Das Buch „Atlas eines ängstlichen Mannes“ von Christoph Ransmayr gehört zu den interessantesten, die ich bisher lesen durfte. Viele Kapitel habe ich laut gelesen, weil sie sprachlich von einer solchen Präzision und Poesie sind, dass ich keine seiner sprachlichen Finessen verpassen wollte. Christoph Ransmayr besitzt die seltene Fähigkeit seine Texte so sehr zu einem Kern zu verdichten. Das verleiht den Erzählungen eine unheimliche Lebendigkeit. Während der Recherche las ich, dass Ransmayr seine Geschichten so nah wie möglich an die gesprochene Erzählung heranführen will – das ist ihm uneingeschränkt gelungen.
Einleitend ein Zitat aus seinem ersten Buch von
1984 „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ – eine der Erzählungen
berichtet vom Schauplatz des Buches:
„Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß.
Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, dass
er schließlich in ihr verschwand.“
„Der Atlas eines ängstlichen Mannes“ vereint 70
zumeist sehr kurze Erzählungen aus fast 50 Jahren miteinander. Jede ist in sich
schlüssig und es gibt keinen roten Faden, der die einzelnen Erzählungen mit
einem chronologischen Rahmen verbindet und sie bauen auch nicht aufeinander auf.
Was sie jedoch verbindet, ist die radikale Einnahme einer Beobachterposition – alle
seine Erzählungen beginnen mit der Einleitung „ich sah“. Diese beobachtende
Warte - von der aus Ransmayr seine Impressionen gewinnt, ist die Besonderheit
dieses Buches. Als ausgezeichneter Beobachter rückt er die Menschen, Tiere oder
Natur in den Fokus. Dabei gibt er seine eigene Haltung nie preis – sie
schimmert allenfalls zwischen den Zeilen durch und lässt sich erahnen. Dadurch
überlässt er die Einordung vollständig dem Leser. Er bewertet nicht moralisch
und lässt keine Eitelkeiten zu. Mit diskreten und respektvollen Beobachtungen
fängt er mit größter Aufmerksamkeit die Zwischentöne des Lebens ein. Er ist
Zeuge, hört aufmerksam zu und notiert seine Eindrücke, um sie später zu
verdichten. Eigene Befindlichkeiten spielen keine Rolle. Dadurch gewinnen die
behandelten Themen eine unglaubliche Kraft – er erzählt von allen Aspekten des
Lebens: vom Streben und Scheitern, von prallem Leben und Sterblichkeit, Mut und
Angst, Gesundheit und Krankheit, von Sehnsucht, Liebe und Einsamkeit, Macht,
Gier, Glaube, Zerstörung und Erneuerung - allen Aspekten, die zusammen genommen
das Lebens ausmachen.
Seine Erzählungen führen über den ganzen Globus – er
erzählt von Begebenheiten in seiner Heimat, Mythen aus dem alten Griechenland,
den Osterinseln oder Erfahrungen im ewigen Eis. Jedem Kontinent sind Erzählungen
gewidmet – zusammen genommen sind sie ein Abbild der Welt – ein Atlas. Gleichzeitig
bewegt er sich in allen sozialen Schichten – kulturelle Begegnung scheint ihm
etwas Selbstverständliches – und nichts Bedrohliches.
Alle Erzählungen zusammen genommen bieten in der
Vielfalt seiner Beobachtungen einen Blick auf den Kosmos. Gerne unternimmt er
Ausflüge in die Astronomie und schafft dabei selbst etwas Mythisches. Die
Geschichten wirken durch seine Ausflüge in verschiedene Epochen der Menschheit zeitlos.
Sie wirken wie Parabeln, die in Variationen immer wieder vom Leben erzählen.
Ransmayr bewegt sich nicht auf ausgetretenen
Pfaden – er sucht immer nach seinen eigenen – auch diese Herangehensweise macht
seine Erfahrungen einzigartig und nicht wiederholbar.
Besonders schön sind seine zwei Berichte von den
Osterinseln, eine berichtet davon, wie Zivilisationen entstehen und
verschwinden. Ausführlich berichtet er auch von den Nachfahren eines der
Meuterer von der Bounty; aber neben
den ungewöhnlichen Orten, die er bereist, sind es gerade die kleinen
Beobachtungen aus dem Alltag, in denen sich seine ganze poetische Kraft zeigt.
In einer Geschichte berichtet er von einem
Erlebnis im Himalaya und erzählt davon, dass er gefunden hat, was er seit
seiner Kindheit wiederfinden wollte. Nur aus dem Gesamtwerk kann man erahnen,
was er damit meinen könnte. An einzelnen Stellen des Buches erzählt er von sehr
persönlichen Erfahrungen – dem Tod seines Vaters oder aus seiner Kindheit – mit
der gleichen Distanziertheit wie bei allen anderen Geschichten. Das ist
konsequent, ordnet sie in den Kontext des gesamten Lebens ein.
Das Motiv der Suche nach der eigenen Herkunft ist
ein zentrales Thema seines Buches. So versteh ich auch seine Sehnsucht nach dem
Reisen und der Begegnung mit dem Fremden. Kapuściński schreibt zu diesem Thema:
„Und man muss sie kennen lernen, denn die anderen
Welten, die anderen Kulturen sind wie Spiegel, in denen wir uns selber besser
kennen lernen, denn es ist unmöglich, die eigene Identität zu bestimmen, solange
wir sie nicht mit anderen konfrontiert haben.“
Ryszard Kapuściński – meine Reisen mit Herodot
Wohin Ransmayr auch seinen Blick richtet – er ist immer
interessiert an existentiellen Erfahrungen und einer Essenz, die ihm seine
eigene Existenz erklären kann. Nicht umsonst richtet sich sein Blick zu den
Sternen – er orientiert sich am Kosmos und den Grenzen des irdischen Lebens.
Ransmayr verzichtet komplett auf eigene
Photographien und eine Auflistung der vielen Reisen, die zu diesem Werk geführt
haben. Doch eines gelingt ihm ganz gewiss: dem Leser eindrückliche Bilder von
dem zu vermitteln, was auch Ransmayr auf seinen Reisen erfahren hat.
An manchen Stellen hätte ich mir durchaus ein
wenig mehr Einblick in das Denken Ransmayrs gewünscht, doch letztlich macht der
Verzicht darauf die ganz besondere Wirkung seines Buches aus. Manchmal wollte
ich ihm zurufen: handle! Misch Dich ein! Folgt man aber seiner Philosophie, die
sich aus dem Gesamtwerk ergibt – versteht man sein Nichthandeln und den Fokus
auf seine größte Stärke: zuschauen und zuhören.
Ich bin ein großer Freund von persönlich gefärbten
Berichten, doch dieses Buch funktioniert anders. Und diese Bandbreite macht
schließlich die Kraft der Literatur aus. Bisweilen ist ein Atlas dennoch
hilfreich, um seine Reisen nachzuvollziehen.
Alles in allem ein wundervolles Buch, das ich nur
wärmstens ans Herz legen kann!
Weiterführende Informationen:
Lese- und Hörprobe sowie sein Interview finden sich auf Homepage von Christoph Ransmayr.
Druckfrisch - Rezension und Interview mit Christoph Ransmeyr
hier findet sich auch eine weitere Leseprobe.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen