.


Die Hippies und die Freak-Street

Danach schlenderte ich über die „Freak Street“. Allerdings war von den vergangenen Hippie-Zeiten, als hier offen Haschisch verkauft wurde, fast nichts mehr zu sehen. Schade, dass ich diese Zeit nicht erlebt habe. Allerdings hatte die Ankunft der Hippies Ende der 60`er und Anfang der 70`er-Jahre viele Entwicklungen angestoßen, die ich bedaure. Nepal, das sich lange massiv gegen äußere Einflüsse abgeschottet hatte und erst in den 50`er-Jahren für westliche Besucher geöffnet und nie kolonialisiert wurde, erlebte einen Kulturschock. Mit Sicherheit hätte das Land in jedem Fall einen gravierenden Wandel erlebt, doch die Hippies und die ihnen folgenden Globetrotter und Touristen haben die Geschwindigkeit erheblich erhöht. Die erste befestigte Straße zwischen Kathmandu und Indien wurde erst 1956 fertiggestellt. Ab 1974 gab es die ersten internationalen Flugverbindungen. Zuvor hatte Nepal vor allem eine Bedeutung als wichtiges Glied in der Handelskette zwischen Nordindien und Tibet. Als Transitland zwischen den aufstrebenden Mächten Indien und China hat Nepal weiterhin eine erhebliche Bedeutung, da es zwischen Indien und China keinerlei direkte Grenzübergänge gibt.

Auf die Nepali musste die Invasion der bunten Blumenkinder wie die Ankunft von Aliens gewirkt haben. Doch das wird den Menschen in Kabul kaum besser gegangen sein. Heute kann man auf Märkten DVD`s erstehen, die erst Monate später in Europa oder Nordamerika in die Kinos kommen. Auch viele andere moderne Luxusgüter haben ihren Weg hierher gefunden.
Eigentlich waren die Hippies auf den indischen Subkontinent gereist, um aus ihrer modernen und weitgehend auf reiner Logik basierenden Welt zu fliehen. Sie waren auf der Suche nach Spiritualität und Weisheiten, die im Westen in Vergessenheit geraten waren. Angelockt wurden sie vom geradezu mystischen Ruf Kathmandus.
Durch den (unfreiwilligen) Import von westlicher Lebensart haben sie materielles Denken transportiert. Alleine die Vorstellung, dass einfache Menschen aus Nordamerika oder Europa in der Lage waren bis hierher zu reisen, war ungeheuerlich. Wie frei und wohlhabend mussten die Menschen im Westen sein?

Ich bin mir jedoch bewusst, dass auch ich mit meinen Reisen einen Beitrag zu den Veränderungen beitrage, die ich so sehr kritisiere. Da mag ich mich  noch so als Brückenbauer verstehen. Doch auch hier gilt es abzuwägen und die Art und Weise wie und mit welcher Intention man reist, spielt durchaus eine Rolle.

Wer bedenkt, wie schnell sich die Lebensumstände in den Industrienationen in den letzten Jahrzehnten geändert haben, der mag erahnen, wie schwierig die Verständigung in Nepal zwischen den Generationen geworden ist – bisweilen scheinen sie aus verschiedenen Zeitaltern zu stammen, die nebeneinander bestehen. 

Die Sprache dieses Plakats spricht Bände...
So scheinen viele junge Menschen den Kontakt zur eigenen Kultur zu verlieren und westliche Lebensart übt auf die Meisten eine geradezu magische Faszination aus. Vielen reichen die Perspektiven im eigenen Land nicht mehr aus. Ein Leben in den Dörfern ihrer Eltern, können sich nur noch die wenigsten vorstellen. Fernsehen, Handys und Nachrichten von denen, die es in Kathmandu oder im Ausland zu Wohlstand gebracht haben, wirken wie ein Magnet. Doch es ist zunehmend schwieriger geworden in Kathmandu und entlang der beliebten Treckingrouten ein Auskommen zu finden. So träumen Viele vom Aufbruch in andere Länder, die ihnen mehr Perspektiven bieten sollen. So erlebt Nepal einen wahren Exodus. Viele junge Menschen werden zu Wanderarbeiten, die in Indien, Malaysia, Thailand oder den Golfstaaten heiß begehrt sind – aber auch in aller Regel schlecht bezahlt werden. Längst nicht allen gelingt es nach der Rückkehr mit den Ersparnissen eine eigene Existenz aufzubauen. Viele Träume enden in den Fängen von Menschenhändlern oder in Elendsvierteln in Kuala Lumpur oder anderen Metropolen. Diejenigen, die zurückkehren und ihren Traum verwirklichen konnten, beschleunigen den Kulturtransfer und befeuern den Traum vom Aufstieg. Eine Vielzahl von Internetcafes, Hotels und Lodges entlang der beliebten Wanderrouten verschärfen den Konkurrenzkampf immer weiter.


Die Maoisten

Auch die politische Situation spielt eine entscheidende Rolle in dieser Entwicklung. Die Verhältnisse sind seit Jahrzehnten so verworren, das viele nicht mehr an eine bessere Zukunft glauben. Noah hatte zahlreiche Freunde durch den Terror der Maoisten verloren. Seit 1996 führen die Maoisten einen Guerillakampf gegen Polizei und Armee, der sich schnell zu einem Bürgerkrieg ausweitete, der bis 2006 andauerte. Ende 2002 beherrschten die Maoisten 55 der 75 Distrikte Nepals. Sie haben durch Terrorakte und Zwangsrekrutierungen von Kindern in den Dörfern viel Unheil über das Land gebracht. Nicht mal die chinesischen Kommunisten wollen mit ihnen etwas zu tun haben und das will etwas heißen. Doch die Brutalität kam auch von Seiten des Militärs und der Polizei. Der Ruf nach gesellschaftlichen Veränderungen angesichts der massiven Korruption und dem Stillstand in den ländlichen Gebieten, war nur zu verständlich. Indien schlug sich auf Seiten der Monarchen und der Konflikt innerhalb Indiens zwischen der Regierung und den marxistischen Naxaliten weist Ähnlichkeiten auf und es bestehen Verbindungen zwischen den Rebellen in Indien und Nepal.

Interessen der Zentralregierung und lokalen Gemeinschaften stehen sich oft konträr gegenüber und werden durch den steigenden Einfluss von multinationalen Konzernen immer weiter verschärft. Auch hier kann man durchaus von einem Bürgerkrieg sprechen, der aber außerhalb des indischen Subkontinents weitestgehend unbekannt ist.
Der Tourismus blieb von den Konflikten weitgehend unberührt. Beide Seiten wussten um die Bedeutung dieser Einnahmequelle und die Maoisten erhoben lange Zeit Zölle von Ausländern, die in maoistisch kontrollierten Gebieten Wanderungen unternahmen.


Das Ende der Monarchie

Im Jahr 2001 wurde bei einem Anschlag auf die nepalesische Königsfamilie fast die ganze Familie ausgelöscht. Schließlich galt der König noch immer als gottgleich.
In den Medien wurde der älteste Sohn des Königspaares, Kronprinz Dipendra für den feige Anschlag verantwortlich gemacht, der nach dem Massaker versucht habe, Selbstmord zu begehen. Drei Tage später erlag er seinen Verletzungen. 

Der König war ausgesprochen beliebt in der Bevölkerung und hatte Nepal 1990 in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt, in der er allerdings große Machtbefugnisse behielt. Der Tod der Königsfamilie wirkte wie ein Schock auf die Bevölkerung Nepals. Der wenig beliebte Bruder des Königs, Gyanendra, wurde zum König und erklärte sich 2005 wieder zum absoluten Herrscher. Er hätte als Nutznießer der Ereignisse ein Motiv gehabt, sich durch einen solchen Anschlag an die Macht zu putschen. Doch bis heute ist ungeklärt, was sich tatsächlich damals abgespielt hat.

Nach einem Generalstreik der Maoisten im Jahre 2006 musste Gyanendra seine Macht wieder auf das Parlament und den Ministerpräsidenten übertragen. 2008 wurde der König durch das Parlament entmachtet und eine föderale demokratische Republik ausgerufen. Die Wahlen im selben Jahr führten zu einem überraschenden Sieg der Maoisten. Bis heute sind die Machtverhältnisse in Nepal ausgesprochen undurchsichtig und es kommt immer wieder zu Streiks und Unruhen.


Thamel

Schließlich konnte ich in das Hotel umziehen, in dem mein Freund Noah wohnte. Aus Goa kannte ich auch eine Reihe anderer Gesichter. Merkwürdig die vertrauten Personen an einem so ganz anderen Ort wieder zu sehen. Das verstärkt das Gefühl des Irrealen, das mich immer stärker befiel. Das Hotel lag mitten in Thamel in einem großzügigen Innenhof. Thamel ist das Zentrum der Tourismus-, Bergsteiger- und Treckingindustrie Kathmandus. Ich hatte das Gefühl mich in einem Paralleluniversum zu befinden, das von Händlern, Schleppern, Dealern, Althippies und abgestürzten Freaks geprägt war, die sich vor einer Kulisse von Treckingagenturen, Ausrüstungsläden, Kneipen, Restaurants, Internet-Cafes, Massagesalons oder Bordellen, aber auch historischen Gebäuden, Schneidereien, Märkten oder Läden, die Kunsthandwerk aller Art feilboten, durch die engen Gassen drängten. Hier fand sich alles, was man sich vorstellen konnte und oft noch weitaus mehr. Ganz besonders beeindruckten mich die verschiedenen Kunsthandwerke; besonders Holzschnitzereien, Schmuck, Bronzestatuen, Steinskulpturen oder tibetische Teppiche waren von einer erlesenen Qualität. Ein für die Himalaya-Region sehr typisches Produkt sind auch die Thankas (Rollbilder mit religiösen Motiven).

Im einen Moment war ich berauscht von den Eindrücken, im nächsten Moment wollte ich so weit weg sein, wie irgend möglich. Manchmal mussten die Fahrradrikschas mit ihren Klingeln Sturm läuten, um in diesem bizarren Chaos Gehör zu finden. Die Motorradfahrer setzen ihre Hupen ein. 


Bisweilen kam ich mir eingepfercht vor und die Häuser, die immer höher in den Himmel wachsen, verschlucken in den schmalen Gassen immer mehr Tageslicht. 


Ich will nicht verschweigen, dass ich mir weiter viele Gedanken machte über die Schattenseiten des Fortschritts. Natürlich kann man Kathmandu auch ganz anders erleben. 


Die Atmosphäre in dem Zimmer, das ich bewohnte tat ihr Übriges: ein lauter und verdreckter Generator aus vor-sinnflutlicher Zeit raubte mir den Schlaf. Der Luftaustausch fand nur über den schmalen Innenhof des Gebäudes statt, auf den das einzige Fenster wies und der war düster, so dass kaum Licht ins Zimmer fand. Dafür aber Gerüche, deren Quelle ich nicht erkunden wollte. Die Dusche wurde zwar heiß, doch die Farbe des Wassers hielt mich davon ab, ausgedehnte Lieder unter der Dusche zu trällern – ich wollte den Mund auf keinen Fall aufmachen. Die Wände des Zimmers hatten schon bessere Zeiten gesehen und waren von gelben Nikotinrändern vergilbt. Dafür gab es mehrere Aschenbecher um den Prozess fortzusetzen. So gab es nur einen Ort, den ich aufsuchte – das Bett – immerhin schienen die Laken sauber zu sein. Es gab in dem Hotel auch bessere Zimmer; Da ich eigentlich einiges gewöhnt bin, kommt es selten vor, dass ich mich beschwere: aber hätte ich nicht gerne Zeit in der Nähe meines Freundes verbracht, dann wäre ich nicht lange geblieben. So verstärkten sich Innen- und Außenleben zu einem explosiven Gemisch und raubten mir zunehmend den Antrieb, so dass ich das irrationale Gefühl entwickelte, in eine Sackgasse geraten zu sein, aus der ich nicht mehr herausfinden konnte. Ein selbstverstärkender Prozess, der mir alle Kraft raubte. Ständig fiel der Strom aus. Zunächst dachte ich, dass es sich um Schwankungen im Stromnetz handeln würde, doch dann erfuhr ich, dass Nepal einen Teil seines Stroms an Indien verkauft und stellenweise 12 Stunden am Tag abgeschaltet wird. Ich mag den Schein von Kerzenlicht, aber in dieser Situation erschien mir alles noch trostloser.

Der Lichtblick war ein kleiner Garten vor dem Hotel – inzwischen eine absolute Seltenheit in der Stadt. Obwohl sich mit dem Baugrund viel Geld machen ließe, weigert sich Noahs Onkel glücklicherweise, den Garten aufzugeben. In dem kleinen Gartenhaus betreibt er eine bescheidene Gastronomie, die einfache Speisen und Tee oder Bier bereithält. Im Garten saßen meistens junge Männer, die ihre Zeit mit Gesprächen und zahllosen Joints totschlugen. Ich liebte die Abgeschiedenheit dieser kleinen Oase und verbrachte viel Zeit hier. Nach ausgedehnten Streifzügen durch die Stadt war es immer eine Wohltat, in den kleinen Garten zurückzukehren. 

Einer meiner Streifzüge führte mich in die Schwesterstadt Patan, die inzwischen mit Kathmandu zusammengewachsen ist. Das Bild zeigt den dortigen Durbar Square. 

Münchner Weißbier und das Licht

Eines Abends traf ich im Garten auf einen Münchner, der wohl um die 30 war und eine Flasche Münchner Weißbier in seinen Händen hielt. Er war ein völlig verrückter Typ. Er machte zwar einen durchaus intelligenten, einfühlsamen und wachen Eindruck, aber seine irren Augen sprachen eine andere Sprache. In gewisser Weise war er mitreißend, man könnte seine Ausdrucksweise aber auch übergriffig nennen. Er konnte sich schnell in Fahrt reden und befand sich dann auf einer verbalen Schussfahrt ohne Bremsen. Tanzte in seinen Adern das Morphium?
Seine Sprache war gespickt mit biblischen Begriffen und Floskeln. Er sprach einerseits von Liebe und Selbstlosigkeit, anderseits vom Fegefeuer, den Prophezeiungen der Apostel und der Apokalypse, die uns bald reinwaschen würde. In seinen Worten lag eine befremdliche Überzeugung und Wucht. Er war offenbar in seiner religiösen Überzeugung übers Ziel hinausgeschossen. Nachdem er den richtigen Pfad für sich gefunden zu haben meinte, war er nun mit einem missionarischen Eifer gesegnet, der keine anderen Vorstellungen zulassen konnte.
In seinem Gebaren erinnerte er mich an ein Bild eines apokalyptischen Reiters. Er sprach vom Licht, das der Ursprung aller Religionen ist – eine durchaus schöne Metapher - und hielt mir das brennende Feuerzeug vors Gesicht, um seine These zu unterstreichen. Wenn es doch so einfach wäre…

Von ihm erfuhr ich jedoch auch erstmals vom Schicksal der Straßenkinder. Er hatte alles hinter sich gelassen und behauptete, er hätte lange mit den Kindern zusammen verbracht. Seine Vergangenheit hatte er nach eigener Aussage weit hinter sich gelassen. Ob er noch wusste, wer er einst gewesen war?

Bakthapur und das nepalesische Neujahr

Ich wollte mit Noah Bakthapur einen Besuch abstatten. Neben Patan und Kathmandu war Bakthapur eine der drei Königsstädte gewesen, die in wechselnden Bündnissen und Rivalitäten über Jahrhunderte das Leben im Tal bestimmt hatten. Ich freute mich darauf, endlich wieder etwas mit Noah unternehmen zu können. Nur einmal waren wir zuvor in die Hügellandschaft im Umland gefahren. Doch auf dem Weg sollte ich  noch eine andere Seite von Nepal kennen lernen. Kaum hatten wir die Stadt verlassen, war unser Ausflug auch schon zu Ende. Auf dem Highway musste der ganze Verkehr plötzlich kehrt machen. Die Situation wurde in Sekundenbruchteilen völlig undurchsichtig und erschien bedrohlich. Polizei und schwer bewaffnetes Militär rückte an. Noah konnte in Erfahrung bringen, dass es einen Unfall gegeben hatte. Ein Mann war von einem Bus überfahren worden. Nun war sein ganzer Clan erschienen, um diesen „Mord“ zu rächen. In diesem Moment war sichtbar, wie archaisch es in Nepal zugehen kann. Noah war bestimmt kein ängstlicher Mensch. Seine Besorgnis war ein deutliches Zeichen, wie gefährlich diese Situation werden konnte.

Beim nächsten Anlauf erreichte ich Bhaktapur mit dem öffentlichen Bus. Das dauerte zwar anderthalb Stunden, war aber zwanzigmal billiger als ein Taxi.

Bakthapur ist die am besten erhaltene der drei Städte im Tal von Kathmandu. Die Altstadt wurde nach einem Erdbeben 1934 schwer beschädigt und wurde seitdem aufwendig restauriert. Hier sind keine motorisierten Gefährte erlaubt. Außerhalb der Innenstadt zieht sich auch hier ein Betongürtel wie ein Ring um die Stadt. Ich genoss die deutlich bessere Luft in der Altstadt nach dem lebensfeindlichen Gemisch in Kathmandu. Durch eines der Stadttore in die Altstadt gelangt, fühlte ich mich, als wäre ich geradewegs im Mittelalter aufgeschlagen. Das Bild entsprach viel stärker dem, was ich mir unter Kathmandu vorgestellt hatte. Ich sah kaum Touristen und genoss die relativ leeren Gassen – eine Wohltat nach den immerwährenden Menschenmassen. Das erste Mal seit Langem fühlte ich Frieden in meinem Herzen. Die Menschen sangen vor den Tempeln oder saßen in Gruppen zusammen und unterhielten sich. Eine gefühlt andere Welt.
Ich schlenderte stundenlang durch die Stadt und als ich mich schon auf den Rückweg machen wollte, stieß ich auf den Hauptplatz, der mir zuvor entgangen war. Hier sah ich die schönsten Pagoden-Tempel, die ich je gesehen habe. Der Platz war gesäumt von Menschen; die Kulisse strotze vor Lebendigkeit – etwas lag in der Luft. Ich war gänzlich umgeben von einer Kulisse, die einer anderen Zeit entstammte.


Am anderen Ende des Platzes erblickte ich eine große Zahl Polizisten – sie waren ausgerüstet mit Helmen samt Sichtschutz, hohen Schutzschildern und schweren Knüppeln. Die Stimmung auf dem Platz war angeheizt. War hier ein Aufstand im Gange? Meine Neugier wuchs mit jeder Sekunde. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass keineswegs der Kriegszustand ausgebrochen war, sondern dass sich vor meinen Augen das Neujahrsfest abspielte, das in Bakthapur eine Woche lang zelebriert wurde, während es in Kathmandu völlig unspektakulär verlaufen war und nach einem Tag zu Ende ging. Die Dämmerung war dabei der Nacht zu weichen. Im künstlichen Licht zeigten sich schwere Wolken und ein mächtiges Donnergrollen verhieß nichts Gutes. Blitze zuckten vom Himmel herab. Es begann, in Strömen zu regnen. Der Strom fiel aus und im Zwielicht wurden die Umrisse der Tempel zu Schemen und mir schien, als würde die Vergangenheit mit einem Schlag lebendig. Grimmige Laute aus hunderten Kehlen weckten mein Interesse. Als ich näher kam, erblickte ich einen hölzernen Tempel, an dem zwei schwere Taue befestigt waren. Zwei Parteien versuchten den Tempel auf ihre Seite zu ziehen. Wie ich später erfuhr, handelt es sich um einen symbolischen Wettstreit zwischen Unter- und Oberstadt. In dem Moment bewegte sich der Tempel gar nicht; er steckte an einem Anstieg fest. Die herben Ausdünstungen von Reisschnaps verrieten mir, dass meine eigene Nüchternheit ein exklusives Privileg darstellen musste.
 
Als wäre die Anarchie um mich herum nicht schon groß genug, realisierte ich nun, dass auch der Wurf von schweren Steinbrocken Teil der Veranstaltung war. Welche archaische Tradition dahinter steckte, konnte ich bislang nicht herausfinden.
Jedenfalls formierte sich jeweils eine der Parteien, rückte vor und ließ einen Steinhagel auf die Gegenseite niedergehen. Diese floh, sammelte sich, begann mit lauten Rufen die Gegenseite zu provozieren und holte ihrerseits zum Gegenschlag aus. Eine Reihe junger Männer war auf einzelne Tempel geklettert, deckte Teile der Steindächer ab, die von anderen am Boden zerkleinert wurden und den Nachschub an Munition sicherstellten. Die Polizei war nur dazu da, um mit ihren Schilden das Schlimmste zu verhindern. Ich realisierte die Gefahr erst, als ich im Steinhagel stand und nur mit Glück verfehlt wurde. Ich war der einzige Ausländer weit und breit, was nur mäßig überraschen konnte. Auf meine Nachfrage bei einem der Teilnehmer erklärte er mir, dass man gesegnet sei, sollte einen ein Stein treffen. Die Getroffenen sahen jedoch wenig gesegnet aus… 

Doch es zog mich noch ein paar Mal ins Geschehen. Eine morbide Faszination war dem Ganzen keineswegs abzusprechen. Wer weiß wohin es mich getragen hätte, wenn ich geblieben wäre, den angebotenen Reisschnaps akzeptiert hätte und Teil des Geschehens geworden wäre. Aber dies war nicht meine Welt und so wandte ich mit klopfendem Herzen aber auch einigem Bedauern ab, nicht erfassen zu können, was sich hier abspielte.
Ich verließ die Szenerie durch eines der Stadttore und stellte nun fest, dass kein Bus mehr zurückfuhr. Ich konnte auch kein Taxi auftreiben. Die wenigen, die ich sah, waren schon besetzt. Also lief ich wieder in die Richtung, aus der ich mit dem Bus gekommen war.


Die Apokalypse und ihr Reiter aus München

Der Weg führte auf den Highway, der gerade von zwei auf sechs Spuren ausgebaut wurde. Ich lief im strömenden Regen direkt auf der Straße, da es keinen Fußgängerweg gab. Der Strom war noch nicht zurückgekehrt und das Gewitter war weiter im Gange. Längst war ich vollständig durchnässt. Ich verfluchte mich, dass ich nicht mehr Anstrengungen unternommen hatte, um ein Taxi in der Stadt zu organisieren. Ich glaube kaum, dass viele Menschen so wahnsinnig sind, auf diesem Highway zu laufen. Ich steckte meinen Daumen raus, aber diese Geste wurde ignoriert. So lief ich kilometerweit auf dem pechschwarzen Highway und nur das Aufflackern der Blitze, verriet mir, in welch trostloser Umgebung ich mich befand. Auf beiden Seiten der Straße zogen sich endlose Betonklötze. Die Welt war schwarz-weiß geworden und der sofortige Beginn der Apokalypse hätte mich nicht weiter überrascht. Was zur Hölle tat ich hier?

Irgendwann hielt ein Taxi an und nahm mich mit. Auf der Fahrt realisierte ich, dass ich erst einen Bruchteil der Strecke absolviert hatte und noch die ganze Nacht unterwegs gewesen wäre.
Nach meiner Rückkehr, lief ich durch die düsteren Gassen Kathmandus und hörte das Raunen von Männern, die mir alle erdenklichen Substanzen und Dienstleistungen des leichten Gewerbes schmackhaft machen wollten. Als ich endlich den Garten unseres Hotels erreichte, traf ich wieder den exzentrischen Münchner. Er hatte keinerlei Schwierigkeiten, meine Erlebnisse zu deuten. Er erklärte mir wissend, ich hätte durch die Steinigung meine Läuterung erlebt und das Unwetter habe mich gereinigt und jetzt sei ich bereit das Licht zu schauen…
Wenn man so einen Schatten hat, lebt es sich womöglich leichter.


Fazit


Ich habe mich in diesem Blog vornehmlich den Schattenseiten Kathmandus zugewandt. Ich möchte betonen, dass ich das getan habe, weil ich das Land auf Anhieb in mein Herz geschlossen habe und mir das Schicksal der Menschen viel bedeutet. Bis heute pflege ich Kontakt mit den Nepali, die ich kennen gelernt habe. Ich habe fast ausschließlich Erfahrungen mit freundlichen, ehrlichen und sympathischen Menschen machen dürfen. 

In diesen Blog sind auch Erfahrungen eingeflossen, die ich an anderen Orten Asiens gemacht habe. Das waren Bilder von Industriegebieten, Elendsvierteln oder verdreckten Flüssen und Stränden. Auch die sichtbaren Folgen des Massentourismus an zahllosen Orten haben aufgrund ihrer Eindringlichkeit mein Denken geprägt. Doch an keinem anderen Ort waren diese Eindrücke so massiv.

Immer wieder habe ich mich auf Routen begeben, die auch schon die Hippies angezogen haben. Ich teile den Wunsch nach einem Innehalten und einem Hinterfragen von sinnvollen und sinnlosen Folgen des Fortschritts, bin in vielerlei Hinsicht selbst ein Aussteiger, der am herrschenden Wirtschaftskreislauf so wenig wie möglich partizipieren möchte. Zum anderen bin auch ich bestrebt, essentielle Werte (wieder) zu entdecken. Gleichzeitig habe ich ein Unbehagen bezüglich der hedonistischen Züge vieler Hippies. Zudem entwickeln viele eine Engstirnigkeit und ein irrationales Gefühl der moralischen Überlegenheit. Ganz wichtig erscheint mir, sein eigenes Handeln immer wieder zu hinterfragen und anderen Kulturen Respekt entgegenbringen. Noch immer zieht Asien viele Menschen an, die nach neuen (bzw. alten) Wegen suchen. Umso wichtiger ist es seine Suche in Einklang mit den Bedürfnissen der Einheimischen aber auch mit den eigenen ökologischen Vorstellungen zu bringen. Es gibt nachhaltige Wege zu reisen und vor Ort zu leben und man kann entscheiden, wen man vor Ort unterstützt und wie man sich auch nach der Rückkehr engagieren kann. Nicht zuletzt hat das Konsumverhalten in der westlichen Welt direkte Einflüsse auf die Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländer.
 
Kathmandu hat mit dem Müll, seinen Abgasen und seiner viel zu schnellen Stadtentwicklung für mich etwas Apokalyptisches. So stellte ich mir manchmal die ganze Welt vor, wenn dieser Fortschritt um jeden Preis nicht gebremst wird.

Auf der einen Seite empfand ich Kathmandu als laut, stinkend und aufdringlich – ein extremer Kontrast zu den am Ende der Saison fast ausgestorben Stränden Goas - gleichzeitig gab es an jeder Ecke etwas zu sehen - als befände man sich in einem riesigen Freilichtmuseum. Das ungebrochene Geistesleben, das sich vor den kleinen Tempeln in den Straßen der Stadt abspielt, pulsierende Märkte mit exotischen Gerüchen und fortwährende Zeitreisen von Gasse zu Gasse – all das erzeugt eine ganz besondere Atmosphäre und raubt einem bisweilen die Sinne. Auch wenn ich mich manchmal überrollt fühlte von den ganzen Eindrücken – so vermisse ich diese Lebhaftigkeit oft und freue mich schon, noch einmal in das Land zu reisen. Ich hoffe ich finde noch Wege, mich direkter für das Land zu engagieren oder zumindest mit meinen Beiträgen Menschen zum Nachdenken anzuregen und ein Bewusstsein zu erzeugen.

Nicht vergessen habe ich auch einen Engländer, der offenbar Kathmandu niemals wieder verlassen hat und versucht sein Auskommen zu bestreiten, indem er Flöten an Touristen verkauft. Doch wer weiß - vielleicht wird man vielleicht auch mich irgendwann in Katmandu antreffen, mit einem anderen genialen Geschäftsmodell…

Am Ende meiner zwei Wochen in Kathmandu waren meine Atemwege stark mitgenommen. Welche Auswirkungen hatten diese Lebensbedingungen auf die Stadtbevölkerung?

Mental pfiff ich aus dem letzten Loch und mich plagten große Zweifel, ob ich meine Reisen fortsetzen konnte. Am Ende gab ich mir einen kräftigen Tritt und die dreiwöchige Wanderung zum Fuße des Everest, die folgen sollte, wurde zu einem der Schlüsselerlebnisse meiner Reisen. Der erste Teil meines Berichts findet sich hier.

Beim nächsten Besuch in Kathmandu werde ich mich stärker auf das spannende kulturelle Erbe des Tals fokussieren und die schönen Seiten der Stadt stärker herausarbeiten. Doch die Stadt hat nur eine lebenswerte Zukunft, wenn die ungelösten Probleme angegangen werden...

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Der Bericht stammt von 1995 und beschreibt die ökologischen, hygienischen und spirituellen Folgen der Verschmutzung des Bagmati und die Auswirkungen von westlicher Lebensart auf die Jugend.




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2 Kommentare:

  1. ich lebe in Kathmandu, alles so wie Du es beschrieben hast sind auch meine Empfindungen. es gibt nur eins, man liebt, oder hasst es. Danke für die Links von dir. lg US kathmandu

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    1. Dann freut es mich besonders, wenn Du meine Empfindungen teilen kannst. Mein Bericht basiert ja nur auf einem zweiwöchigen Besuch in Kathmandu. Aber gerade die Gespräche mit jungen Nepalis haben mir einen gewissen Einblick gewährt. Eine Liebe zu Indien und Nepal habe ich definitiv entwickelt; aber auch Erfahrungen gemacht, die bisweilen hart zu ertragen sind. Von hassen würde ich in dem Zusammenhang nicht sprechen, aber ich weiß, wie Du das meinst. Beileibe nicht jeder kann sich auf die Fremde wirklich einlassen. Ein wenig Zeit braucht es in jedem Fall...

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