Anreise:
Der Busbahnhof
von Jammu war ein abstoßender Ort. Überall lag Müll, die Fassaden und die
Straße waren völlig heruntergekommen und es roch erbärmlich. Ich hatte gerade
die Fahrt im Jeep eines Wahnsinnigen aus Kaschmir heraus überstanden. Am
Bahnhof traf ich auf zwei Israelis, die ebenfalls nach Dharamsala fahren wollten
und in wilden Verhandlungen versuchten, den Preis für das Busticket zu drücken.
Auch wenn ich solche Verhandlungen nicht leiden kann, war ich froh über ihre
Gesellschaft. Die krassen Erfahrungen mit den Betrügern in Kaschmir saßen mir
noch heftig in den Knochen und die Verunsicherung hatte mich nicht verlassen.
Ich werde nie
vergessen, welche Luft uns empfing, als wir durch die Industriegebiete Jammus
fuhren. Es war kein Zufall, dass viele Busreisende Atemmasken trugen. Die Luft
war schwarz und rußig, einatmen musste um jeden Preis vermieden werden. Die unzähligen
Fabriken hatten offensichtlich keine Filter und verströmten dicken Qualm, der
die Sonne verdunkelte. In meine Nase stiegen die abstoßenden Gerüche von
brennenden Plastikbergen und die Abgase der Busse, Autos und Trucks. In der
Kombination erzeugte das ein widerliches und lebensfeindliches Gemisch. Nach
der klaren Luft in den Bergen kam ich mir vor, als wäre ich in die Hölle
hinabgefahren.
Die versprochene Ankunftszeit
um zwei Uhr morgens war nichts als Wunschdenken. Nach einer Höllentour über
eine Piste voller Schlaglöcher, die mir mehrfach Kontakt mit der Decke des
Busses einbrachten, wurden wir um drei Uhr morgens vor den Pforten eines Regionalflughafens
abgesetzt. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns einen überteuerten Wagen
nach Dharamsala zu teilen. Um diese Zeit gibt es halt keine große Konkurrenz. Die
Israelis versuchten zwar wieder, zu verhandeln, aber ich verspürte keine übertriebene
Lust, die Nacht auf dem Bordstein zu verbringen.
Dharamsala erreichten
wir schließlich um vier. Wir begannen den Ort im faden Licht der wenigen
Laternen zu erkunden, konnten aber kein Gasthaus mit besetzter Rezeption finden.
So froren wir eine Stunde in dem dunklen Kabuff der örtlichen Bushaltestelle
vor uns hin. Endlich erspähte uns ein Hotelangestellter, der in den frühen Morgenstunden
auf der Suche nach gestrandeten Touristen war.
Nach der Ankunft
im Gasthaus war ich euphorisch und die Anspannung der letzten Woche fiel ein
wenig von mir ab. Seit meiner Ankunft hatte ich mich nur in Extremsituationen
bewegt.
Ich hörte Musik und wartete noch, bis die Sonne aufgegangen war, um einen Blick auf meine Umgebung zu werfen. Das eigentliche Dharamsala liegt weiter unten im Tal, der obere Teil, Mclodeonganj, ist in den Hang gebaut und von meinem Balkon hatte ich einen Blick auf die umliegenden Berge.
Ich hörte Musik und wartete noch, bis die Sonne aufgegangen war, um einen Blick auf meine Umgebung zu werfen. Das eigentliche Dharamsala liegt weiter unten im Tal, der obere Teil, Mclodeonganj, ist in den Hang gebaut und von meinem Balkon hatte ich einen Blick auf die umliegenden Berge.
Dharamsala / McLodeonganj:
In Mclodeonganj
lebt der Dalai Lama. Aus Tibet ist er über den Hauptkamm des Himalaja hierher
geflüchtet und hat von der indischen Regierung Asyl erhalten. Deshalb findet
sich hier die größte tibetische Gemeinschaft außerhalb von Tibet. Noch weiter
oben liegt Dharamkot, das ursprünglicher und dörflicher daherkommt und fast keine
Souvenirläden besitzt, dafür einen hohen Hippieanteil.
Leider hielt mein
positives Gefühl nicht lange an, das Erlebte wirkte zu stark nach.
Ich hatte mich
noch nie so fremd und alleine gefühlt wie in diesen ersten Wochen in Indien.
Bislang war ich recht abgeschirmt von der Armut, hier war ich nun endgültig mit
ihr konfrontiert. Dharamsala zog eine Menge armer Menschen an, die sich
erhofften, von den Touristen zu profitieren. Bettler zerrten an mir und folgten
mir längere Strecken, während sie mir ihr Elend klagten. Mir fiel vor allem
eines auf: Viele Frauen bettelten mit einem Säugling auf dem Arm und riefen
schon von Weitem, dass sie kein Geld wollten, sondern nur Milchpulver für ihr
Baby. Ersteht man jedoch das gewünschte Gut, so wird es umgehend wieder an den
Shop zurückverkauft. Ich will und kann das nicht bewerten, aber ein bisschen
verstört war ich allemal, als ich begriff, welche Masche dahintersteckte. Vor
allem, dass es sich in der Regel nicht um den eigenen Säugling handelt, sondern
dass viele Babys ausgeliehen werden, um Mitleid zu erzeugen. Freilich schmälert
das in keiner Weise die bestehende Armut.
Ansonsten
präsentierte sich der Ort als bunter Mix. Es gab unzählige Läden, die
wunderbare Kleinode, aber auch furchtbaren Kitsch im Angebot hatten. Daneben
prägten vereinzelte Tempel, Gasthäuser, Restaurants, Yogaschulen, Massagesalons
und Treckingagenturen den Ort. Die Angebote waren zumeist auf den spirituellen
Touristen und die Verehrung des Dalai Lamas zugeschnitten. Leider geht das in
meinen Augen oft zu weit. Schon lange ist die grundsätzlich zu unterstützende
»Free Tibet«-Kampagne zu einem echten Kassenschlager und einer eigenen Marke
mutiert. Und längst nicht alles Geld, das unter diesem Slogan verkauft wird,
kommt wirklich den Projekten und Hilfsangeboten der tibetischen Gemeinde
zugute. Trotz allem ist Dharamsala ein Mikrokosmos, den es so auf der Welt
sicher kein zweites Mal gibt.
Ich besuchte das
tibetische Museum. Trotz allem was man zu wissen meint, ist es sehr
bedrückend zu erfahren, wie systematisch die tibetische Kultur im Zuge
von Maos »Kulturrevolution« zerstört wurde. Ganze Klöster und Kultstätten wurden
dem Erdboden gleich gemacht, Aktivisten für die tibetische Sache gnadenlos
verfolgt, gefoltert und ermordet. Ich würde so gerne einmal Tibet bereisen – doch
ich fürchte, das heutige Bild würde mich sehr deprimieren.
In Dharamsala
schien sich jeder im Yogafieber zu befinden. Gerade das stieß mich ab. Wenn ich
das Gefühl bekomme, nur Esoteriker um mich herum zu haben, dann will ich selbst
keiner mehr sein. Auch der Dalai Lama war in McLodeonganj, was aufgrund der vielen
Reisen »seiner Heiligkeit« nicht selbstverständlich ist. Es bestand die
Möglichkeit, an seinen »teachings« teilzunehmen. Ich entschied mich jedoch
dagegen. Mir ging ziemlich auf die Nerven, dass fast alle Backpacker und
Touristen von nichts anderem als Yoga und diesen »teachings« sprachen. Das
erschien mir oberflächlich. Ich persönlich wusste noch immer viel zu wenig über
den Buddhismus, um mich ernsthaft mit ihm auseinanderzusetzen. Auch der
Charakter dieser »teachings«, zu denen über tausend Menschen strömen – die
meisten davon Touristen – stieß mir bitter auf. In meinen Augen muss das Ganze
zu einer Show verkommen, mochte der Dalai Lama noch so sehr er selbst sein. Ich
hätte gerne einmal seine Aura verspürt, aber in diesem Rahmen verzichtete ich
lieber darauf. Ein Mal sah ich, wie Touristen und Mönche eines dieser »teachings«
verließen. Während die Touristen tief in Gedanken versunken waren, verließen
die Mönche lachend den Ort. Scheinbar ließ sich die Botschaft des Dalai Lama
besser mit dem Herzen verstehen als mit dem Verstand.
Versteckt in den Gassen
stieß ich hingegen auf kleinere Klöster, die mehr Ursprünglichkeit ausstrahlten
und mir verdeutlichen, dass trotz allen Ausverkaufs die Spiritualität vieler
Mönche und ihrer Unterstützer ungebrochen ist.
Um mit dem Städtchen
warm zu werden, war mir jedoch zu viel los und den Kommerz um den Dalai Lama
fand ich unerträglich. So zog ich jeden Tag alleine los, um meinen Frieden in
den Bergen zu finden. Oftmals brach ich unvorbereitet auf, mit dem vagen Ziel,
den nächsten, vor mir aufragenden Berg zu erklimmen.
Als Verpflegung hatte ich nur ein paar Momos im Gepäck – geröstete oder gedünstete Teigtaschen, gefüllt mit Gemüse und garniert mit einer Chilisauce. Häufig unterschätzte ich die Aufstiege. Manchmal blieb mir nichts anderes übrig, als mich am Gestrüpp nach oben zu ziehen, wenn die Steigung zu groß wurde. Auf den Gipfeln traf ich häufig auf Schäfer, die hier mit ihren Hunden und Schafen weideten.
Eine weitere Spezialität von mir wurden Aufstiege im Dunklen, weil ich mich gerne überschätzte.
So schön solche Bilder sind, wer sie aufnimmt und kein Zelt danebensteht, macht eindeutig etwas falsch...
Noch gefährlicher war, wenn ich eine leichte Entrückung verspürte und unbekümmert von einem Felsen zum anderen sprang, so als könne ich gar nicht abstürzen. Ich bekam zwar mit der Zeit eine gewisse Sicherheit, aber ich musste mir immer wieder neu in Erinnerung rufen, dass ein kleiner Fehltritt schwerwiegende Folgen haben würde. Doch ich wagte mich immer wieder halsbrecherische Wege hinauf. Hier spürte ich mich.
Selten zuvor fühlte ich mich so eng mit der Natur verbunden. Ich kletterte bis zur Erschöpfung und weit darüber hinaus. Manchmal musste ich mich ganz auf meinen Tastsinn verlassen. Je weniger die Wege begangen waren und je weiter ich mich abseits der Zivilisation begab, desto wohler fühlte ich mich. Das Naturerleben erdete mich und meine Sinne schärften sich. Es tat mir ausgesprochen gut, so viel zu laufen.
Es dauerte jedoch immer einige Stunden, bis der fortwährende Strom meiner Gedanken allmählich verstummte oder zumindest abnahm und an ihre Stelle eine selten erlebte Klarheit trat. Nun benötigte ich meinen Geist dazu, die Konzentration aufrecht zu erhalten, um keine Fehler zu machen, die nahe am Abgrund zu fatalen Konsequenzen führen konnten. Ich fühlte mich lebendig wie selten in meinem Leben. Die umgebenden Geräusche, ein vorbeiziehender Vogel, die Berge um mich herum und der Pfad vor meinen Augen – das war alles was zählte. Im Hier und Jetzt zu sein, das gelang mir sonst nur selten und ich genoss diese Momente in vollen Zügen.
Als Verpflegung hatte ich nur ein paar Momos im Gepäck – geröstete oder gedünstete Teigtaschen, gefüllt mit Gemüse und garniert mit einer Chilisauce. Häufig unterschätzte ich die Aufstiege. Manchmal blieb mir nichts anderes übrig, als mich am Gestrüpp nach oben zu ziehen, wenn die Steigung zu groß wurde. Auf den Gipfeln traf ich häufig auf Schäfer, die hier mit ihren Hunden und Schafen weideten.
Eine weitere Spezialität von mir wurden Aufstiege im Dunklen, weil ich mich gerne überschätzte.
So schön solche Bilder sind, wer sie aufnimmt und kein Zelt danebensteht, macht eindeutig etwas falsch...
Noch gefährlicher war, wenn ich eine leichte Entrückung verspürte und unbekümmert von einem Felsen zum anderen sprang, so als könne ich gar nicht abstürzen. Ich bekam zwar mit der Zeit eine gewisse Sicherheit, aber ich musste mir immer wieder neu in Erinnerung rufen, dass ein kleiner Fehltritt schwerwiegende Folgen haben würde. Doch ich wagte mich immer wieder halsbrecherische Wege hinauf. Hier spürte ich mich.
Selten zuvor fühlte ich mich so eng mit der Natur verbunden. Ich kletterte bis zur Erschöpfung und weit darüber hinaus. Manchmal musste ich mich ganz auf meinen Tastsinn verlassen. Je weniger die Wege begangen waren und je weiter ich mich abseits der Zivilisation begab, desto wohler fühlte ich mich. Das Naturerleben erdete mich und meine Sinne schärften sich. Es tat mir ausgesprochen gut, so viel zu laufen.
Es dauerte jedoch immer einige Stunden, bis der fortwährende Strom meiner Gedanken allmählich verstummte oder zumindest abnahm und an ihre Stelle eine selten erlebte Klarheit trat. Nun benötigte ich meinen Geist dazu, die Konzentration aufrecht zu erhalten, um keine Fehler zu machen, die nahe am Abgrund zu fatalen Konsequenzen führen konnten. Ich fühlte mich lebendig wie selten in meinem Leben. Die umgebenden Geräusche, ein vorbeiziehender Vogel, die Berge um mich herum und der Pfad vor meinen Augen – das war alles was zählte. Im Hier und Jetzt zu sein, das gelang mir sonst nur selten und ich genoss diese Momente in vollen Zügen.
Auf meinen Streifzügen stieß ich auf kleinere Dörfer, die noch viel ursprünglicher der tibetischen Kultur folgen und von Ackerwirtschaft geprägt sind.
Doch Indien blieb
mir weiter sehr fremd. Ich vermisste Freunde und Familie. Aus der Ferne
erschien mir das Leben, das ich aufgegeben hatte, oft verlockend und ich hatte
viele Ideen, was ich dort anders machen würde. Denn eigentlich wünschte ich mir
in diesen Tagen nichts sehnlicher, als nach Hause zurückzukehren. Doch aufgeben
kam nicht in Frage, sonst hätte ich mich nur als Versager gefühlt. Ich war
schließlich aufgebrochen, um ein neues Kapitel aufzuschlagen und ein anderes
hinter mir zu lassen. Irgendwann musste der der Funken von der friedlichen
Umgebung auf mich überspringen!
Ich blieb
ein Einzelgänger. An diesem Punkt war ich ambivalent: Eigentlich wünschte ich
mir nichts sehnlicher, als endlich auf Gleichgesinnte zu treffen, mit denen ich
Erlebnisse und Reisewege teilen konnte; gleichzeitig war ich für Andere
verschlossen und tat alles, um meine Einsamkeit zu manifestieren.
Doch zwei
Begegnungen beeindruckten mich tief. Zunächst traf ich in den Bergen einen jungen Tibeter, wir kamen
ins Gespräch und teilten einen Teil des Weges. Wir unterhielten uns über die Zukunft
des tibetischen Volkes und der Welt. Er betonte, wie entscheidend
es sei, Gutes zu tun, um ebensolches zu erfahren. Karma. Sich selbst deswegen aber
nicht als »gut« oder gar »besser« anzusehen, sondern darüber Andere entscheiden
zu lassen. Ehrlich zu sein und nicht mit Fingern auf Andere zu zeigen, sondern
sie direkt auf ihre Fehler anzusprechen. So banal diese Weisheiten wirken
mochten, so gut tat es, sie so unschuldig ausgesprochen zu hören, von jemandem,
der offenbar genau das lebte. Mein Begleiter hatte seine Heimat verlassen
müssen, meinte jedoch, es sei völlig normal, mit dem Körper die Heimat zu
verlassen und trotzdem über die Seele mit den Ahnen in Verbindung zu bleiben. Seine
Ausgeglichenheit und seine Fröhlichkeit haben mich umso mehr beeindruckt, da er
nach dem Tod seiner Eltern seinen Weg alleine gehen musste und dies offenbar
voller Würde tat, ohne Zorn und Verbitterung.
Pinku und Siddartha:
An einem anderen
Tag wurde ich am Waldesrand von einem Sikh auf mein Athen-Shirt angesprochen,
das mir mein Bruder zu meinem Geburtstag geschenkt hatte. Ob ich wohl ein
griechischer Philosoph sei? Jedenfalls nahm ich seine Einladung an, mit ihm in
seine Teestube zu kommen. Er hieß Pinku und wir redeten uns schnell in Fahrt. Wir sprachen über seine und meine Welt und das hektische Leben in der westlichen Welt. Bald
erzählte ich ihm offen aus meinem Leben.
Wie üblich für
einen Sikh trug Pinku einen langen, in seinem Fall bereits ergrauten Bart, sein
Alter konnte ich schwer schätzen, er wirkte uralt und blutjung zugleich. Auffällig
und einladend waren seine Augen – voll wacher Intelligenz, aber auch Wärme, als
würde ein inneres Feuer in ihm brennen. Er strahlte eine Güte aus, die ich selten
erlebt habe und die ihn jugendlich erscheinen ließ. Da ich das starke Gefühl empfand,
ihm grenzenloses Vertrauen entgegen bringen zu können, erzählte ich ihm offen
über die Traurigkeit in meinem Herzen aufgrund der schrecklichen Dinge, die in
der Welt passieren. Ich schilderte ihm meine Probleme damit, immer über Gott
und die Missstände der Welt zu grübeln und daher nie zur Ruhe zu kommen und kaum
genießen zu können. Ich erzählte ihm Teile meiner Lebensgeschichte und von meiner
Suche nach Glück und Essenz, die mich nun zu ihm in die Teestube am Rande des
Waldes geführt hatte.
Pinku betonte,
wie wichtig es sei, mit dem Herzen und nicht so sehr mit dem Verstand zu
handeln und auf die innere Stimme zu hören. Er meinte, das Heimweh, das ich
verspürte, hinderte mich nur daran, meine Auszeit zu genießen und glücklich
wieder zurück zu kommen, was die Daheimgebliebenen viel glücklicher machen
würde, als wenn ich erschöpft und traurig heimkäme. Sein Anliegen war mir zu
vermitteln, dass all dieses Grübeln keinen Sinn hätte, gleichzeitig verstand er,
warum ich ein Buch über meine Erfahrungen schreiben wollte. Schließlich sollte das der Verarbeitung dienen und Andere
erreichen, die ähnlich trostlose Zeiten durchmachten. Er riet mir aber, mich
nicht zu sehr von dieser Arbeit bestimmen zu lassen, sondern mich immer wieder
auf positivere Dinge zu fokussieren, um nicht meine innere Kraft zu verlieren.
Anschließend erzählte
mir Pinku aus seinem Leben. Er stammte wie die meisten Sikhs aus dem Bundestaat
Punjab, war in begüterten Verhältnissen aufgewachsen, hatte lange Jura studiert
und schließlich als Anwalt gearbeitet. Später hatte er sich von der Welt
abgewandt und war Mönch geworden. Nach Jahren des inneren Rückzugs war ihm die
Liebe seines Lebens begegnet. So wandte er sich erneut der Welt zu, bis er
seine Liebe vor einem Jahr verloren hatte. Seitdem lebte Pinku – wie er sich
ausdrückte – in großer »Konfusion« und versuche sich selbst wieder zu finden. Mir
war besonders sympathisch, dass er kein perfekter Lehrer war, wie der Dalai
Lama oft erschien, sondern ein Mensch mit Fehlern, der sich dieser bewusst war
und sich nicht scheute, über sie zu sprechen. Er erzählte mir, wie wenig er von
den Einheimischen anerkannt wird und das es unmöglich für ihn sei, sich deren
Respekt zu
erwerben. Auch die heiligen Männer stehen außerhalb des Kastensystems und ihre Wahrnehmung schwankt zwischen Bewunderung und
Verachtung.
Was mich sehr fasziniert,
aber auch erschreckte, war, als er erzählte, dass
er seit über einem Jahr das Licht in seiner Hütte nicht mehr angemacht hatte. Weil er nichts sehen wollte und
die Dunkelheit um sich herum brauchte. Ich
kannte solche Phasen gut, in solchen Zeiten war es um den Seelenzustand nicht
gut bestellt. Doch trotz aller offensichtlichen Widrigkeiten besaß Pinku diese Fröhlichkeit, diesen Schalk in seinen
Augen und ein ausgeprägtes Interesse an anderen Menschen. Die Teestube
ermöglichte ihm eine äußerst bescheidene Existenz. Voller Freude und neuer
Kraft habe ich ihn an diesem Abend verlassen.
Parallel zu den
Begegnungen mit ihm las ich Siddhartha. Das Buch offenbarte mir viele spannende
Aspekte. Auch ich musste wohl eines Tages lernen, aufzuhören, die Welt aufgrund
der Ungerechtigkeit in ihr zu verachten, mir selbst und anderen zu verzeihen
und die Ambivalenz der Welt als Einheit und weniger als Gegensatz zu verstehen.
Meine moralischen Ansprüche waren vielleicht nicht falsch, aber wohl von kaum einem
Menschen zu erfüllen und auch ich scheiterte immer wieder selbst an ihnen. Besonders
angesprochen hat mich, dass Siddhartha in der Erzählung Buddha nicht nachfolgt
(in Hesses Erzählung sind Buddha und Siddhartha zwei verschiedene Personen),
obwohl er diesen als heiligen Mann wahrnimmt, weil er spürt, dass er nur
eigenständig Erleuchtung finde. Er kann Buddhas Weisheit nicht einfach
übernehmen. Nur die Wahrheit, die Siddhartha in sich selbst entdecken konnte,
erschien ihm wertvoll, lebendig und wirksam. Das entsprach sehr stark meinen eigenen
Vorstellungen, meinen eigenen Weg jenseits von vorgefertigten Glaubens- und
Moralvorstellungen zu finden. Mit Hesse teile ich auch das „Schicksal“ des
Pfarrerkindes. Die Überwindung des Leids als Weg der Erleuchtung konnte
vielleicht auch meinem Leben einen ganz anderen Sinn verleihen. Andererseits war
das vielleicht genau die Bürde, die ich überwinden musste. Schließlich versuchte
auch ich, das Kreuz der Welt zu tragen und konnte nicht anders, als daran zu
zerbrechen und zu scheitern. Spannend war für mich, wie es Siddhartha trotz massiver
Rückschläge gelingt, im Verlauf der Erzählung seine Perspektive auf die Welt zu
verändern:
„Das Ich war
es, von dem ich loskommen, das ich überwinden wollte. Ich konnte es aber nicht
überwinden, konnte es nur täuschen, konnte nur von ihm fliehen, mich nur vor
ihm verstecken. Wahrlich, kein Ding in der Welt hat so viel meine Gedanken
beschäftigt wie dieses meine Ich, dies Rätsel, dass ich lebe, dass ich einer
und von
allen anderen
getrennt und abgesondert bin…“
Am Ende der
Erzählung erlebt sich Siddhartha dann als Teil eines großen Ganzen, das uns
alle ausmacht und fühlt sich nicht mehr getrennt von den anderen Menschen und
der ihn umgebenden Natur. Alles ist beseelt von demselben Funken, der nichts
anderes ist als augenblickliche Existenz.
„… langsam
blühte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis, das Wissen darum, was
eigentlich Weisheit sei, was seines langen Suchens Ziel sei. Es war nichts als
eine Bereitschaft der Seele, eine Fähigkeit, eine geheime Kunst, jeden
Augenblick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit denken, die Einheit
fühlen und einatmen zu können. Langsam blühte das in ihm auf, strahlte ihm aus
Vasudevas altem Kindergesicht wider: Harmonie, Wissen um die ewige
Vollkommenheit der Welt,
Lächeln,
Einheit.
Hermann Hesse, Siddhartha.
Dies war die
Essenz, meinen Weg musste ich jedoch ähnlich wie Siddhartha selbst entdecken.
Erlebt hatte ich diesen Zustand schon einige Male, in der Regel jedoch mithilfe
psychoaktiver Substanzen. Dennoch wusste ich, dass es auch für mich einen Weg geben
musste; doch ich musste einen organischen Pfad finden, ihn zu beschreiten. Nur
dann würde ich in der Lage sein, dauerhaften Frieden zu erlangen.
Am letzten Tag
wollte ich mich von Pinku verabschieden, aber leider war sein Shop geschlossen.
Ich habe ihm einen Schwarzwälder Kirschkuchen mit einer persönlichen Nachricht
hinterlassen und dem Zusatz: „sugar for the whole month.“ Sollte
ich nochmal nach Dharamsala kommen, werde ich nah ihm suchen. Ich hatte den
Eindruck, dass er mich noch viel hätte lehren
können.
Das Buch "Siddhartha" von Hermann Hesse hat mich über mehrere Jahre beschäftigt. Doch erst mit dem Lesen eines anderen Buches, wurde mir bewusst, was wir Menschen eigentlich suchen. Wahren Frieden. Das Buch heißt "Der Tod eines Guru" von Rabindranath R. Maharaj.
AntwortenLöschenVielen Dank für Deine EMpfehlung. Da schau ich gerne rein. Liebe Grüße!
Löschenunglaublich interessant und spannend geschrieben :)
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