Donnerstag, 20. Februar 2020

Reisen, Existenz und die Suche nach Heimat

 
Liebe Freunde, Liebe Blogleser, Liebe Suchende,

Auch wenn es mir nicht leicht fällt, möchte ich Euch heute erzählen, wie es mir in den letzten Jahren ergangen ist und den Fokus noch einmal auf meine existentielle Suche nach (innerer) Heimat legen.



Das Reisen und meine existentielle Suche


 Im Februar 2015 war es, als ich an der Schwelle des Todes stand. Ziemlich genau fünf Jahre liegt das nun zurück. Es war auf meiner letzten größeren Reise. Damals hatte ich in den Bergen Marokkos nur mit Mühe mein nacktes Leben retten können. Ein unbändiger Lebensmut und eine tiefe innere Ruhe hatten mir das Überleben ermöglicht. Als ich mich zum Sterben hingelegt hatte, schwor ich mir, noch einmal alles zu investieren, sollte ich die finstere Nacht überleben. Ich wollte noch etwas beitragen, ich wollte lieben und geliebt werden, Alternativen für eine zukunftsfähige und lebenswerte Welt kennenlernen und wahrhaftig existieren, mit Allem, was mich ausmacht.

Nach Jahren des Umherziehens in Asien, geprägt von unzähligen Auf- und Abbrüchen, fühlte ich mich erschöpfter denn je und sehnte mich danach, wieder Wurzeln zu schlagen. Ich war schon mein halbes Leben auf der Suche nach einem Heimathafen, an dem ich Halt, Gemeinschaft, Freundschaft, Gleichgewicht und Liebe fand. An diesem Ort wollte ich mir eine Basis schaffen, einen Platz, an dem ich zur Ruhe kommen, an dem ich bleiben konnte und wollte, wenn ich müde vom Reisen war, an dem ich erwartet wurde. Ich wollte endlich ankommen.
Ich wollte nicht immer ein Getriebener bleiben, der ewig sucht, ohne zu finden. Ich konnte nicht nach jeder Reise ins Bodenlose stürzen, das zehrte mich zu stark aus und machte mich nicht frei. Auch in dieser Perspektivlosigkeit lag die Todesverachtung meines inneren Draufgängers begründet. Ich konnte nicht nur in Extremen leben, das würde nicht mehr lange gutgehen.

Außerdem wollte ich nicht mein Leben lang unterwegs auf Reisen sein. Ich hatte genug alte Vagabunden und Haudegen getroffen. Einige hatten mich begeistert. In ihren Augen flackerte nicht zu bändigende Neugier auf die Welt, sie schienen glücklich. Doch ich hatte mehr von der Sorte gesehen, die sich unterwegs verirrt hatten und ziellos durch die Welt stolperten. Sie waren auf der Flucht vor sich selbst und hatten sich verloren. Ich kannte das Gefühl und fürchtete mich vor diesem Schicksal.

Ich war kein „digitaler Nomade“ geworden, der sich mit Business-Plan durch die Welt schlängelte. Ich wollte meinen Blog nicht über Werbung vermarkten, Kooperationen mit Hotels, Airlines oder Reiseveranstaltern eingehen und fortan als „Influencer“ die angesagtesten „Destinationen“ auf Tourismusbörsen präsentiert bekommen und mich auf geführte Pressereisen einladen lassen. Ich konnte nur für etwas arbeiten, hinter dem ich moralisch stehen konnte. PR war mir schon immer zuwider. Ich wollte ein möglichst realistisches Bild der Welt zeichnen und keine Hochglanzbroschüren. Alles Andere würde meine kritische Haltung konterkarieren.
Auch aus ökologischen Gründen, kam es für mich nicht in Frage, ständig durch die Welt zu fliegen. Ich passte nicht in die Reiseblogger-Szene, meine "Nische" kam dort kaum vor. Ich wollte Niemanden zum Reisen animieren, höchstens ein Bewusstsein über die bereisten Länder und meine Erfahrungen vermitteln. Ich wollte ganz sicher keine "bucket list" abhaken oder mit einem "been there, done that"-Shirt rumlaufen.
Ich wollte schon immer Bücher schreiben. Zwei habe ich veröffentlicht, an vier Sammelbänden mitgeschrieben, für das Dritte eigene, das "Große", konnte ich noch keinen Verlag finden. Vielleicht bleibt es dabei. Ein Auskommen war bisher aus meiner Literatur nicht geworden – das war wie ein Sechser im Lotto und ich hatte mich nicht so vermarkten können und wollen, wie das vielleicht möglich, sicher aber nötig gewesen wäre.

Und ich will ehrlich sein: Ich habe große Abenteuer erlebt, ein abgeklärter Profi-Reisender bin ich nie geworden, das wollte ich auch nie. Das Reisen sollte seinen Zauber behalten und nicht zur Routine werden. Ich habe das extreme Lampenfieber nie verloren, wenn ich mich auf Reisen begab, ich machte immer wieder Anfängerfehler und brauchte Zeit, um meinen eigenen Rhythmus zu finden. Ich reiste ohne Smartphone und Vorbuchungen, mit möglichst wenig Ablenkungen und Plänen. Manchmal war Reisen Flucht nach vorne. 
Auch diese Unwägbarkeiten machten für mich das „echte“ Reisen aus, bisweilen ist es berauschend, manchmal beängstigend. Manchmal lernte man viel mehr dabei, in einer Gasse verloren zu gehen, als in einer Woche Abklappern von "Sehenswürdigkeiten". Unvergessen die tiefgreifenden Erfahrungen: Die Freiheit, unterwegs zu sein und neue Landschaften und Kulturen in mich aufzusaugen, die tiefe Zufriedenheit nach einer strapaziösen Reise oder Wanderung, der Nervenkitzel, wenn sich eine neue Welt öffnete, das Glückgsgefühl, wenn ich ganz inmir selbst ruhte oder einen Ort entdeckte, an dem ich mich zuhause fühlte. 
Genauso bleiben die Tiefschläge in Erinnerung, etwa als ich aller Unterlagen und Geld beraubt, tief in der Nacht ohne Identitätsnachweis in Siam Raep ausstieg, ohne zu wissen, wie ich weiternachen sollte. 
Lauter Gegensatzpaare hatte ich unterwegs erlebt: Innige Begegnungen und mörderische Einsamkeit, rührende Gastfreundschaft und schmerzhafte Ablehnung, schwindelerregende Hochgefühle und böse Panikwellen, Schönheit und Grausamkeit, Befremden und Verständnis, Hoffnung und Leid, Liebe und Verlassensein. 
Für mich war Reisen nie Selbstzweck oder ein besonderes Statussymbol, sondern vor allem anstrengende Erfahrung, Selbstsuche, der Versuch in anderen Kulturen und Philosophien neue Antworten auf meine Lebensfragen finden. Ich wollte wissen, wie die Menschen dort mit Leid, Liebe und Tod umgingen und wie sie Zufriedenheit definierten. Daraus wollte ich neue Hoffnung und Lebenssinn ziehen und Menschen treffen, die meine Ängste, aber auch meine Hoffnungen teilten.
Natürlich bin auch ich manchmal der Versuchung erlegen, mich zu inszenieren, aber das stand nie im Vordergrund und ich bin nicht der Verblendung erlegen, mich selbst zu überhöhen oder meine Abenteuer aufzublasen. Viel interessanter fand ich, meine Schwächen zu zeigen und auch, in welche Fettnäppfchen ich bei meiner Suche trat.

Auf dieser Suche habe ich viel entdeckt. Ich habe große Teile Südasiens gesehen, habe mich meinen inneren Ängsten und Dämonen gestellt. Alleine bin ich im Himalaya und in den Bergen Marokkos gewandert, habe mich in die Urgewalt des Ozeans hineingeworfen, habe in der Wüste geschlafen, mich der Fremde ausgeliefert so gut ich konnte. Dabei habe ich innere und äußere Grenzen verschoben und Grenzen überschritten, bin bis an den Rand meiner Existenz vorgestoßen.



Ich habe viele Menschen unterwegs getroffen, die mich inspiriert und bereichert haben, Einheimische und andere Suchende gleichermaßen. Unterwegs habe ich Landschaften, Menschen und Orte entdecken dürfen, die mich existentiell berührt haben. Überall dort ist ein Stück meines Herzens geblieben. So ist auch ein Teil der Fremde zu meiner (inneren) Heimat geworden. Es schmerzt mich zu hören, wenn Katastrophen über die Menschen dort hereinbrechen, genauso wie ich mich sehr über gute Nachrichten freue. 
Ich war von dem unermesslichen Leid auf dieser Erde erschüttert worden, doch genauso hatte mich die Schönheit unserer Welt und seiner Bewohner verzaubert. 
Ein paar Mal war ich auf einer goldenen Welle geritten, voller Vertrauen in mich und das Gespür, die richtigen Orte und Menschen zu entdecken, ganz in mir selbst ruhend oder angetrieben von unstillbarer Neugier, Sehnsucht und Freude an echter Begegnung.
An anderen Tagen fühlte ich mich unendlich einsam und verloren, war verzweifelt auf der Suche, nach einem Ort und Menschen, die mir wieder Halt gaben.
All diese Erfahrungen haben mich zu dem Mensch gemacht, der ich heute bin.

Ich hatte also viel auf meinen Reisen entdeckt und erfahren, immer wieder Frieden und Gleichgewicht in mir gefunden, festhalten konnte ich beides jedoch nie lange. Leider sind auch die Erinnerungen wenig plastisch, vielleicht habe ich zu viel erlebt, habe mein Herz an zu viele Orte und zu vielen Menschen getragen, ohne dass genug Bestand hatte. Oft stellten sich die Erinnerungen erst wieder ein, wenn ich zurückkehrte, deswegen besuchte ich besondere Orte und Menschen mehrfach, manche fehlen mir bis heute.







Die Suche nach Heimat

Meine Reisen waren auch eine Suche nach Heimat. Das klingt widersprüchlich. Tatsächlich war mein Aufbruch auch eine Reaktion darauf, dass die Suche nach Zugehörigkeit und Geborgenheit, die schon viel früher begonnen hatte, unvollendet geblieben war. Die Suche war auch eine Antwort auf das Scheitern meiner Hoffnung auf Heimat und den wiederkehrenden Verlust, wann immer ich sie gefunden zu haben schien.
Tatsächlich ist das Gefühl, Abschied zu nehmen, eines der intensivsten, die ich kenne. Bei allem Schmerz und aller Trauer, enthält es auch süße Melancholie. Kaum ein Gefühl löst in mir solche Lebendigkeit aus, im Angesicht der Vergänglichkeit spüre ich den Wert meiner Erfahrungen, meiner Entdeckungen und Begegnungen besonders deutlich. Aber tief in meinem Herzen wollte ich nicht immer weiter, sondern ich wollte bleiben, meinen Platz einnehmen, mein Potential ausschöpfen, Zufriedenheit und Beständigkeit finden.

Meine erste Heimat hatte ich früh verloren. Ich war zehn Jahre alt, als wir vom Dorf in die Vorstadt zogen. Auch in den Jahren danach hing ein möglicher erneuterter Umzug als Damoklesschwert immer über mir, ich musste befürchten, dass auch die neue Heimat keinen Bestand haben würde. Stattdessen fand ich meine Heimat in innigen Freundschaften, die über viele Jahre Fundament meines Lebens waren.

Doch in meiner Jugend kam ein erneuter Bruch in meinem Leben. Jahrelanges Mobbing veränderte alles. Es kamen die Jahre der Schlaflosigkeit, der Erniedrigungen, der Depression, der nächtlichen Angst vor meinen Peinigern und um meine Existenz. 
Ich fühlte mich ausgestoßen und verlor allen Glauben in mich, in die Welt, an einen gnädigen Gott. Ich begann, die Schule zu verweigern, war voller dunkler Gedanken und begann, exzessiv zu trinken. Die unaushaltbare Angst war immer mehr zur Aggression geworden und da ich diese Wut meist unterdrücken musste, wurde sie zur destruktiven Waffe, die nun ganz auf mich selbst gerichtet war. Während die Anderen von Frauen und Autos träumten, war mein Leben schon zu Ende, bevor es richtig begonnen hatte.
Noch viele Jahre hangelte ich mich nur von Notlösung zu Notlösung, meine Wurzeln waren vollständig gekappt und ich fand lange keinen Boden mehr unter den Füßen.

In den Träumen und in Tiefphasen setzt sich das bis heute fort: Im Traum fährt der Bus nach dem Halt im Nirgendwo ohne mich ab. Keiner hat gemerkt, dass ich fehle. Ich falle aus kilometerhohen Abgründen ungebremst nach unten, wache schweißgebadet auf. Im Schlaf werde ich noch immer verfolgt, entwertet und verlacht. So vieles ist aus der Erinnerung verbannt, und gleichzeitig in meinem Unterbewusstsein, meinem Körper und meiner Seele gespeichert. Die daraus resultierende Anspannung raubt wahnsinnig viel Lebenskraft. Es ist mir noch immer nicht gelungen, diese inneren Widerstände zu überwinden.

Hoffnung hatte mir die Ausbildung zum Heilerziehungspfleger gegeben. Ich hatte gerne mit behinderten Menschen gearbeitet. Der Schichtdienst hatte die Schlafprobleme jedoch noch verschärft und der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis war eklatant. Es war vor allem die spannende schulische Ausbildung, die mich durchhalten ließ. Auf dem Traifelberg hatte ich auch Gemeinschaft gefunden, auch wenn es nur eine temporäre war.

Nach meinem Abschluss hatte ich zwei Jahre mit schwer psychisch erkrankten Menschen in einem geschlossenen Wohnheim gearbeitet. Auch für diese Menschen empfand ich große Wertschätzung, ich war stolz, etwas für sie tun zu können, ihnen Halt zu geben.
Für mich selbst war die Arbeit jedoch grenzwertig – zu viel verstand ich von ihren Problemen. Das Team, in dem ich arbeitete, gab mir Mut, wir hielten eng zusammen.
Am schlimmsten wog die Unterbesetzung, die fehlende Würdigung der Arbeit im sozialen Bereich, die Diskrepanz zwischen dem, was möglich war und dem was wir erreichen konnten, selbst wenn wir unsere Grenzen überschritten. Als ich Jahre später noch einmal in den Bereich zurückkehren wollte, musste ich erkennen, das ich diese Arbeit nicht mehr aushielt. Das alles war neben der Sehnsucht und dem Wunsch nach Freiheit, Erfahrung und Selbstbestimmung die treibende Kraft für meinen Aufbruch nach Indien 2009.

Auch auf meinen Reisen wurde ich von den dunklen Wolken der Vergangenheit eingeholt. Manche Ängste hatte ich bezwingen können, andere waren durch mein unstetes Leben größer geworden. Unvergessen der Moment, als ich auf einer vorgelagerten Insel von Mindanao auf den Pazifik blickte und spürte, dass ich die Koordinaten verloren hatte, dass ich zu weit gereist war, meine Identität auf tönernen Füßen stand. Ich konnte nicht mehr weiter vordringen, aber ich wußte auch nicht, wohin ich zurückkehren sollte, weil ich nicht gefunden hatte, wonach ich gesucht hatte und kein Ithaka auf mich wartete.

Ich war noch immer zwischen zwei Polen meiner Persönlichkeit zerrissen: Der eine Teil ist neugierig und abenteuerlustig, voller Kraft, Hoffnung und Erwartungen, mitgerissen vom Leben, im Extrem risikobereit bis zum Draufgängertum.

Der Antagonist könnte kaum unterschiedlicher sein: er ist sanft, empathisch, liebevoll und (schutz)bedürftig. Dieser Teil ist auf der Suche nach Heimat und Liebe. Sein Extrem ist ängstlich, es verliert sich in den Gefühlen Anderer, zweifelt am eigenen Wert und reagiert mit Überanpassung.

Diese Anteile in mir sind mein Kapital, in ihren Extremen ein Fluch, denn sie verhindern Gleichgewicht, ein stabiles Selbstwertgefühl, sie erzeugen Ambivalenzen und Zwiespälte und sind zugleich ein wesentlicher Teil meiner Persönlichkeit geworden, kaum noch abzustreifen. Angesichts der langen Perioden von Dunkelheit, Hoffnungslosigkeit und Nichtexistenz, die ich erlebe, wenn der Ängstliche dominiert, drängt es mich in den kürzeren Phasen des Draufgängers hinaus, ich brenne, fühle mich getrieben, ich habe überschäumende Ideen für tausend mögliche Existenzen. Das ist letztlich nur eine Vereinfachung. Beide sind immer in mir, in unterschiedlicher Ausprägung. Das Problem ist, dass sie oft im Widerstreit liegen.
Ich hatte immer nur dann Frieden gefunden, wenn es mir gelang, diese beiden Teile in mir zu versöhnen und zusammenzufügen. Der Ängstliche konnte sich vom Draufgänger mitreißen lassen und ihn gleichzeitig vor zu großem Risiko schützen. Dieser wiederum musste die berechtigten Sorgen ernst nehmen und bei seinen Entscheidungen berücksichtigten, seine Geschwindigkeit vermindern, ohne sich ausbremsen zu lassen. Die beiden Anteile mussten aufeinander acht geben und sich nicht bekämpfen. Dabei gab es nichts zu gewinnen, sie gehörten beide zu mir, hatten ihre Berechtigung. Der Mutige konnte den Sanften tragen und umgekehrt. Ich hatte das erlebt. Das war der Weg.

Ich musste einsehen, dass ich meine Ängste nicht bezwingen konnte, indem ich mir immer größere Mutproben suchte. Das hatte die Nahtoderfahrung in Marokko noch einmal eindrücklich unterstrichen. So konnte es nicht weitergehen. Ich wollte Teil von neuen Visionen sein und Verantwortung übernehmen. Ich wollte nicht mehr davonlaufen, auch keine Flucht mehr nach vorne, ich wollte endlich nach Hause kommen.




Neue Ufer

Der schmale Grat, der mich in Marokko so nahe an das Verderben geführt hatte, war mir also nicht unbekannt und ich hatte vorher schon Konsequenzen gezogen. Denn diese Reise war die Erste, die nicht ins Ungewisse führte. Nach meiner Rückkehr hatte ich ein Ziel: Einen Bauernhof im Herzen von Sachsen. Das war für mich selbst eine Überraschung, nach all den exotischen Orten, die ich auf meinen Reisen lieben gelernt hatte.
Doch Reisen war kein Selbstzweck. Ich hoffte in der "Solidarischen Landwirtschaft" und der damit verbundenen Lebensgemeinschaft Heimat zu finden, zumindest einen Ort, an dem ich einen Kompromiss fand zwischen einem Ankerplatz und kürzeren Reisen.
Im Jahr zuvor war ich mehrfach zu Besuch gekommen und hatte dort viel Herzlichkeit erlebt. Ich wusste, dass die Gemeinschaft für einen einsamen Wolf wie mich eine Herausforderung bedeuten würde, und das Zusammenleben keinesfalls so einfach war, wie es manchmal schien, ja dass es auch hier schwierige Charaktere gab, doch ich wollte mich dem stellen. Ich wollte dazugehören und mit den Anderen Arbeit, Freizeit und eine Vision für ein essentielles Leben teilen. Ich wollte langfristig autark werden und mich dem kapitalistischen Zeitgeist entgegensetzen. Das schien der Ort mit den Menschen zu sein, nach dem ich so lange gesucht hatte. Gemeinsam wollten wir Alternativen aufzeigen, wie sich einfach, aber gesund und glücklich leben ließ.
Grundlage des Projekts war der Gemüseanbau. Die Ernte wurde an feste Mitglieder gegen einen Fixbeitrag abgegeben. Fiel die Ernte besonders gut aus, bekamen sie mehr, bei Missernten entsprechend weniger. Wöchentlich lieferten wir Gemüsekisten aus, dafür bewirtschafteten wir dreieinhalb Hektar in Mischkultur. Arbeit und Leben waren verschmolzen, und wir versuchten, gemeinsame Entscheidungen zu treffen.

Doch die Gemeinschaft fand nach einem Umbruch nie wirklich zueinander. Vielmehr musste ich erleben, wie einfach gemeinsame Visionen an Egoismen zerbrechen können, wie schwierig es ist, trotz gemeinsamer Ziele, gewaltfrei zu kommunizieren. Wie viele Verletzungen überwunden werden müssen, um eine solidarische Gemeinschaft zu schmieden und wie einfach alte Traumata und erlerntes Konkurrenzdenken diese Versuche sabotieren und Kooperation verhindern, wie Machtstreben jede Solidarität zerstört. Wir waren eine Gruppe engagierter Menschen mit spannenden Biographien, doch die Mischung stimmte nicht, noch weniger die Hierarchie, Organisation und Kommunikation, um die natürlichen Konflikte im Zusammenleben vernünftig und konstruktiv zu lösen. Die Ansprüche waren riesig und umso tiefer war der Fall, als sich die Gemeinschaft in ihre Einzelteile zerlegte. Das Karussell drehte sich immer schneller, bis (fast) Alle herabgeschleudert waren. So konnten wir nicht für Alternativen zum derzeitigen Wirtschaftssystem werben. Mit unserem Scheitern machten wir es den Spöttern viel zu leicht, uns als Spinner abzutun. Und wir wurden auch nicht glücklich.

Diese Erfahrungen auf dem Hof waren bitter, frustrierend und machten mich nachdenklich. Wenn dieser Wandel schon im Kleinen so schwierig war, wie sollte er auf großer Ebene funktionieren?

Anderthalb Jahre habe ich auf dem Hof verbracht und viel über den Gemüseanbau lernen können. Es gab viele Momente der Hoffnung für einen neuen Aufbruch, ja es gab magische Abende, an denen ich große Hoffnung, Solidarität und Euphorie empfand. Vieles, was ich dort erlebte, war von einem geregelten Leben aus betrachtet, höchst ungewöhnlich, manches schreiend komisch, leider war viel von dieser Tragikkomik mit dem drohenden Untergang verknüpft, auf den wir wie Schildbürger zusteuerten.
Am Ende hatte ich ein neues Gemeinschaftskonzept kennenlernen können, das ich weiter attraktiv finde. Ich bin von der Sinnhaftigkeit dieser Lebens- und Wirtschaftsform überzeugt. Diese und andere Modelle werden in der Zukunft noch wichtig werden.





Auf dem Hof hatte ich meine große Liebe gefunden. Schon dort hatten wir auf dem Dachboden zusammengelebt. Und als absehbar war, dass wir auf dem Hof nicht glücklich werden würden und ich wieder meinen Rucksack geschnürt hätte, lud sie mich ein, zusammen in ihrer Wohnung in Chemnitz zu leben – einer der schönsten Momente in meinem Leben. Ich hatte mich so lange nach dem Ende der Einsamkeit gesehnt!
In den guten Zeiten wurde sie zum Mittelpunkt meiner Welt und ich fühlte mich an ihrer Seite geborgen und zuhause. Wir waren innig vertraut. Ihre Energie tat mir ähnlich gut, wie ihr meine Ruhe. Wir konnten wie Seelenverwandte miteinander kommunizieren, waren einander unendlich nahe, teilten viele verrückt-schöne Momente und eine komplizenhafte Vertrautheit.
Beide waren wir auf unsere Weise gebrannte Kinder, grenzüberschreitende Charaktere, im Guten wie im Schlechten. Dreieinhalb Jahre hat die Beziehung gehalten. Am Ende stand eine schreckliche Trennung. Ich hätte mich gerne im Guten getrennt, doch das war unmöglich. Und so musste ich weg aus Chemnitz. Es war nie ein einfaches Pflaster und zu vieles war mit der Liebe verknüpft, die mich hier in erster Linie gehalten hatte. Erst ein dreiviertel Jahr zuvor hatte ich die erste Wohnung seit zehn Jahren bezogen, nun musste ich schon wieder ausziehen, Abschied von den neuen Freunden und unserem Gartenprojekt nehmen.
Genauso schlimm war die Trauer, der Schmerz, die Hilflosigkeit und die Wut, vor allem aber die unnötigen Demütigungen am Ende, die in alte Kerben schlugen und kaum aushaltbare Gefühle in mir geweckt haben.
Ich habe gekämpft in diesen Jahren, zuerst um die Gemeinschaft zusammenzuhalten, dann um die Liebe, in der ich Heimat gefunden hatte. Beides ist am Ende gescheitert. Ich hatte alles getan, was in meiner Macht stand, bei allen eigenen Fehlern, aber es hatte nicht gereicht. Das war sehr bitter und ein herber Rückschlag.



Sorge und Hoffnung

Ich hatte richtige Schlüsse gezogen und viel investiert, um mir meine Basis zu schaffen, aber am Ende war sie nicht breit genug. Es war schrecklich zu erleben, wie meine Welt in Chemnitz unterging. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass es gerade erst richtig losging.
Der plötzliche Verlust von Allem, warf mich völlig aus der Bahn. Wieder einmal musste ich alles hinter mir lassen, erlebte das Verlassen-Sein, wieder war eine Heimat verloren! 
Ich hatte längst begonnen, die bunten Scherben meiner Odyssee wieder zu einem Mosaik zusammenzusetzen. Nun hielt ich neue Bruchstücke in Händen. Denn all das hat mich in alte Untiefen gestürzt, in die Depression und Perspektivlosigkeit. Das alles war nie weg, aber ich hatte das Gefühl, mich auf einem guten Weg hinaus zu befinden. Doch ich war dem drohenden Abgrund noch nicht entkommen. Ich musste die Zufriedenheit und Geborgenheit in mir finden. So sehr ich es mir gewünscht hatte - ich war noch nicht angekommen. Das tiefe Tal hatte mich wieder eingeholt.

Dabei hatte sich Vieles in meinem Innern und meinem Umgang mit anderen Menschen zum Positiven entwickelt, seitdem ich aufgebrochen bin. Ich hatte Erfahrungen gemacht, die für mehr als ein Leben reichten. Und auch die Jahre in und um Chemnitz waren ein Teil meiner Reise und voller Erkenttnisse. Noch fehlt mir Abstand, um mit einem Lächeln zurückzuschauen, doch ich hoffe, der Tag wird kommen. Ich habe viele schöne Tage in dieser Zeit erlebt, die ich nicht bereue. Es tut einfach noch sehr weh.

Nachdem ich alles aufgeben musste, war der erste Reflex, wieder zu reisen, um unterwegs wieder zu mir zu finden. Dafür habe ich die Kraft bisher nicht gefunden, erst nach dem Weggang aus Chemnitz stürzte der Himmel über mir ein. Und so stehe ich noch immer ratlos da, unschlüssig wie und wo es mit mir weitergehen soll. 
Wieder bin ich ein Entwurzelter.

Trotz aller Rückschläge gibt es einen Teil in mir, der auf eine Zeitwende und neues Glück hofft und nicht bereit ist, aufzugeben. Ich habe viel Liebe und Zuneigung erleben dürfen, auch meine Familie steht zu mir, ich bin gestrandet, aber nicht untergegangen.
Ich habe viele Privilegien genießen dürfen, gerade das Reisen. Das Reisen und die Begegnungen haben mich und mein Bewusstsein geformt. Ich möchte das nicht wegwerfen, auch wenn mir gerade oft die Hoffnung fehlt.

Ich blicke mit Sorge in die Zukunft. Die Biodiversität schwindet rapide, wir zerstören unsere Böden mit Giften und Nitrat aus der Massentierhaltung, viele Insektenarten und viele weitere Spezies drohen auszusterben. Monokulturen und Überdüngung zerstören die wertvolle Humusschicht, der Meeresspiegel steigt, das Trinkwasser wird knapp und führt zunehmend zu schweren Konflikten, ganze Regionen veröden, die grünen Lungen der Erde in Brasilien und Indonesien werden für Soja- und Palmölplantagen zerstört.
Der Finanzkapitalismus ist weiterhin übermächtig und zerstört jede Solidarität. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. In Bombay standen die Slums und die Wohntürme der Oberschicht nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Unser westlicher Lebensstil, dem längst global nachgeeifert wird, kann nur durch Ausbeutung aufrecht erhalten werden, wir leben in einer Zeit des Neokolonialismus.

Ich hatte auf meinen Reisen einige der Folgen unseres unstillbaren Energiehungers vor Augen gesehen: Die schmelzenden Gletscher im Himalaya, der ständig anwachsende globale Müllberg - unübersehbar in den indischen Städten und Flüssen -, die zunehmenden Klimaveränderungen: Dramatische Verschiebungen der Regensaison innerhalb weniger Jahre, die kaum noch auszuhaltende Hitze in Delhi, Wasserknappheit aufgrund von Versalzung und immer häufigeren Dürren. Ich hatte riesige Staudämme gesehen, die den Flüssen das Wasser entzogen und den Menschen ihre Lebensgrundlage. Das, was man in den letzten Jahren als „Flüchtlingsstrom“ bezeichnet hat, ist wohl leider nur ein Vorgeschmack auf das, was uns erwartet, wenn sich hunderte Millionen Menschen in Bewegung setzen sollten, weil ihr nacktes Überleben auf dem Spiel steht und die Ressourcen aufgrund unseres unstillbaren Konsumhungers dramatisch schwinden.

Die wichtigste Frage, die sich mir stellt: Werden wir unsere westlichen Gesellschaften langsam öffnen und echte Integration betreiben, um Menschen nach und nach aufzunehmen oder uns rein militärisch „verteidigen“ und den Tod unzähliger Menschen in Kauf nehmen. Die Toten im Mittelmeer machen im Moment wenig Hoffnung. Sie sollen alle Hoffenden abschrecken und sind eine Schande! Man kann keine Werte aufrechterhalten, indem man sie gleichzeitig aufgibt. Der Rechtsruck, den wir derzeit erleben, ist brandgefährlich. Dazu möchte ich mich demnächst nochmal explizit äußern.

Im ökologischen Landbau schien ich eine Möglichkeit gefunden zu haben, meinen Anteil zu einem Gesellschaftswandel beizutragen. Vor allem die Anzucht von Pflanzen aus nachbaufähigem Saatgut wurde mir besonders wichtig. Die Vielfalt an Gemüse und Obst musste um jeden Preis erhalten werden, die Pflanzen an ein sich schnell veränderndes Klima angepasst werden und nicht zuletzt das Monopol der großen Saatgutkonzerne verhindert werden, die nur auf Hybride (hier werden Inzestlinien im Labor gekreuzt, um besonders reich tragende Pflanzen zu erzeugen, die aber nicht nachbaufähig sind) setzen, um ihr Saatgut jedes Jahr neu verkaufen zu können, was zu Abhängigkeit und Einheitsbrei führt. Das wäre das faktische Ende für die Subsistenzwirtschaft, Kleinbauern und ökologische Gemeinschaften, die sich selbst versorgen wollen.

Gleichzeitig sehe ich viele Veränderungen und Bewegungen, an denen ich mich beteiligen möchte. Der Kampf gegen den Rechtsruck, der Einsatz für die Vielfalt von Natur und Kultur gleichermaßen, solidarische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle, etwa Lebensgemeinschaften, Genossenschaften oder Mietsyndikate, die dem Wucher auf dem Wohnungsmarkt etwas entgegensetzen, der Umbau der Landwirtschaft, der Kampf gegen den Klimawandel, der Einsatz für Flüchtlinge. Es gibt unendlich viel zu tun, um die Welt lebenswert zu erhalten.
Ich verzweifle oft daran, weil ich meinen Platz verloren habe und noch keinen neuen sehen kann und oft zu töricht bin, um zu begreifen, das ich nur ein kleines Rädchen innerhalb dieser Veränderung sein kann. Dann spüre ich wieder ganz deutlich, dass ich viele Brüder und Schwestern auf diesem Weg habe. Doch ich muss mich selbst erst wieder öffnen und wieder vertrauen lernen. Nur dann habe ich die Chance zufrieden und wirklich frei zu werden und im Einklang mit mir und meinen Idealen zu leben. Eine innere Heimat zu finden, die mich unabhängiger von Krisen macht. 
Ich muss die lähmenden Grübeleien hinter mir lassen, einen neuen Anfang finden, wieder in Bewegung kommen, die unvermeidliche Vergänglichkeit akzeptieren. Ich werde nicht alle Wunden heilen können. Doch Narben sind unvermeidlich, wenn man liebt und vertraut, und ich will sie wieder mit Stolz tragen und neue Lebensfreude und Hoffnung finden. 

Nach wie vor suche ich nach Menschen mit Empathie, Herzlichkeit, Humor und Gelassenheit, in deren Mitte ich Heimat oder einen Ankerplatz finden kann. Ich habe mir viele Projekte im Netz angesehen, noch fehlt mir die Energie, mir ein eigenes Bild zu machen. Ich muss auch zugeben, dass mir das Scheitern in der letzten Gemeinschaft noch in den Knochen steckt. Ich will aber unbedingt wieder Gleichgesinnte finden.

Mein Drang nach Erfahrung ist unverändert stark. Ich will noch mehr von der Welt, mir selbst und den Motiven und Lebensrealitäten meiner Mitmenschen verstehen. Ich kann den Ruf der Straße hören. Noch immer habe ich Sehnsucht nach dem Himalaya, dem subtropischen Südindien, den Menschen und Landschaften in Nepal, nach der Insel Lombok und dem geliebten Homestay, den Ruinen von Angkor oder Luang Prabang und den viertausend Inseln in Laos. Auch Marokko und die Berber haben einen besonderen Platz in meinem Herzen. Vielleicht muss ich noch einmal los, um mein Herz wieder mit neuem Leben, Neugier und Liebe zu füllen, um wieder innere Stärke zu finden.

Das sind sehr unterschiedliche Ziele, nach wie vor nur schwer unter einen Hut zu bringen. Ich mache mir nicht vor, eine Reise würde meine Probleme lösen, dann hätte ich nichts verstanden. Die Frage, wo ich hingehöre, bleibt davon weitgehend unangetastet. Ein radikaler Ortswechsel kann nur ein Anstoß sein, kann aber auch das Gefühl, verloren zu sein, massiv verstärken. Genauso schwierig ist es, eine passende Gemeinschaft zu finden. Gerade jetzt bräuchte ich vor allem einen Ort, um zur Ruhe zu kommen und neue Kraft zu entwickeln. Am wichtigsten ist aber, dass ich mich überhaupt wieder auf die Suche mache.

Unterwegs würden wir uns wieder treffen, wir, die Heilig-Verrückten, Sehnsüchtigen, Träumer, Romantiker, die innerlich Zerrissenen, die Freaks, die Suchenden. Das war mein Tribe. Nur wir gemeinsam würden uns selbst, einander und die Welt verwandeln und verändern können - oder mit ihr untergehen. 

Vielen Dank an Alle, die mit mir ein Stück gegangen sind, die mich nicht fallengelassen haben! 
Ich hoffe, ich kann bald wieder die Hand zu Euch ausstrecken. 

Konstruktive Kommentare, Ideen und Anregungen sind sehr willkommen.

Herzliche Grüße,

Oleander

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