Donnerstag, 21. November 2013

Reisereportage: Varanasi sehen und sterben




Ich hatte gehörigen Respekt vor der Begegnung mit dem Tod an den Verbrennungsstätten am Ganges. Der Tod ist ein besonders wichtiges Thema in meinem Leben - kein Einfaches. Und so hat es lange gedauert bis ich die Stadt des Lichtes und des Todes aufgesucht habe. Nun hoffte ich, bereit zu sein.
 


Kashi – Shivas Stadt des Lichtes – für die gläubigen Hindus ist die Reise nach Varanasi die Pilgerfahrt, die jeder in seinem Leben unternommen haben will. Vergleichbar ist die Bedeutung der Stadt allenfalls mit der Mekkas für die Muslime und Jerusalem für Christen, Juden (und Muslime). Sadhus – heilige Männer - werden besonders angezogen und der Tod in Varanasi gilt als besonders verheißungsvoll.
30 % der Bevölkerung der Stadt gehören dem muslimischen Glauben an. 

 

Sie nennen die Stadt Banaras – der Name Benares war zu Zeiten der muslimischen und britischen Herrschaft gebräuchlich und ist weiterhin sehr geläufig. In der Mahabaratha werden weitere Namen aufgeführt. Der ansprechendste ist für mich Anandvan – Wald der Glückseligkeit. Varanasi gilt als eine der am längsten besiedelten Städte der Welt. 

Als ich Varanasi von Haridwar aus mit dem Nachtzug in den Nachmittagsstunden erreichte, schienen sich meine Erwartungen über die Stadt zunächst zu erfüllen. Ich hatte mir vorgenommen, günstig zur Altstadt zu gelangen, mich dann zu einem Hotel durchzuschlagen und all den Schleppern ein Schnippchen zu schlagen. Doch als ich ein wenig gerädert das Bahngleis entlanglief und versuchte, mich für das Kommende zu wappnen, sprach mich ein Rikschafahrer an. Ohne ihm Zusagen zu machen, folgte ich ihm nach draußen. Dort erwartete mich das vertraute Bild großer indischer Städte: von allem zu viel. Modernisierung ohne Plan, eine graue, bleierne Stadt, die zu schnell wuchs. Der Rikschafahrer blieb mir ein wenig suspekt, doch schließlich willigte ich ein, mir ein Hotel anzusehen. Soviel also zum Helden, der sich alleine durchkämpfte. Ich wollte nicht kämpfen. Ich wollte einfach nur zu den Ghats, ein schönes Hotel finden, Varanasi erkunden und bald darauf weiterziehen. Unser Beifahrer war ein Sadhu mit einer großflächigen Pigmentstörung im Gesicht, der es nicht für nötig erachtete, mich zu grüßen. Kurze Zeit später hielten wir, so dass sich die beiden eine frische Ladung pan (Kautabak mit wachmachenden Substanzen) zu Gemüte führen konnten.
Der Fahrer eröffnete mir nun:

„you give money to him!“ - „why?“ - „because he is holy man!“ – “well…”.

Nun bereute ich bereits in eben jener Rikscha zu sitzen und die Monotonie der unendlichen Märkte entlang der Straße, steigerte mein Wohlbefinden auch nicht. Schließlich fuhren wir durch eine Reihe ausgesprochen enger Gassen. Das letzte Stück mussten wir laufen. Zunächst war ich wenig erbaut über den Preis des angebotenen Zimmers, doch es ließ sich eine Übereinkunft erzielen. Und nun erwies sich die Wahl des Rikschafahrers und des Hotels als Glücksgriff. Zwar gibt es sicherlich schönere Aussichtspunkte auf die Ghats – die Aussicht vom Dach war schön, aber nicht atemberaubend – doch das Hotel konnte mit Ruhe und ausgesprochen freundlichen Angestellten punkten. So würde ich deutlich länger bleiben, als vermutet. Doch zunächst war ich beschäftigt, mich in meine Manie zu begeben und die nächsten Tage verschob ich meinen Rhythmus hin zum Nachtmenschen. Eine einfache Übung für den Profi. Nachts schrieb ich oder holte die Lektüre anderer Blogs nach, in den Morgenstunden fiel ich ins Koma. Mittags war ich wieder auf der Bildfläche.


Memento Mori

Ich war gekommen, um die Atmosphäre an den Verbrennungsstätten auf mich wirken zu lassen. Ich wusste nicht wie ich darauf reagieren würde. Ich konnte mir vorstellen, dass es mich umwerfen würde, dass die Angst massiv zurückkehren würde, die mich so lange begleitet und mich nie ganz verlassen hatte. Vielleicht würde ich Erleichterung empfinden. Würde ich Schmerz oder gar Freude im Angesicht des Todes erleben?

Bei uns im Westen ist der Tod ein Tabuthema. Der Jugendwahn hat kaum etwas von seiner Stärke verloren, die Gentechniker träumen von der Verlängerung des Lebens oder gar der Eliminierung des Todes. Viele Alte werden ins Altersheim abgeschoben. Ich hatte die Zustände gesehen und es hatte mich erschüttert. Doch hier lag der Tod direkt vor Augen. Wie wollte man einen sanften Tod erleben, wenn man sich nie mit ihm beschäftigt hatte, weil er kollektiv verdrängt wurde? Nur so kann man den Schrecken erklären, den viele Menschen empfinden, wenn sie unvorbereitet auf ihre letzte Reise gehen.

Für mich persönlich war der Gedanke, dass wir sterben würden, zu keinem Zeitpunkt ein Tabu. Ich war als Pfarrerssohn früh damit konfrontiert und hatte schon als kleiner Junge gespürt, dass es sich um einen endgültigen Abschied handelt – zumindest in diesem Leben. Doch ich glaubte an ein Leben nach dem Tod.

Zum Trauma wurde das Thema für mich erst, als ich meinen Glauben in der Pubertät verlor und ich erleben musste, wie mir geliebte Menschen elendig an Krebs starben. Das war zu viel.
Hauptsächlich stellte ich mir die Frage, was nach unserem Tod kommen würde. Und als ich aller Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod beraubt schien, verlor ich auch allen Lebenssinn – das war lange Fundament meines Weltbildes gewesen. Es folgten Jahre der Wut, Trauer, Verzweiflung, Depression – all dies habe ich mir im ersten Teil meines Buches von der Seele geschrieben. Es waren Jahre, in denen der Gedanke an den Tod nie sehr fern war. Und der Tod selbst auch nicht.

Heute habe ich zu einer Hoffnung zurückgefunden. Ich werde wohl trotzdem ein Agnostiker bleiben, auch wenn ich manchmal überzeugt bin, dass es Etwas Größeres gibt als uns. Und noch immer gibt es Momente, in denen mir sicher scheint, dass nichts von Bestand sein wird – ein Gedanke, der mich immer noch deprimiert – doch den ich denken kann, ohne ins Bodenlose zu fallen. Das war ein langer Weg.

Und ich möchte nicht unsterblich sein. Was für eine furchtbare Vorstellung. Es ist ein Wunder, dass ich dreißig Jahre alt geworden bin. Ich will sicher nicht als 500-Jähriger von meinem 150. Trip nach Indien berichten. Es gibt immer noch Todessehnsucht in mir. Aber der destruktive Teil wird immer kleiner. Doch einst von dieser Erde zu gehen, wird eine Erlösung sein. Das schmälert den Schmerz der Hinterbliebenen nur unwesentlich und ich weiß nicht, wie tapfer ich dem Tod gegenüberstehen werde. Doch entscheidend bleibt doch, was für ein Leben man geführt hat.
Ich will nicht behaupten, ich würde das Leben voll auskosten. Doch es ist sehr intensiv – mit wundervollen und furchtbaren Erfahrungen. Wer wäre ich, nach mehr zu fragen?

Wunderbar auch, was Tiziano Terzani im Buch „Der Anfang ist mein Ende“ zum Tod sagt:

„Warum macht das Sterben uns bloß solche Angst? Wo das doch alle getan haben! Milliarden und Abermilliarden von Menschen, Babylonier, Hottentotten, alle. Aber wenn wir selber dran sind - ah! Dann sind wir verloren.

Wie ist das möglich? Wo das doch alle getan haben!

Wenn du es dir genau überlegst - und das ist ein schöner Gedanke, den natürlich schon viele angestellt haben -, ist die Erde, auf der wir leben, im Grunde ein riesiger Friedhof. Ein immens großer Friedhof all dessen, was gewesen ist. Wenn wir anfangen würden zu graben, fänden wir überall zu
Staub zerfallene Knochen, die Überreste des Lebens.
Kannst du dir vorstellen, wie viele Abermilliarden von Lebewesen auf dieser Erde gestorben sind? Die sind alle da! Wir laufen ständig über einen unendlich großen Friedhof. Das ist seltsam, denn wir stellen uns Friedhöfe immer wie Orte der Trauer vor, Orte des Leidens, der Tränen. Dieser immense
Friedhof aber, die Erde, ist wunderschön! Voller Blumen, die darauf wachsen, mit all den Ameisen und Elefanten, die darüber laufen. Er ist die Natur!
Wenn du das so siehst, dass du wieder Teil von all dem wirst, ist das, was von dir bleibt, vielleicht dieses unteilbare Leben, diese Kraft, diese Intelligenz, die du mit einem Bart schmücken und Gott nennen kannst, auch wenn Sie etwas ist, was unser Denken nicht fassen kann, vielleicht der große Geist, der alles zusammenhält.“
 


Nun lief ich also das erste Mal an den Ghats vorbei. Ich hatte mir ein anderes Bild gemacht. Ich war davon ausgegangen, dass die Verbrennungsstätten dominieren würden, aber das ist nicht der Fall. Es gibt deutlich mehr Badeghats, in denen die Pilger ein Bad in „Mother Ganga“ nehmen, um ihre Sünden abzuwaschen und der Göttin Ganga Girlanden und schwimmende Kerzen zu opfern. Zahllose Boote brechen zu Fahrten über den Fluss auf. Prächtige Kaufmannshäuser, Villen und Tempel aus dem 18. und 19. Jahrhundert dominieren die Promenade und zeugen von einem anderen Zeitalter. 


Es gibt ausschließlich zwei Verbrennungsstätten in der Stadt. Die kleinere, das Harishchandra Ghat befindet sich nicht weit vom Hotel; die deutlich größere und bedeutendere ist das Manikarnika Ghat. 

Als ich das Mainghat erreichte, bot mir ein drahtiger Mann seine Dienste als Masseur an. Ich wollte zunächst weitergehen, beschloss dann aber doch, dass es Zeit wäre für meine erste Massage in Indien seit Langem. Da lag ich nun auf den Steintreppen des Ghats auf einer Plane und es gelang mir nach einiger Zeit erstaunlich gut, mich inmitten der Menschenmassen zu entspannen. Der Mann verstand sein Handwerk – die Aryuveda-Massage und er forderte am Ende einen für Varanasi exorbitanten Preis. Doch da die Massage ausgesprochen gut war und ich für dieselbe Dienstleistung in Goa oder Kerala einen ähnlichen Preis bezahlt hätte, ließ ich es dabei bewenden. Der Mann stammte aus Bihar und hatte fünf Kinder durchzukriegen.

Ständig wurde mir von finsteren Gestalten Haschisch angeboten – doch nicht nur das – die Palette reichte von (gefaktem) LSD, Meskalin über Opium und Kokain zu Morphinderivaten und dem Pferdeschlafmittel Ketamin. Ich wollte mir nicht im entferntesten vorstellen, was passieren, würde unter Ketamineinfluß an den Verbrennungsstätten zu sein – für Psychedelika war das zweifelsohne auch nicht der richtige Ort – um das mal ganz vorsichtig auszudrücken.

Ich machte mir meine Gedanken über das Bevorstehende. Zweimal hatte ich mich gegen den Trip nach Varanasi entschieden, weil es für mich der falsche Zeitpunkt zu sein schien. Ich hatte viele wilde Geschichten gehört und mein Hauptinteresse lag darin, zu erfahren was ich empfand, wenn ich an den Verbrennungsstätten stand.

Ich war in Indien immer wieder auf Westler getroffen, die mir ausführliche Geschichten über ihre Erlebnisse in vorangegangenen Leben erzählen wollten – das hatte mich eher befremdet. Nicht weil ich dem - tief in Hinduismus und Buddhismus innewohnenden - Gedanken von Wiedergeburt nichts abgewinnen könnte – doch ich kann mir nicht vorstellen, als ein anderer Mensch wiederzukehren – ganz abgesehen von Tieren oder Pflanzen. Unter Umständen bleibt etwas von unserem Bewusstseinskern erhalten – weiter mag ich nicht denken und selbst dessen bin ich mir keineswegs sicher. Existentialistische Gedanken sind mir nicht fremd.

Die Vorstellung von Shiva, der mit Brahma, dem Schöpfer und Vishnu, dem „Erhalter“ der Welt eine Dreiteilung des Göttlichen bildet, wie sie auch im Christentum zu finden ist, als Zerstörer der Welt, der zugleich eine neues Zeitalter einläutet ist mir in der Zeit in Indien deutlich näher gekommen. Erst kürzlich hatte ich die Lektüre von „the age of Kali“ beendet. In diesem Buch lässt der Autor Inder zu Wort kommen, die die (aus ihrer Sicht) glorreiche Vergangenheit mit dem aktuellen Verfall vergleichen – am augenscheinlichsten am Beispiel von Lucknow. Für mich spricht tatsächlich viel dafür, dass wir uns in Kali Yug befinden, einer Zeit des moralischen Verfalls. In der zyklischen Vorstellung des Hinduismus wird diese Periode vom golden age abgelöst. Die große Frage bleibt für mich: falls diese aufeinander abfolgenden Zyklen von Verfall und Erneuerung wirklich existieren – wofür viel spricht – alle Hochkulturen und Weltmächte gingen durch diesen Prozess - wie wird der Übergang von statten gehen?

Werden wir so weitermachen wie bisher und uns nach und nach selbst die Lebensgrundlage entziehen bis eine Katastrophe uns zum Neustart zwingt?

Oder werden wir uns weiterentwickeln, aus unseren Fehlern lernen, uns gesundschrumpfen, die Totalökonomisierung aller Lebensbereiche überwinden und uns auf die wirklich essentiellen Werte zurückbesinnen? Unseren Verstand wieder zu einem Werkzeug machen, anstatt vollständig von ihm dominiert zu werden?

Noch ist unser Schicksal nicht entschieden.

Diese Gedanken hatten mich schon in Haridwar begleitet. Dort wurde der Kanal des Ganges ausgebessert und das Ausmaß der Verschmutzung war weit schlimmer – zumindest, soweit man das erkennen konnte. Ich hatte mich auch gefragt, wie es vereinbar war, den Fluss als heilig zu verehren und ihn gleichzeitig mit Dämmen dermaßen zu verschandeln.
 
ein Bild des Manikarnika Ghats aus einer respektvollen Distanz

Am Manikarnika Ghat angekommen – der bedeutendsten Verbrennungsstätte, schien zunächst der destruktive Anteil Shivas deutlich präsenter zu sein. Gerade die verlassenen Häuser direkt oberhalb erzeugen eine gespenstische Atmosphäre. Scharen von Fledermäusen hatten sich dort eingenistet. Sie flogen unaufhörlich durch die glaslosen Fenster und ihr Anblick verstärkte den Eindruck. Unterhalb davon brannten die Feuer für die Toten. Jeder gläubige Hindu möchte hier verbrannt werden, da dieser Ort Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten verspricht:
Moksha – das Äquivalent zu Nirvana.

Ein aufdringlicher Mann begann mit einer Litanei über die Rituale am Ghat. Seine Ausführungen waren durchaus interessant. Ich lauschte ihm einige Zeit, auch wenn das nicht leicht fiel, da er sehr undeutlich sprach und eindeutig Unmengen von Haschisch konsumiert hatte. Zudem wusste ich bereits, was folgen würde. Das Ganze läuft so: schon, wenn man sich dem Ghat nähert, wird man in ein unverfängliches Gespräch verwickelt – erreicht man den Verbrennungsplatz wird man an den Experten verwiesen. Das Ziel dieses Unterfangens ist das Geleit zu einem Hospiz, wo man zu einer Spende genötigt wird, die leider nicht den Sterbenden zugutekommt. Nachdem ich lange genug seiner monotonen Schilderungen ohne jegliche Affektion gelauscht hatte, bat ich ihn die Luft anzuhalten, weil ich den Ort in Ruhe betrachten wollte. Bei all dem was er über Respekt erzählte, war er der Einzige, der sich respektlos verhielt und aus dem Ort Gewinn schlug. Kurze Zeit später hatte er endlich begriffen, dass mit mir kein Geld zu machen war. 

Nachdem ich das Geschehen einige Zeit aus einiger Entfernung betrachtet hatte, begab ich mich auf einen Balkon, von dem aus man direkt auf die Totenfeuer blicken konnte. Die Angehörigen trugen den Leichnam auf einer Bambusbahre zum Fluss, wo eine letzte Waschung mit dem Wasser des heiligen Flusses vollzogen wurde. Der Leichnam war in glitzernde Seidentücher gehüllt. Danach wurde er dem Feuer umgeben. Der älteste Sohn umrundete den Leichnam ein letztes Mal und setzte ihn in Brand. Es dauert zwei bis drei Stunden, bis das Feuer den Körper aufgezehrt hat. Nur Hüft- und Beckenknochen verbleiben. Sie werden dem Ganges übergeben. An einem Punkt wenden sich die Angehörigen ab, um der Seele die Möglichkeit zu geben, Moksha zu erlangen. Solange man sich ihr mit Trauer zuwendet, ist sie auf dieser Erde gefangen.
Es war mir unmöglich, aus den Gesichtern Emotionen herauszulesen. Am ehesten noch Andacht. Aber keine Trauer, keine Erleichterung, kein Glück über die Erlösung. Vielleicht geschieht das alles deutlich früher. Die Haare werden von vielen Angehörigen als Zeichen der Trauer geschoren. Es ist eine erhebliche Belastung für die meisten Familien, das Feuerholz für den Scheiterhaufen zu kaufen.

Ich war erstaunt, wie wenig Emotion ich zunächst empfand. Da stand ich nun, dicht gedrängt auf dem Balkon. Die Sadhus rauchten Haschisch durch das Chillum. Die Hitze war deutlich spürbar, ganz leicht schien man auch den Geruch verbrannten Fleisches wahrzunehmen. Die Holzkohlefeuer würden die ganze Nacht durchbrennen. Je höher die Kaste des verstorbenen, desto näher am Fluss wird der Leichnam verbrannt. Die meisten werden jedoch auf der Terrasse verbrannt, die auch genutzt wird, wenn der Ganges während des Monsuns die Ghats teilweise überschwemmt.

Mit der Zeit wurden meine Sinne offener für das Leben an diesem Ort. Der Anblick von Zicklein, Kühen und Wasserbüffeln, die sich ihren Weg durch die unwirkliche Szenerie bahnten und über die bereitliegenden Sandelholzberge stiegen, stellte einen großen Kontrast dar. Sie schienen keinerlei Notiz von der Morbidität dieses Ortes zu nehmen. Das Feuer erzeugte einen ähnlich tranceartigen Effekt wie der Blick in ein schlichtes Lagerfeuer. Die schwimmenden Kerzen auf dem Fluss zeugten von Leben. Auch ich war mir meiner Lebendigkeit an diesem Ort besonders bewusst. Das Gefühl war dem beim Besuch eines Friedhofs ähnlich, auch wenn die Eindrücke hier wesentlich intensiver waren. Doch es stellte sich automatisch eine besondere Achtsamkeit ein. Es war ein Ort, der große Würde ausstrahlte.

Möglicherweise waren all die Gedanken, die ich mir über die Begegnung mit dem Tod in Varanasi gemacht hatte, schlimmer als das, was ich vorfand. Möglicherweise hatten mich aber auch gerade diese Gedanken darauf vorbereitet. In jedem Fall fühle ich mich erleichtert. Es berührt mich, aber es ängstigt mich nicht. Vollständig kann ich meine eigenen Gefühle aber nicht deuten. Es war ein tiefes Gefühl tief in mir vergraben, ich konnte nicht entscheiden, welche Gestalt dieses Gefühl hatte.
Nachdem ich schon eine Stunde dort verbracht hatte, wurde es doch noch ein wenig deutlicher. Ich fragte mich, was für ein Leben die Menschen geführt haben mochten. Hatten sie ein erfülltes Leben? Was hinterließen sie?

Und ich dachte an die Menschen, die ich im Laufe meines Lebens verloren hatte, und hoffte, dass sie Erlösung gefunden hatten – in welcher Form auch immer. Ich habe keine Angst vor meinem eigenen Tod. Sterben mussten wir alle, die Frage war vielmehr ob es uns gelang wahrhaftig zu leben!






Carpe diem

Ich lernte Stina kennen. Zuvor hatte ich zwei Monate lang bis auf zwei kurze Unterhaltungen keinen Kontakt zu anderen Westlern gesucht. Bisweilen war ich sehr einsam gewesen, doch ich hatte auch einige bereichernde Bekanntschaften mit Einheimischen machen dürfen. Besonders in Haridwar war ich sehr verwöhnt worden. Dennoch blieb es etwas anderes – beides auf seine Weise sehr schön.

Nach der langen Pause eines wirklich intensiven Gespräches (die Sprachbarriere limitierte die Variation der Unterhaltungen in Haridwar erheblich) und der tiefgreifenden Erfahrungen am Manikarnika Ghat sorgten dafür, dass die Begegnung von Anfang an besonders war. Sie war ausgesprochen offen zu mir, vertraute mir vom ersten Moment an. Das alles öffnete auch mich noch weiter.

Seit ich mein erstes Buch veröffentlicht habe, hatte ich nicht mehr so intensiv von der Vergangenheit gesprochen. Und es war einer der seltenen Fälle, in der in meiner Erzählung tiefe Emotionen mitschwangen – ich neige dazu, von diesen dunklen Zeiten sehr affektisoliert zu sprechen. Nun legten wir alles auf den Tisch.

Von Anfang an war klar, dass sie einen Freund hatte, der auf sie wartete und so war die Grenze dieser Begegnung eindeutig. Es gab nicht den geringsten Grund, sich zu verstellen und das führte dazu, dass wir uns ausgesprochen nahe kamen. Ich blieb ein Gentleman und sie war treu. Ich kann nur von mir sprechen und die Gedanken sind frei. Doch es war eine wunderbare Begegnung und wir schufen uns für einige Tage eine eigene Welt, in der wir verweilten, wann immer wir wollten und unserer eigenen Wege gingen, wenn es sich richtig anfühlte. Wir hatten schnell unser Traumhaus ausgesucht und waren eifrig beschäftigt, die Einrichtung und den Verwendungszweck der riesigen Räumlichkeiten zu planen. Außerdem spannen wir wilde Verschwörungstheorien über die weltweite Machtübernahme der gentechnisch erzeugten Pop-Band „handsome brothers“. Aber das würde hier entschieden zu weit führen. In jedem Fall lachten wir Tränen und ich kann mich nicht entsinnen mit besonders vielen Menschen so irre Gespräche geführt zu haben. 

Sie repräsentierte das Leben und wir sprachen über Liebe, Leben und Tod und alles was sonst zählte. Es war gut wie es war und es wäre vielleicht schade gewesen, wenn da mehr gewesen wäre. In jedem Fall war es nicht der richtige Zeitpunkt.

Copyright für dieses und das folgende Bild: Stina
Am Abend unseres Treffens liefen wir gemeinsam über die Ghats
Dort sahen wir den relaxtesten Ziegenbock aller Zeiten:

 Die Vorbereitungen für das Dev-Devali-Fest waren in vollem Gange:


Im Anschluß zeigte ich ihr die Verbrennungsstätte am Manikarnika Ghat und wir sprachen über die Menschen, die wir verloren hatten und die Bedeutung des Todes. 

Danach begaben wir uns in die verwinkelten Gassen der Altstadt. Wer hier nicht verloren geht, hat ein Sicherheitsdenken, das ihm nicht ermöglichen wird, seine Komfortzone zu verlassen. Es gibt an jeder Ecke etwas Neues zu entdecken und die engen Gassen muten mittelalterlich an. 



In Indien existieren die verschiedenen Zeitepochen nebeneinander her.

Es war eine Überraschung, dass in Varanasi zwei Wochen nach Divali ein weiteres Fest zum Vollmond stattfindet, das nur hier gefeiert wird - Dev-Divali. Die Muslime begehen zum gleichen Zeitpunkt Muharram und so mischen sich unter die Hindus an den Ghats Muslime in feierlichen Gewändern. Es war ein Glücksfall, dass wir dieses Fest gemeinsam erleben durften. Trotz heftiger innerer Widerstände, gelang es mir, das Hotel in den frühen Morgenstunden zu verlassen. Wir begaben uns zu den Ghats und machten eine Bootfahrt – es war das erste Mal, dass ich die Ghats aus dieser Perspektive betrachten konnte. Bereits zum Sonnenaufgang waren die Ghats gesäumt mit tausenden von Pilgern, die im Ganges badeten.








Noch eindrucksvoller war, in den Abendstunden zu den Ghats zurückzukehren, deren Stufen in den letzten Tagen einen frischen Anstrich erhalten hatten und bereits aus allen Nähten zu platzen drohten. Wir unternahmen eine weitere Bootsfahrt. Ich hatte meine Kamera vergessen und das war gut so. Die Gefahr besteht immer, dass man zu viele Bilder macht und vergisst zu schauen. Und das, was sich uns bot, war DAS Highlight in Varanasi. Die Ghats waren von zehntausenden Kerzen illuminiert. Von außen schien die Menschenmenge einer gewissen Ordnung zu folgen. Nachdem ich ein selbstloses Gebet sowohl für die mir geliebten als auch die mir unbekannten Menschen sprach, brachte ich dem Ganges eine schwimmende Kerze dar. Ich war eins mit meiner Umgebung. Nichts trennte mich mehr. Ich war ergriffen und konnte sehen, dass Stina ähnlich fühlte. Es brauchte keine Worte, um das zu erkennen.





Das Gefühl einer geordneten Menge, verschwand in dem Moment, in dem wir uns unter die Menschen mischten. Wir schlugen uns bis zum Main Ghat durch. Die Atmosphäre war unglaublich intensiv und ließ auch mich leuchten. Doch es blieb eine Herausforderung durch die Menschenmassen zu gelangen und gewaltige Knaller explodierten um uns herum. Raketen stiegen in den Himmel auf. Die folgenden Bilder stammen von Stina. Dies ist, was wir sahen:









Nachdem Stina gegangen war, war ich ein wenig traurig. Doch nur kurz. Und die besondere Stimmung hielt an. Vorgestern lief ich erneut an den Ghats vorbei und ging danach stundenlang in den Gassen der Altstadt verloren – nichts anderes war mein Ziel gewesen. Ich fühlte mich leicht, befreit und glücklich. Meine Stimme hatte den sanften Klang tiefen inneren Friedens, meine Bewegungen geschmeidig. Und das war, wie mich die Anderen sahen:




Varanasi wird in meinem Herzen bleiben und ich werde zurückkehren. Es war sicherlich der richtige Zeitpunkt, zu kommen. Ich war wirklich bereit gewesen!

"Und manchmal, während wir so schmerzhaft reifen, dass wir beinahe daran sterben, erhebt sich aus allem, was wir nicht begreifen, ein Gesicht und sieht uns strahlend an" Rainer Maria Rilke


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