Samstag, 23. Mai 2015

Reisereportage: Durch den Wilden Saghro - Begegnung mit dem Tod



Ich wusste, dass die Wanderung durch den Jebel Saghro meine vorerst letzte Gelegenheit sein würde, um existentielle Erfahrungen in den Bergen zu sammeln und ich wollte sie voll ausreizen. Doch ich hatte keinen blassen Schimmer davon, wie weit mich das bevorstehende Abenteuer über alle Grenzen hinausführen würde. 

Als ich nach meiner Rückkehr die Schriftstücke fand, die ich vor meinem Aufbruch verfasst hatte, überkam mich Gänsehaut; wie ein Fremder blickte ich auf meine Notizen, las die Passage, in der ich in der dritten Person über mich und mein bevorstehendes Abenteuer sprach  und fragte mich, was Freunde und Familie auf Grundlage dieser Überreste auf mein verlorenes Lebens geschlossen hätten.

Warum hatte ich es wieder so weit getrieben? Das ist die entscheidende Frage.

Doch zurück zum Anfang: Schon auf dem Weg zur Herberge in der Dades-Schlucht, die bald zu meiner Heimat werden sollte, hatte ich zum ersten Mal von der Wanderung gelesen und Blut geleckt. Dennoch dauerte es lange Zeit bis meine Pläne Form annahmen. Zeitweise schienen sie fast zu einem running gag verkommen zu sein. Tief im Innern jedoch hatte ich keinen Zweifel, dass ich mich aufmachen würde, wenn die Zeit reif war. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Zurück. Einmal verschob ich die Wanderung aufgrund von Schneefall, dann wollte ich lieber das Glück genießen, wieder einmal einen solchen Heimat- und Sehnsuchtsort gefunden zu haben, an dem ich mir mein Leben vorstellen konnte. Hier schien sich ein großer Kreis zu schließen. Ausgedehnte Reisen hatten die letzten sechs Jahre bestimmt und ich war weit gekommen. Nur diese Erfahrungen ermöglichten es mir, mich in die zuvor völlig fremde Kultur der Berber einzufühlen und die Grenzerfahrungen im Himalaja gaben mir das Selbstbewusstsein, um alleine in die fremde und zugleich vertraute Bergwelt zu gehen. Außerdem lag das vorläufige Ende meines Nomadenlebens in greifbarer Nähe; das erste Mal auf meinen Reisen wusste ich, was mich nach der Rückkehr erwarten würde: die Sesshaftigkeit in einer solidarischen Hofgemeinschaft.
 

der Höhlenmensch

Eine erste Wanderung lag bereits einige Wochen zurück und hatte mich wider Erwarten an meine Grenzen herangeführt. Die von meinem Freund Mohammed als lockere 2-Tages-Wanderung beschriebene Route, die auch an einem Tag zu schaffen sei, stellte sich als Abenteuer heraus, das mit 25 Kilogramm auf dem Rücken, ohne Karte zur Orientierungshilfe und ohne Reittier kaum unter drei Tagen zu bewältigen war; ich brauchte schließlich vier.


Ich schlief die ersten zwei Tagen in Höhlen, zweifelte immer wieder an der eingeschlagen Route, litt Durst und erlebte wieder einmal eine Fremde, die mich manchmal überforderte und überwältigte und dann wieder tief im Innern anrührte und mir näher schien als Alles, was ich einst gekannt hatte. Mir begegneten Nomaden mit kristallblauen Augen; es schmerzte fast in ihre Reinheit zu blicken. Wenn mir ein einsamer Reiter auf einem Esel begegnete, fühlte ich mich in biblische Zeiten versetzt. Es war eine archaische, übermächtige Landschaft, abseits der fruchtbaren Flusstäler lag eine Steinwüste, die ihren Bewohnern alles abverlangte. Auch wenn die Sahara selbst noch einige hundert Kilometer südlich lag – auch hier war ödes Land. Ich war auf mich selbst zurückgeworfen und wuchs auf der Wanderung über mich hinaus. Zum ersten Mal in meinem Leben übernachtete ich in Höhlen und es war ein eindrucksvolles Erlebnis, im Kerzenschein auf dem Gaskocher Speisen zuzubereiten. 


Die zweite Höhle war nur über einen abschüssigen Grat zu erreichen und es war eine Herausforderung beim Holz und Wasser holen unbeschadet zu bleiben. Nie zuvor nahm ich in so einer Klarheit wahr, wie die Nacht auch ohne Lichtverschmutzung im Mondschein niemals ganz dunkel wurde. Es war wie eine Zeitreise. Die dritte Nacht schlief ich bei einem Dorfvorsteher, der mich bei sich aufnahm und bewirtete. Die touristische Infrastruktur war von diesem Dorf nicht allzu fern und doch Lichtjahre entfernt. 


Spätestens diese Wanderung änderte auch endgültig die Wahrnehmung meiner Person - grundsätzlicher konnte ich mich kaum von anderen Touristen unterscheiden, die Komfort und Entspannung suchten und in Windeseile die touristischen Sehenswürdigkeiten abklapperten. Sie taten alle das Gleiche: In Ouarzazate eine Tour buchen und dann die Dünen bei Merzouga sowie die Todra- und Dadesschlucht besuchen und zurück an den Ausgangsort. Von ihnen trennten mich seit langem Welten; ich war ein aus der Zeit gefallenes Fossil, ein Anachronismus, auf der Suche nach dem einfachen, guten Leben. Inzwischen hatte ich mir einen kleinen Basisschatz an Taschelheit-Kenntnissen (einer der Berberdialekte) zugelegt. Das reichte zwar nicht im Ansatz für eine richtige Konversation, stieß mir aber immer wieder Türen auf. Meine eifrigen Bemühungen mich der Berberkultur anzunähern wurden sehr geschätzt. Auch wenn es anmaßend klingen muss - ich fühlte mich bald im Herzen als Berber. Ihre Ideale von Freiheit, Gemeinschaft, Familie und der Verbundenheit mit der Erde und ihr Widerstand gegen unzählige Invasoren imponierten mir sehr. Schon lange trug ich den Dschellaba (den Kapuzenmantel der Berber) mit großer Selbstverständlichkeit. Nun wollte ich einen Schritt weitergehen und in die halbnomadische Welt des Saghro vordringen.
  
Ich war entschlossen, endlich aufzubrechen; so ließen mich die Warnungen meiner Freunde Ibrahim und Mohammed kalt. Sie hatten am Morgen meines Aufbruchs die Ankündigung von schwerem Schneefall im Saghro gehört und empfahlen mir, meine Wanderung noch einmal zu verschieben. Doch ich musste jetzt los, ich war fokussiert und wenn es zwei Tage schneien sollte, dann würde ich das Ende eben in den Bergen abwarten. Aber ich hatte die Rechnung ohne meinen Stolz gemacht.
Zunächst machte ich mich auf den Weg nach Tagdilt, direkt am Fuße der Bergkette. Mit einem Fahrer hätte ich anderthalb Stunden dorthin gebraucht. Ich war jedoch immer wie die Einheimischen unterwegs: Ich bestieg eines der Sammeltaxis, die unregelmäßig durch die Dades-Schlucht fahren, wartete stundenlang in Boumale-Dades, bis der nächste klapprige Mercedesbus sich so weit gefüllt hatte, dass sich die Fahrt für den Fahrer lohnte. Dann fuhren wir auf einen Gemüsemarkt, wo sich die Passagiere mit dem Nötigsten eindeckten - die Sammeltaxis sind für viele die einzige Möglichkeit, um Waren nach Hause zu bringen. So dauerte es den halben Tag, um Tagdilt zu erreichen. Dort stieg ich in einer Gite, einer einfachen Herberge unter. Das Wetter war prächtig und es schien mir schwer vorstellbar, dass es bald schneien sollte. Über dem Hohen Atlas hatten sich schwere Wolken gebildet. Doch zwischen ihm und der Bergkette des Saghro liegt eine 30-40 Kilometer weite Ebene.


Im Schneesturm

Am nächsten Tag wusste ich, dass die Prognosen nicht aus der Luft gegriffen waren. Als ich erwachte, lag bereits eine Schneeschicht auf dem Boden, der Himmel hatte seine Pforten geöffnet und ließ schwere Schneeflocken auf die Erde rieseln. Wind war aufgekommen und es war diesig. Die Kinder des Hauses lieferten sich eine Schneeballschlacht und ich war ein wenig unschlüssig, was ich tun sollte. Der älteste Sohn des Besitzers wiederholte in einem fort, wie kalt es sei und dass ich doch nicht ernsthaft losgehen könne. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, wer wohl hier der Berber sei. Bald beschloss ich das nervige Gejammer hinter mir zu lassen und weiterzuziehen. Zumindest die einige Stunden entfernte Ortschaft  Imi n'Ouarg wollte ich erreichen. So stapfte ich mit den 30 Kilogramm auf dem Rücken los. 


Bald war aus dem Wind  ein heftiger Sturm geworden und es schneite sich immer weiter ein. Der Rucksack war viel zu schwer, der Dschellaba wurde immer feuchter und die Sicht verringerte sich zeitweise auf wenige Meter. Aber ich war wildentschlossen, weiterzugehen. Ich passierte ein kleineres Dorf; Kinder hängten sich an meine Fersen. Am liebsten hätte ich bereits jetzt eine Pause gemacht und mich irgendwo aufgewärmt. Doch ich verbat es mir; Ich musste meinen Rhythmus finden. 
Von der Landschaft war wenig zu erkennen. Die Felder und Gärten waren kaum zu erahnen und manchmal waren es nur die Berge in unmittelbarer Nähe, die mir ein vages Gefühl davon vermittelten, wo ich mich befand. Ein Transporter passierte mich und der Fahrer bot mir an, mitzufahren. Doch ich wollte keine Hilfe annehmen - dies war ein Einzelkämpferding.
Es hörte nicht auf zu schneien und zu stürmen. Die Weiler, die ich passierte, wirkten wie ausgestorben, dann traf ich wieder zwei junge Burschen, die mich ein Stück begleiteten.  Schließlich erreichte ich entkräftet  Imi n'Ouarg. Ich war kaum mehr als vier Stunden unterwegs gewesen, aber die Nässe, der Sturm und der Schnee hatten mir zugesetzt, von dem Gewicht auf dem Rücken ganz zu schweigen. Eigentlich führte ich für die Wanderung zu viel Gepäck bei mir, aber ich hatte gehofft, wie auf der letzten Wanderung ein oder zwei Mal in Höhlen übernachten zu können. 
Als ich den Weiler erreichte, wollte ich nur noch unter ein trockenes Dach und hatte meinen Rucksack gerade für einen Moment an der Tür zur Moschee abgesetzt, als ich vor dem benachbarten Haus den Mann erkannte, der mir unterwegs die Mitfahrt angeboten hatte. Ohne zu zögern lud er mich in sein Haus ein. Dankbar betrat ich einen kleinen, offenen Innenhof, in dessen Mitte sich bereits ein beachtlicher Schneeberg angesammelt hatte und wurde einer jungen Araberin vorgestellt. Bald stellte sich heraus, dass mein Gastgeber Youssef einige der Lehrerinnen der Dorfschule bei sich wohnen ließ. Sie stammten aus Städten am Rande des Hohen Atlas. Während sie mir ihre Pantoffeln auslieh, führte mich Youssef in einen Lagerraum und begann mir ein Nachtlager herzurichten. Ich war gerührt von seiner Gastfreundschaft und meine Dankbarkeit wuchs mit jeder Geste. Er versorgte mich mit Essen und einem kleinen Gasofen, für den er zweimal eine neue Gasflasche kaufte. Zunächst war er ein wenig enttäuscht über meine nicht vorhandenen Französisch-Kenntnisse. Umso erfreuter war er über meine Bemühungen etwas Taschelheit zu lernen und meinem Interesse für die Berberkultur. In Windeseile schloss er mich in sein Herz und war wie ein Vater zu mir. Seinem Bruder gehörte der benachbarte Dorfladen. 
Da es in dem Dorf kein reguläres Gasthaus gab, gab ich eine sonderbare Erscheinung ab. Überhaupt stellte sich die Frage was ein einsamer Wanderer bei diesen Bedingungen überhaupt hier machte. Mit Fatima, einer weiteren Lehrerin, unterhielt ich mich in einer wilden Melange aus Englisch, ein paar Brocken Französisch und Taschelheit über den Islam und wir waren uns trotz unterschiedlicher Vorstellungen vom Leben einig, dass nur in religiöser Koexistenz Zukunft für unsere Erde lag. Ihre fast naive Reinheit rührte mich an.
Am Abend saß ich vor dem Gasofen. Draußen wehten die Stürme durch den Saghro, der Schneefall hatte nicht nachgelassen, aus einem Nachbarzimmer erklang das fröhliche Glockenlachen der Lehrerinnen. Ich schlief gut. Am nächsten Tag verwickelten mich die Dorfkinder und Lehrerinnen in eine Schneeballschlecht. Es war eine unverfälschte Erfahrung ganz nach meinem Geschmack. Vielleicht würde mir die Vollendung meiner Wanderung verwehrt bleiben, aber alleine diese Tage waren den Aufbruch wert gewesen.

Nach der zweiten Übernachtung im Haus von Youssef hatte es aufgehört zu schneien und zu stürmen. Die klare Sicht auf die Umgebung war atemberaubend.






Ich wollte weiter. Zumindest nach Ishu Hassein; dort würde ich weitersehen, ob der dahinterliegende Pass passierbar wäre. Inzwischen lag über ein halber Meter Schnee; überall dort, wo sich Schneeverwehungen aufgetürmt hatten, war er noch deutlich tiefer. 

 
Youssef schippte gerade sein Dach frei und war keineswegs begeistert über mein Ansinnen, weiterzugehen. Schließlich begleitete er mich mit seinem Sohn und einigen Kindern aus dem Dorf noch ein Stück auf meinem Weg und half mir, einen Weg zu spuren.

  
Dann war ich wieder allein und kämpfte mich durch den Schnee. 


Einmal machte ich bei einer halbnomadischen Familie halt und wurde in einem dunklen, höhlenartigen Raum mit Tee, Olivenöl und Brot verköstigt. Kurze Zeit später erreichte ich Ishu Hassein, wo mich eine kleine Herberge mit grandiosem Blick erwartete. 


Der Weiler wird von gerade mal zwei Familien bewohnt. Hassein war einer der wenigen Menschen, denen ich auf meiner Wanderung begegnete, die ein passables Englisch sprachen. Er versorgte mich mit einem kleinen Chimini (ein kleiner Holzkohleofen) und leistete mir Gesellschaft. Ich machte mir Sorgen, mich mit dem Anstieg zum folgenden Pass zu übernehmen und frage ihn nach seiner Einschätzung. Es sei „difficult, but not impossible“. Das musste genügen.
In der Nacht ging ich immer wieder nach draußen, um den Himmel zu betrachten. Ich war vollkommen dem Moment ergeben, ergriffen von den Elementen. Selten war ich ihnen so nah. Über mir blitzten die Sterne in all ihrer Pracht um die Wette. Hundegebell drang aus der Ferne zu mir und das Echo hallte im Tal wieder.  Ich war glücklich.


Der Grenzgänger

Am nächsten Morgen zog ich weiter. Noch einmal mache ich kurz bei einer Nomadenfamilie halt. Es war die letzte Behausung vor dem Pass. Wir tauschten Tee, Brot und Zigaretten, im Halbdunkel lag ein schwer behindertes Kind, das vollständig auf die Fürsorge seiner Eltern angewiesen war. Die Mutter buk auf einfachste Weise Brotfladen.
Sie hatten noch ein weiteres Kind. Es fiel mir unendlich schwer mir vorzustellen, wie sie dieses Leben meistern. Die Elemente verlangten ihnen alles ab. Im Sommer herrschen im Saghro oft über 50 Grad, es wimmelt von Skorpionen und Kobras und wie widrig die Verhältnisse im Winter sein können, erlebte ich gerade selbst. Da stieß die romantische Vorstellung von einem Leben inmitten der Berge an ihre Grenzen.


Ich brach wieder auf. Nach drei Schritten sank ich das ersten Mal im Tiefschnee ein und fiel um. Mühsam rappelte ich mich wieder auf. Spätestens jetzt war mir klar, dass ich unter diesen Bedingungen auf keinen Fall weiterlaufen sollte, doch ein Umkehren war in meinem Kopf nicht vorgesehen.  Also weiter, immer weiter, ohne Rücksicht auf Verluste.




Längst betrachte ich mein Abenteuer aus einem Tunnelblick heraus, ohne den ich keine meiner Wanderungen überstanden hätte. Das eingeschränkte Blickfeld durch die Kapuze verstärkte dieses Gefühl noch. 


In der gleißenden Bergsonne war es unglaublich heiß, aber für den schweren Kapuzenmantel aus Schafswolle war kein Platz in meinem Rucksack. Ich schwitze wie ein Schwein. Mühsam schleppte ich mich weiter und befand mich bald im Aufstieg zum Tizi N`uarg. Es kostete unglaublich viel Kraft, um mich im Tiefschnee nach oben zu arbeiten. Bereits bei Erreichen des Passes fühlte ich mich völlig entkräftet. Der Blick zurück:




Doch ich glaubte, das Schlimmste hinter mich gebracht zu haben. Ich ging noch ein wenig über den Pass hinaus weiter und genoss den Blick auf die betörende Schnee- und Berglandschaft. Vor mir lag ein Tal ausgebreitet, das sich in zwei Richtungen teilte. 


Im Tal machte ich einige Steinbehausungen von Nomaden aus; sie waren verlassen. Ich wusste, dass meine Route unmittelbar vor dem Pass nach links weiterführte und dort verliefen auch Spuren im Schnee. Das irritierte mich jedoch auch ein wenig, denn Hassein hatte gesagt, keiner sei in den Bergen unterwegs. 
Ich hatte vermutet, das steilste Stück bereits hinter mich gebracht zu haben und war daher überrascht, dass nach einer relativ flachen Passage ein weiteres Steilstück wartete. Hier war der Schnee bereits bis zu einen Meter tief. Wir reden spätestens jetzt von Extremsport und ich schwankte zwischen leichter Hysterie ob meines verrückten Unternehmens, mich hier hochzustemmen und einem unbändigen Stolz, dass ich mal wieder dabei war, Grenzen einzureißen. Nicht zuletzt musste ich über mich selbst lachen, mich wieder in so einer Extremsituation wiederzufinden, bei der jeder Vernünftige Mensch die Notbremse ziehen würde. Mein Wasser war inzwischen aufgebraucht. Um nicht völlig zu dehydrieren, hatte ich begonnen, Schnee zu essen. 
Es war ein Himmelfahrtskommando. Alle Kraft und Konzentration waren nach vorne gerichtet. Jeder Schritt war eine Qual, doch ich wusste genau, dass mich auch auf den anderen extremen Wanderungen nicht die Kondition, sondern mein unbändiger Wille ans Ziel gebracht hatte. Wieder einmal hatte der risikobereite Draufgänger in mir den Vorsichtigen meilenweit abgehängt. Dem Herrn Alles-oder-Nichts ging es darum, intensiv und wahrhaftig zu leben und alles auszumerzen, was in mir unlebendig ist. Doch diese scheinbar nur negativen Seiten in mir hatten in meinem Leben eine wichtige Funktion gehabt: Selbstschutz. Sie mussten entstehen, als ich verraten und verachtet war. Diese Seite sucht nach Heimat, zumindest nach einem Hafen. Mir ging es in meinem Leben immer nur gut, wenn ich einen Ausgleich zwischen den Ich-Anteilen fand. Beide haben ihre Berechtigung und Notwendigkeit. Doch wieder einmal ignorierte ich den schwachen Anteil und versuchte den Schatten der Vergangenheit abzuschütteln. Ich wollte mich spüren, mich meines Selbstwerts versichern. Die Abenteuerlust war zu einem wichtigen Teil meiner Identität geworden. Wer hier hoch kam, der konnte alles schaffen.
 
Ich hörte Rufe aus dem Tal, dem ich gerade entstieg, interpretierte sie als Warnung, auf dem falschen Weg unterwegs zu sein und die grenzenlose Erschöpfung löste Verwirrung aus. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Weg immer weiter nach oben führen konnte. Ich begann zu zweifeln. Folgte ich wirklich dem richtigen Weg oder war ich längst auf einer aberwitzigen Route, die mich in die Irre führte? Hätte ich vielleicht doch in Richtung der Nomadenbehausungen gehen sollen? Mir ging die Zeit aus, die Situation spitzte sich zu und ich musste zusehen, dass ich einen geeigneten Ort für eine Übernachtung fand.

In Wahrheit war ich vom höchsten Punkt meiner Route vielleicht noch eine dreiviertel Stunde entfernt. Ich müsste nur noch zwei oder drei letzte Kuppen bezwingen und befände mich dann im langen Abstieg nach Igli. Doch in dieser völlig unübersichtlichen Berg-und Schneelandschaft war Orientierung fast unmöglich. In meiner Verunsicherung traf ich die fatale Entscheidung, in ein Seitental hinabzusteigen, um wieder auf die Route zu stoßen, die ich von der Passhöhe aus hatte erahnen können. Das war eigentlich völliger Wahnsinn, eine völlig unwahrscheinliche Annahme und nur aus der Situation heraus verständlich.



Die Todesfalle

Um es mir ein wenig einfacher zu machen, beschloss ich seitlich über die Felsen in das Tal hinabzusteigen. Über den Fels zu klettern war deutlich angenehmer. Dazwischen war der Schnee verboten tief. Als ich das Tal erreichte, erlebte ich eine böse Überraschung: Unter dem Schnee hatte sich ein unterirdischer Fluss gebildet und mir blieb nur, den Fluss immer wieder zu kreuzen auf der Suche nach Passagen, in denen ich nicht zu tief versank. Die Nässe spielte keine Rolle; meine Schuhe waren ohnehin schon seit dem Morgen durchnässt. Ich überlegte noch kurz, doch wieder zu den Fußspuren zurückzukehren, aber ich hatte kaum noch Kraft. Es fiel mir immer schwerer, vernünftige Gedanken zu entwickeln. Mir war bewusst, dass mir vor dem Einbruch der Dunkelheit nicht mehr viel Zeit bleiben würde und begann nach einer Höhle Ausschau zu halten – vergeblich. Dann verengte sich das Tal. Ein kleiner Wasserfall verhinderte ein Weiterkommen. 
Ich kletterte auf den linken Grat, stand aber bald vor einem Abrgund. Auch ein weiteres Aufsteigen schien mir unmöglich; von diesem Aussichtspunkt aus entschied ich mich, auf die rechten Flanke hinaufzuklettern, um das Nadelöhr zu umgehen. Doch ich schaffte es nicht mehr, ich war zu entkräftet, der Aufstieg zu steil und kraftraubend, der Fels gab kaum Halt oder war von Schnee bedeckt. Da realisierte ich, dass ich von meiner Position aus den kleinen Wasserfall umgehen konnte, indem ich mit dem Schnee wieder zur Talsohle hinunter rutschte. Ich sah ohnehin keine anderen Optionen mehr.
Umso größer war mein Entsetzen, als mir das ganze Ausmaß meiner Entscheidung klar wurde: ich hatte mich in eine Todesfalle begeben. Das Tal hatte sich an dieser Stelle auf wenige Meter verengt, in der Mitte hatte sich ein kleiner See gebildet und der Schnee links und rechts davon war abschüssig und gerade dabei, sich in Wasser zu verwandeln. Rechts und links über mir ragte nur schroffer, steiler Fels auf.
Zunächst versuchte ich die Wasseransammlung am Rande zu umgehen. Nach wenigen Schritten versank ich vollständig im Schnee, aus dem ich mich lange nicht mehr befreien konnte. Nun hatte ich Todesangst. Nur mit den Irrsinnskräften der Verzweiflung gelang es mir noch einmal, mich seitlich aus dem Loch herauszurollen. So kam ich nicht weiter. Hysterie und ein lautloses, verzweifeltes Schluchzen überkam mich. Die einzig verbliebene Option erschien nun das Durchqueren der Wasseransammlung; doch als ich bereits am Rande bis zu den Hüften einsank, musste ich auch dieses Vorhaben aufgeben. Als ich im eisigen Wasser stand, war ich mir sicher, dass mein Leben nun enden würde. Alea iacta est! Die Würfel waren gefallen. So würde ich also enden. Nackte Panik erfüllte mich; Gedankenfetzen rasten durch meinen Kopf: du gehst kaputt wiederholte eine Stimme in mir stupide. Ich dachte daran, welche schönen Erfahrungen, ich nie wieder machen dürfte. Die anderen Gedanken kreisten um die Frage, was die Lieben sagen würden, wenn man mich irgendwann finden sollte. Was für ein erbärmliches Ende! Der Abenteurer in mir hatte sich oft insgeheim gewünscht, während einer dieser Grenzgänge im vollen Seinszustand mit erhobenem Haupt zu verunglücken und nicht während einer der Phasen der Unlebendigkeit, die mich immer wieder einholten. Aber doch nicht so! Ein anderer Gedanke jagte mir durch den Kopf: Mit 16 hatte ich sterben wollen, jetzt war ich 32 und ich würde sterben, obwohl ich unbedingt leben wollte.
Ich stieg mühsam aus dem Wasser heraus und setzte mich auf einen Stein, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich versuchte den aufkommenden Zynismus aufgrund der bitter-absurden Situation zu ersticken. Ich hatte nur noch eine einzige Chance: Ich musste irgendwie den Fels erklimmen. Ein erster Versuch endete nach wenigen Metern. Da saß ich nun in einem Felsspalt, krampfhaft bemüht mich selbst und die beiden Rucksäcke festzuhalten und beschloss in dieser windgeschützten Position eine Nudelsuppe zu kochen. Wie das technisch möglich war, bleibt unklar, aber irgendwie gelang es mir. Es würde noch Gold wert sein. Bleiben konnte ich hier jedoch nicht, hier konnte mich unmöglich dauerhaft festhalten, geschweige denn die Kleider aus meinem Rucksack anziehen. Ich kletterte wieder hinab und versuchte es an der einzig anderen Stelle, die theoretisch in Frage kommen konnte. Doch der Fels war brüchig und bot kaum Möglichkeiten, sich festzuhalten. Es blieb mir nur mich am Rande des Gesteins im Tiefschnee an den Fels geklammert hinauf zu arbeiten, den einen Rucksack immer weiter nach oben wuchtend, den anderen am Körper. Mir war bewusst, wie knapp ich davor stand mit den Rucksäcken nach unten in das Eiswasser zu fallen; das wäre der sichere Tod, davon würde ich mich nicht mehr erholen.
Selbst einen der Rucksäcke zu verlieren, hätte alle verbliebenen Hoffnungen vernichtet - darin war alles, was mich noch von außen schützen konnte. 
Ich hatte keine Kraft mehr, dort hinauf zu klettern, selbst die Notreserven waren lange verbraucht. Doch im Angesicht des fast sicheren Todes mobilisierte ich übermenschliche Kräfte. Ich war in einem reinen Überlebens-Modus. Und so überwand ich die schroffe Felswand und erreichte wieder den Punkt, an dem ich mir einen Überblick verschafft hatte. Schon zuvor hatte ich überlegt dort auszuharren, den Platz aber als ungeeignet verworfen. Nun blieb mir nichts anderes mehr. Das erste Mal in meinem Leben schrie ich lauthals nach Hilfe, doch Niemand konnte mich hören. Ich war auf mich allein gestellt.
Mein Lagerplatz war der einzige Ort in der näheren Umgebung, an dem auf etwa drei Metern Breite kein Schnee lag; Ich konnte mich gegen einen Felsen lehnen, der mich ein wenig vor dem Wind schützte, der immer mehr an Stärke gewann. Selbst wenn ich ein Zelt gehabt hätte – hier hätte es mir nichts genutzt. Um mich herum war nur Schnee und Stein. Kurz überlegte ich noch, nach einem besseren Ort Ausschau zu halten, aber ich wusste, dass ich keine Kraft mehr vergeuden konnte. Also begann ich, mich in mein Schicksal zu fügen und holte alles aus meinem Rucksack, was mir in der Nacht helfen konnte.
Ich dachte an die einzig halbwegs vergleichbare Situation, als ich in Ladakh ohne Zelt draußen übernachtet hatte, weil ein Fluss unpassierbar geworden war. Das war auf 4000 Metern gewesen. Doch damals war ich nicht alleine gewesen, es hatte kein Schnee gelegen und es war auch nicht feucht. Dies hier war um Leben und Tod.
Nun war ich froh über die Vielzahl an Kleidern, die ich mitgenommen hatte. Vor allem ohne die beiden Dschellaba und den Ahandir, eine schwere Nomadendecke aus einem Ziegen-/Schafswollmix hätte ich keine Chance gehabt. Dazu hatte ich Thermounterwäsche, mehrere T-Shirts, einen Pullover, eine leichte Jacke, Handschuhe, eine Mütze und drei paar trockene Socken. Vor allem letzteres schien mir jetzt besonders wertvoll. Schon den ganzen Tag waren meine Füße durchnässt. Die frischen Socken hielten meine Füße 15 Minuten trocken, bevor sich mir der schlimmste Umstand meiner Übernachtung offenbarte: von unten drückte Wasser durch den Fels – wohl auch der Grund, warum hier kein Schnee lag. Schon waren alle Socken wieder feucht und das Wasser zog nach und nach durch alle meine Kleiderschichten.
Ich konzentrierte mich ganz darauf, innerlich ruhig zu werden. Panik würde innerhalb kürzester Zeit alle verbliebenen Reserven verbrauchen und meinen sicheren Tod bedeuten. Ich hatte etwas Feigenschnaps bei mir. Trank ich den Schnaps auf einen Zug, entschied ich mich für den Tod im Schlaf. So trank ich langsam, Schlückchen für Schlückchen und rauchte einige Zigaretten, um mich runterzubringen und ein Gefühl für die Zeit aufrechtzuerhalten. Dann versagten meine Feuerzeuge ihren Geist und damit wurden Vorräte und Gaskocher unbrauchbar. Wenigstens hatte ich die Nudelsuppe gegessen. 
Ich richtete mich noch einmal auf und warf einen Blick auf den erhabenen Sonnenuntergang. Es würde mein letzter sein, dessen war ich mir sicher. Wie sollte ich die nächsten 16 Stunden überleben? Und selbst wenn, die Zeit arbeitete gegen mich. Unter mir verwandelte sich stetig Schnee in Wasser. Kam ich hier überhaupt wieder weg? Nicht mal dieser Hoffnungsschimmer blieb mir. Es wurde dunkel. Der Moment war gekommen, mich von meiner Existenz zu verabschieden. Es war Neumond und die Sterne funkelten wieder in all ihrer Intensität. Aber ich hatte keinen Blick mehr für den vollkommenen Sternenhimmel über mir. In meinem Inneren war es pechschwarz. Der Sturm gewann an Kraft und die kräftigen Böen erreichten im 5-Minutentakt mein Sterbelager. Es war unfassbar kalt und feucht. Nichtmal in dieser aussichtslosen Situation konnte ich weinen.
Und doch kehrte die Hoffnung noch einmal zurück. In mir erwachte ein Lebenswille, der mich in seiner Intensität überraschte. Ich wollte noch etwas beitragen, etwas schaffen, für etwas kämpfen, vor allem Lieben. Ich wünsche mir sehnlichst einen geliebten Menschen an meine Seite, in meinen Phantasien wärmten wir uns gegenseitig. Es war kein rein egoistisches Überleben-Wollen, sondern vielmehr das Gefühl, das ich noch gebraucht würde, das ich noch etwas zu geben hätte, mein Auftrag auf dieser Erde noch nicht erfüllt war. Ich musste alle mentale Kraft aufwenden, um das innere Feuer zu nähren, das mich vielleicht aus der Dunkelheit retten konnte. Ich versuchte mich mit den Böen anzufreunden, mich ihrem Rhythmus zwischen Wachen und Träumen, zwischen Leben und Tod anzupassen. Ich kam zur Ruhe in dem vollkommenen Bewusstsein, dass ich mich zum Sterben hingelegt hatte und mobilisierte zugleich noch einmal allen inneren Willen, um die minimale Chance wahrzunehmen, die Nacht zu überstehen. Es war ein widersprüchlicher Drahtseilakt: den eigenen Tod akzeptieren und aus dieser Ruhe heraus doch überleben.
Ich driftete immer weiter ab. Manchmal kamen mir Fetzen aus dem 23. Psalm in den Sinn:

"Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich."

In der unendlichen Nacht fiel ich immer wieder in kurzen, komatösen Schlaf. Ich war weit weg, irgendwo auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod.
 

Neugeburt

Als ich irgendwann den Ahandir von meinem Kopf zog, war es zu meiner Überraschung schon hell. Ich konnte es kaum glauben: ich hatte die endlose Finsternis überstanden. Noch war es eisig, aber ich wusste, dass ich die Zeit bis zur Ankunft der Sonne überstehen würde. Bald sah ich die ersten Sonnenstrahlen auf einen nahen Gipfel scheinen und ganz langsam übernahm die Sonne wieder das Kommando über die Erde. Das Leben war zurückgekehrt. Das Glücksgefühl ist kaum zu beschreiben. Vorsichtig trank ich wieder etwas Feigenschnaps. Meine Versuche wieder in die Schuhe zu steigen, waren aber aussichtslos. Sie waren über Nacht schockgefroren. So erwartete ich geduldig die Sonne ab und darauf, dass die Schuhe und die vollständig mit Wasser aufgesogenen Kleider und die Decke einen Moment trocknen konnten. Trotzdem wog jeder Gegenstand nun das Doppelte. 


Im Tageslicht sah mein Übernachtungsort geradezu friedlich aus. Ich war der Dunkelheit entstiegen.

Zu meiner Überraschung fand ich ein funktionierendes Feuerzeug und machte mir eine Suppe. Ich versuchte aus kleinen Stöckchen ein kleines Feuer zu entzünden, gab es aber bald auf. Meine Zehen waren stark angeschwollen, doch es blieb mir nichts Anderes als wieder in die nassen Socken zu schlüpfen und weiterzugehen. Es würde Wochen dauern, bis sich meine Zehen wieder normal anfühlten. Zunächst rätselte ich noch, ob ich versuchen sollte, einen der beiden Felshänge zu erklimmen, um mir klarzumachen, wo ich mich befand. Dann beschloss ich das einzig Sinnvolle zu tun und zurück nach Ishu Hassein zu laufen. Den größten Teil der Nacht hatte ich die Beine eng an den Körper gewinkelt; in Kombination mit den Anstrengungen des Vortags konnte ich kaum noch Laufen. 

Auf der linken Flanke des Tals (in der Bildmitte) hatte ich dem Tod wiederstanden

Ich war vielleicht eine Stunde unterwegs und fragte mich, wie ich völlig entkräftet wieder über den Pass kommen sollte. Ich hatte mir vorgenommen, niemals wieder so etwas alleine zu wagen, zumindest nicht unter solchen Bedingungen. Ich hatte das Schicksal oft genug herausgefordert, genug Grenzgänge unternommen. Ich wollte auch den Ängstlichen in mir mit ins Licht nehmen; er hatte genauso seinen Platz wie der Draufgänger. Ich hatte genug riskiert, es war an der Zeit endlich einmal zur Ruhe zu kommen. Ich wollte nicht mehr mit dem Kopf durch die Wand. Kein Mensch kann immer kämpfen. Ich suchte nach Geborgenheit, innerem Frieden und Gleichgewicht. Ein neuer Tag, ein neues Leben.

Plötzlich kam mir wie aus dem Nichts ein Berber entgegen. Er war meinen Spuren gefolgt. Ich hatte mir so sehr nach einem Führer gesehnt. Und nun stand er vor mir. Eine Tonne Gewicht fiel von meinen Schultern. Er bot mir an, mir die Route nach Igli zu zeigen und forderte einen staatlichen Geldbetrag dafür. Es war absurd: gerade wäre ich fast gestorben und nun feilschte ich mit ihm über Geld. Wie wurden uns einig und er würde sich den Preis noch mehr als verdienen. Denn bald nahm er mir meinen schweren Rucksack ab, den ich kaum noch schultern konnte. Als wir wieder die Gabelung erreichten, an der ich mich falsch entschieden hatte, sahen wir eine Gruppe von Eseln, die von ein paar Berbern Richtung Ishu Hassein getrieben wurden. Selbst die Esel verweigerten die Gefolgschaft und oft mussten die Führer sie schieben. Sie waren auf dem Weg zurück nach Tagdilt, nachdem alle Touristentouren abgesagt worden waren oder auf schneefreie Korridore ausgewichen waren. Ich war der einzige Ausländer weit und breit und hatte zudem gerade erst mitten im Schneekorridor übernachtet. Einen unpassenderen Ort für die vergangene Nacht hätte man sich nicht vorstellen können.
Trotz des nun viel geringeren Gewichts, war es eine unmenschliche Anstrengung wieder bergauf durch den Tiefschnee zu laufen. Mein unerwarteter Führer trieb mich zwar immer wieder zur Eile, akzeptierte dann aber, dass ich auf Notreserve lief.
Hatte ich auf den Wanderungen in der Dadesschlucht das Bild von den „Stufen zum Himmel“, die ich in einer Lektüre über die Berber gelesen hatte, angenommen, so ging ich nun Stufen vom Himmel herab. Vor uns lag eine schneefreie Ebene. Es erschien mir fast unwirklich.




Mein Begleiter machte sich wieder auf den Rückweg und ich stieg an mächtigen Tafelbergen entlang ins rettende Tal hinab. 



Noch einmal machte ich eine Pause, blickte ungläubig auf die völlig veränderte Landschaft.




Ich sah die ersten Vögel, sie sangen von der Schönheit der Sonne und des Lebens. Erst danach machte ich mich im Dunkel auf die letzten Meter zu einer kleinen Herberge.

Nach meiner Ankunft konnte ich mich nicht mehr aufrichten. Ich musste zur Wand robben und mich mit aller verbliebenen Kraft gegen die Wand aufstemmen. Als ich mich noch einmal in die Nacht hinausgequält hatte, war ich entsetzt und ungläubig ob der Kälte, der ich in der Nacht zuvor hoch oben in den Bergen im Sturm und durchnässt 16 Stunden lang ausgesetzt war. Wie hatte ich das nur überstehen können?
Am nächsten Tag bewegte ich mich kaum, beschränkte mich auf das Liegen in der Sonne, fühlte mich geerdet wie seit Jahren nicht mehr, wusch meine Kleider und kochte. Es war ein wundervoller Ort, um sich neugeboren zu fühlen. Immer wieder blickte ich auf die Tafelberge, die meinen Weg aus der Schneezone markiert hatten. 


Fast war ich die Stufen zum Himmel ganz hinaufgestiegen. Es schien völlig absurd, hier in der Sonne zu liegen, umgeben von kleinen Gärten und nur einige Kilometer entfernt den Ort zu wissen, an dem ich gerade erst fast erfroren wäre.
Wie gut rochen die Sträucher und Wildblumen, wie satt leuchtete das Grün der Felder und Gärten, wie hell zwitscherten die Vögel, strahlten die Sonne und der blaue Himmel um die Wette, mundete das Wasser, zirpten die Grillen im Wohlklang. Ich war neugeboren.



Danach war ich noch drei weitere Tage unterwegs. Hier lasse ich lieber Bilder sprechen:























Schließlich erreichte ich völlig entkräftet Nekob. Als ich das erste Mal wieder an einer Verkehrsstraße stand, konnte ich den Lärm kaum aushalten, so still war die letzte Woche in der Bergwelt des Saghro gewesen. Für die Menschen hier war der Schnee ein Segen. Die Felder konnten erblühen. Seit acht Jahren hatte es nicht mehr so viel Wasser gegeben.  

Der Abschied war standesgemäß; Said hatte mich auf dem letzten Stück meiner Wanderung begleitet. Ich lud ihn in ein Teehaus ein. Es wurde ein großartiger Abend. Ich lief noch einmal zu großer Form auf und machte alles aus meinem Mini-Wortschatz und meinem theatralischen Talent. Als wir zu später Stunde durch die Straßen des Ortes schlenderten, saß vor einem kleinen Laden ein junger Mann der „Imgoune Life“ auf der Gitarre spielte, einen rebellischen Freiheitssong der „Saghru Band“. Neben einigen Stücken aus dem „into the wild“-Soundtrack war dies das einzige Musikstück, das mich schon lange, vor allem aber auf der Wanderung durch den Saghro begleitet hatte. Es war zu schön, um wahr zu sein. So schien mein letztes Abenteuer meiner Reisen zu Ende zu gehen. Ich würde weiter über das Karussell des Lebens schleudern. Ich war noch nicht am Ende angekommen.

Noch ahnte ich nicht, dass ich mich kurze Zeit später in eine verbotene Liebe voller Höhen und Tiefen stürzen würde. Aber das ist eine andere Geschichte.